Anatomie eines politischen Überlebens Von Moshe Zuckermann

Ich danke Moshe Zuckermann für die Genehmigung seinen neuen bei Overton erschienen Artikel auf der Hochblauen Seite zu veröffentlichen. Evelyn Hecht-Galinski

Anatomie eines politischen Überlebens

Benjamin Netanjahu ist unhinterfragbar schuldig am und verantwortlich für den 7. Oktober. Wieso amtiert noch an der Spitze Israels?

Anatomie eines politischen Überlebens

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Benjamin Netanjahu. Screenshot von GPO-Video

Benjamin Netanjahu ist unhinterfragbar schuldig am und verantwortlich für den 7. Oktober. Wieso amtiert er noch an der Spitze Israels?

 

In den ersten Tagen nach dem israelischen Desaster am 7. Oktober mochte es so scheinen, als sei Benjamin Netanjahus politische Karriere an ihr Ende gelangt. Jedem war klar, dass er an der Spitze einer Regierung stand und somit verantwortlich zeichnete für die schlimmste Katastrophe, die dem Staat Israel seit seinem Bestehen, widerfahren ist. Regierung, Armee und Geheimdienste hatten total versagt, indem sie sich trotz mehrfach wahrgenommener Anzeichen der von der Hamas drohenden Gefahr infolge einer eklatanten Fehleinschätzung in Sicherheit wiegten.

Das Fiasko war enorm, zeitigte mithin einen immensen Schock an der politischen Spitze des Landes, die über Tage wie gelähmt schien, unfähig, das Nötigste zu unternehmen, um das Dringendste in den vom Unglück am meisten betroffenen israelischen Ortschaften um den Gazastreifen auch nur anzugehen, geschweige denn, zu bewältigen. Was akut geforderte Regierungsaufgabe hätte sein müssen, wurde wochenlang von spontan entstandenen zivilen Gruppen und Bewegungen übernommen.

Es konnte kein Zweifel bestehen, wer politisch schuld war am Debakel war. Denn nicht nur hatte Netanjahu und sein Umfeld am Katastrophentag selbst versagt, sondern er war es gewesen, der die Hamas (mit katarischem Geld) politisch wie militärisch über Jahre unterstützt hatte, weil er nach dem Impera-et-divide-Prinzip der Überzeugung war, dass er mit der Förderung der Hamas deren pälästinensischen Politgegner, die PLO, schwächte und in Schach zu halten vermochte. In der PLO sah er nämlich die potentielle “Gefahr” einer palästinensischen Bereitschaft zu Friedensverhandlungen mit Israel, die Natanjahu mit aller ihm zur Verfügung stehenden Macht zu verhindern trachtete.

Ein palästinensischer Staat durfte auf keinen Fall in die Welt kommen, und eine starke, erklärtermaßen friedensunwillige Hamas war für ihn die Garantie dafür. Auf sie konnte er sich verlassen – sie würde nicht nur selbst keine politische Lösung mit Israel eingehen, sondern auch dafür sorgen, dass die offizielle Palästinensische Autonomiebehörde in Ramallah erst gar nicht zum Zuge kommt.

Und weil er mit seiner Politik die Existenz der Hamas (trotz gelegentlicher Gewalteskalationen) letztlich festigte und sicherte, ging er davon aus, dass Hamas kein Interesse daran habe, Israel ernsthaft anzugreifen, bzw. dass sie durch Israels militärische Übermacht abgeschreckt sei. Wie sich am 7. Oktober erwies, war diese Politik aufs Katastrophalste gescheitert, was amtsverantwortlich vor allem auf Netanjahus Kappe ging. Nach dem 7. Oktober 2023 musste dies nachgerade jedem vernünftigen Israeli klar vor Augen liegen.

Und siehe da – siebeneinhalb Monate später steht Benjamin Netanjahu noch immer an Israels Regierungsspitze und scheint sich nach einer kurzen (medial verbreiteten) Schwächeperiode erholt zu haben. Wie ist das möglich? Die Gründe dafür seien hier dargelegt.

Erstens – Netanjahu hat sich nach den letzten Wahlen eine Regierungskoalition kreiert, die ihm nicht nur eine feste Mehrheit von 64 Knessetmitgliedern garantiert, sondern auch so strukturiert ist, dass die Partikularinteressen der einzelnen Koalitionsparteien ein dicht gestricktes Netz der Angewiesenheit aufeinander herstellt. Trotz gelegentlicher Drohgebärden würden sich weder die beiden orthodoxen Parteien noch die Schas-Partei oder die beiden nationalreligiösen Parteien einfallen lassen, die Koalition aufzulösen. Warum sollten sie auch? Zu solcher Macht, mithin zur Gelegenheit, die materiellen Ressourcen des Staates voll zu beherrschen (und sektorial maßlos zu plündern), würden sie in keiner anderen Regierungskonstellation gelangen können. Nicht zuletzt das ermöglicht es, messianischen Fundamentalisten und rassistischen Faschisten vom Schlage eines Itamar Ben-Gvir und Bezalel Smotrich so ruchlos perfide zu walten, wie sie es tun. Netanjahau ist von ihnen abhängig, aber sie auch von ihm.

Zweitens – In Israel besteht keine Opposition, die Benjamin Netanjahu gesinnungsmäßig etwas Substanzielles entgegenzuhalten vermag. Anwärter aus der Opposition, die sein Amt anstreben (etwa Benny Gantz oder Yair Lapid, aber auch andere aus seinem Umfeld wie Yoav Galant) zeichnen sich zwar darin aus, dass sie als Personen nicht so korrupt, weniger verlogen und im großen Ganzen als Menschen anständiger sind als er, aber ideologisch unterscheiden sie sich kaum von ihm. Wie er stehen sie für eine massive Fortsetzung des Krieges (bis zur “endgültigen Entscheidung”); wie er denken sie gar nicht daran, eine politische Lösung mit den Palästinensern anzuvisieren, geschweige denn, selbst eine solche zu initiieren. Den Elefanten im Raum der nahöstlichen Politik ignorieren sie nicht minder als er.

Drittens – Netanjahu hat bereits in den ersten Tagen der Katastrophe des 7. Oktober begonnen, die Schuld von sich abzuwälzen. Nicht nur hat er sich bis zum heutigen Tag (im Gegensatz zur Spitzen der Armee und der Geheimdienste) nicht zur Verantwortung für das Desaster bekannt, das während seiner Amtszeit geschah, sondern er begann, (sich der Propagandamechanismen in seinem Umfeld bedienend) das Militär zu beschuldigen und andere Gruppen und Bewegung mit Unterstellungen zu behaften.

Niemand in der israelischen Politlandschaft kann ihm auf diesem Gebiet der intriganten, skrupellos-populistischen Manipulationspraxis das Wasser reichen. Und er hat auch bemerkenswerten Erfolg damit. Die Minister seiner Koalition, besonders die aus seiner eigenen Partei, sind ihm, teils verblendet, teils aus Kalkül, “treu” ergeben. Niemand von ihnen würde sich trauen, ihn machtpolitisch herauszufordern. Im Gegenteil, auf geringsten Wink verbreiten sie mit Verve und Emphase seine ihnen diktierten politischen “Botschaften”.

Viertens – Obwohl Netanjahu von einem Teil der israelischen Bevölkerung verabscheut und seit dem von ihm zu Beginn von 2023 versuchten, (privat)interessegeleitet für eine “Justizreform” ausgegebenen Staatsstreich regelrecht gehasst wird, weiß er eine große, ihn teils anhimmelnde Anhängerschaft hinter sich. Es handelt sich um die sogenannten “Bibisten”.

Das Phänomen dieser zuweilen untertänigen Ergebenheit und Loyalität ist nicht einfach zu dekodieren. Denn nicht wenige dieser treuen Wähler entstammen den eher ärmlichen, sozial-ökonomisch benachteiligten Gesellschaftsschichten, die aber in dem reichen Multimillionär ihren “König” sehen. Gewiss ist, dass Netanjahu ihnen in unermüdlicher populistischer Manipulation einen Hass gegen alles, was ihm (also ihnen) entgegensteht, eingeprägt hat, allen voran gegen die von ihm als “Linke” Apostrophierten (die mitnichten wirkliche Linke zu sein brauchen – es geht um das Etikett) und – das ethnische Ressentiment aktivierend – gegen die “Aschkenasim”; viele seiner Anhänger und nicht wenige der von ihm nominierten Ministerinnen und Minister entstammen orientalischen Ethnien. Allgemein geht es gegen “die Eliten”, wie verschwommen dieser Begriff auch verwendet und suggestiv zirkuliert wird. Sozialpsychologisch handelt es sich um das Phänomen dessen, das man am effektivsten mit der (von Denkern der Frankfurter Schule seinerzeit erarbeiteten) Kategorie des “autoritären Charakters zu entschlüsseln hätte.

Fünftens – Netanjahu weiß sich durch den konsensuell grassierenden israelischen Militarismus (und den damit einhergehenden Chauvinismus) geschützt. Trotz des hohen Preises, den Israel mittlerweile für den sich immer mehr verlängernden Krieg zu zahlen hat (vom unsäglichen Preis, den die Palästinenser zu zahlen haben, ganz zu schweigen, um den sich freilich in Israel die wenigsten kümmern), darf Netanjahu seine herrschaftlichen Perfidien auf die Spitze treiben: Er hat es geschafft, “das Problem” der Entführten zu minimieren, ja sogar ihre vor Angst und Entsetzen gemarterten Angehörigen als Feinde seiner Kriegspolitik darzustellen. Das Versagen bei der Geiselbefreiung, die gleich nach dem 7. Oktober in einem Deal hätte vollzogen werden können, wird ihm von seinen Anhängern nachgesehen – es herrscht ja Krieg, und er hat ihn zu führen. Gleiches gilt auch für den Umgang der Regierung mit den im Süden und Norden des Landes Evakuierten, die nicht einmal eine noch so fahle Perspektive erbeten dürfen, wann sie zu ihren Wohnorten und Häusern werden zurückkehren können. Denn nicht nur weiß das Netanjahu selber nicht, sondern er kann sich unter den gegebenen Umständen leisten, sich “Larmoyanz” zu verbieten. So wie Netanjahu israelischen Medien kaum Interviews auf Hebräisch gewährt (ausländischen Medien, die sorgfältig ausgesucht werden, gibt er Interviews in englischer Sprache), so vermeidet er Zusammenkünfte mit den Angehörigen der von der Hamas gefangenen Geiseln und eben auch mit den Evakuierten im eigenen Land.

Es ist fraglich, ob Netanjahu heute (vorgezogene) Wahlen in Israel gewinnen könnte. Von den Medien erstellte Umfragen indizieren den Verlust der Herrschaft. Es gilt demnach, Wahlen zu vermeiden, daher die nutzlose Verlängerung des Krieges; solange der Krieg herrscht und israelische Soldaten (täglich) fallen, werden Krieg und Gefallene “geheiligt”. Und je länger der “geheiligte” Krieg andauert, desto mehr verblasst die konkrete Erinnerung an den 7. Oktober und an Netanjahus eklatante Schuld und Verantwortung. Genau darauf baut der Premier. Aus diesem Teufelskreis führt nichts heraus – außer (vielleicht) eine wirklich massive Protestwelle mit einem riesigen Demonstrantenkontingent. Aber die ist mit einer notwendigen kritischen Masse kaum zu erwarten – es herrscht ja Krieg.

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