Ein ultra-orthodoxes Ultimatum und die Zukunft des „jüdischen“ Staates Von Robert Inlakesh

An ultra-Orthodox ultimatum, and the future of the ‚Jewish‘ state

The widening schism between Israel’s secular and ultra-Orthodox communities impacts not only the state’s military and economic wellbeing, but poses an existential threat to the stability of the entire Zionist project.

(Bildnachweis: The Cradle)

Ein ultra-orthodoxes Ultimatum und die Zukunft des „jüdischen“ Staates

Von Robert Inlakesh

12. APRIL, 2024

Die zunehmende Spaltung zwischen Israels säkularer und ultraorthodoxer Gemeinschaft hat nicht nur Auswirkungen auf das militärische und wirtschaftliche Wohlergehen des Staates, sondern stellt auch eine existenzielle Bedrohung für die Stabilität des gesamten zionistischen Projekts dar.

 

Die ultraorthodoxe jüdische Gemeinschaft Israels, die so genannten Haredim, ist das am schnellsten wachsende Segment der Bevölkerung des Landes. Diese demografische Verschiebung vollzieht sich inmitten eskalierender Spannungen zwischen säkularen rechtsgerichteten und religiös-nationalistischen Fraktionen in Israel, die Bedenken hinsichtlich der Stabilität der extremistischen Koalition von Premierminister Benjamin Netanjahu aufkommen lassen – insbesondere bei strittigen Themen wie der Wehrpflicht für Haredi.

Die wachsende Zahl der Haredim, die bis 2030 etwa 16 Prozent der Bevölkerung des Besatzungsstaates ausmachen sollen, hat eine breitere gesellschaftliche Debatte über die künftige Ausrichtung Israels ausgelöst. Dazu gehört auch die Herausforderung, die heutige jüdische ethnisch-religiöse Identitätspolitik mit den ursprünglichen israelischen Bestrebungen für einen modernen „liberal-demokratischen“ staatlichen Rahmen in Einklang zu bringen.

Im Jahr 2018 verabschiedete die israelische Knesset das umstrittene „Nationalstaatsgesetz„, in dem offiziell erklärt wurde, dass nur jüdische Bürger das Recht auf Selbstbestimmung haben. Dieses Gesetz wurde später von Human Rights Watch und Amnesty International in ihren Berichten zitiert, in denen Israel als Apartheid-Regime bezeichnet wird.

Um die Idee eines Staates aufrechtzuerhalten, der auf jüdischer Vorherrschaft beruht, muss berücksichtigt werden, dass die Haredi-Juden eine Geburtenrate von 6,4 haben, verglichen mit dem jüdischen Durchschnitt in Israel von 2,5. Dies macht die ultraorthodoxe Gemeinschaft zu einem unschätzbaren Vorteil für die Israelis, die ein demografisches Gleichgewicht anstreben, in dem die jüdischen Israelis – außerhalb des besetzten Westjordanlands und des Gazastreifens – die klare Mehrheit bilden.

Wirtschaftliche und militärische Herausforderungen

In anderer Hinsicht stellt die ultraorthodoxe Gemeinschaft Israels jedoch eine Reihe von Belastungen für den Staat dar, darunter auch eine erhebliche Beanspruchung der israelischen Ressourcen.

So hat beispielsweise das Bevölkerungswachstum der Haredim zu einer Wohnungsnot in ihren Gemeinden geführt. Nach einer vom israelischen Kohelet Policy Forum veröffentlichten Studie erhält ein arbeitsloser Haredi-Vater im Durchschnitt viermal so viele staatliche Subventionen wie ein Nicht-Haredi-Vater.

Die Arbeitslosenquote der Gemeinschaft ist doppelt so hoch wie der nationale Durchschnitt, und nur 14 Prozent der Haredi-Schüler erhalten einen Schulabschluss, verglichen mit 83 Prozent in staatlichen und staatlich-religiösen Schulen.

Der wohl umstrittenste Aspekt der Beziehung zwischen ultraorthodoxen Juden und dem israelischen Staat ist jedoch die seit langem bestehende Befreiung der Haredi vom obligatorischen Militärdienst.

In den ersten Jahren der Geschichte des Besatzungsstaates wurde diese Befreiung nur einigen hundert Jeschiwa-Schülern (jüdische Religionsschulen) gewährt.

Im Jahr 1977 dehnte der israelische Premierminister Menachem Begin die Befreiung jedoch auf die gesamte Haredi-Gemeinschaft aus, ein Schritt, der die öffentliche Meinung immer wieder gespalten hat, zumal alle anderen jüdischen Bürger Israels zum Militärdienst verpflichtet sind.

Der fehlende Beitrag der Haredim zur nationalen Wirtschaft und zum Militär, verbunden mit ihren außerordentlichen finanziellen Ansprüchen aus der Staatskasse, hat sie zum „meistgehassten Volk in Israel“ gemacht.

Politischer Einfluss und Gesetzesreformen

Trotz der Feindseligkeit der Öffentlichkeit sind die Ultra-Orthodoxen für Israels illegales Siedlungsprogramm von großer Bedeutung und besetzen heute einflussreiche Positionen in der nationalen und lokalen Regierung. Nach Angaben des Israel Policy Forum sind etwa ein Drittel aller Siedler im Westjordanland Haredi, und eine ähnliche Anzahl verteilt sich auf den besetzten Osten Jerusalems.

Um das wachsende politische Gewicht dieser Gemeinschaft zu verdeutlichen, errang die Haredi-Partei Shas bei den Parlamentswahlen 2022 11 Sitze in der israelischen Knesset und wurde damit zur drittgrößten Kraft in der Regierungskoalition. Das öffentliche Unbehagen wurde durch den Erfolg der ultraorthodoxen Parteien bei den Wahlen zum Stadtrat von Jerusalem noch verstärkt.

Es war daher keine Überraschung, dass Netanjahu nach seinem Wahlsieg eine Kampagne mit umstrittenen Gesetzesreformen einleitete, von denen Kritiker behaupteten, sie würden Israels säkulares Regierungsmodell in ein theokratisches verwandeln.

Der Einfluss der Haredim auf die israelische Gesellschaft ist nicht mehr zu übersehen. Die am schnellsten wachsende Bevölkerungsgruppe des Landes ist heute in allen lokalen und nationalen Regierungen vertreten, und dank Netanjahus äußerst fragiler Koalitionsstruktur ist sie heute in der Lage, jede soziale, politische und militärische Entscheidung in Israel zu beeinflussen.

Einberufung oder Exodus

Doch jetzt spitzt sich die Lage zu. Ende März ordnete der Oberste Gerichtshof Israels an, dass ultraorthodoxe Juden staatliche Zuschüsse für religiöse Studien erhalten und in die Armee einberufen werden müssen.

Das Urteil erging, nachdem Netanjahu eine Abstimmung in der Knesset über einen Gesetzentwurf zur Verlängerung der Ausnahmeregelung für ultraorthodoxe Juden von der Wehrpflicht verschoben hatte. Zuvor, im März, hatte Israels sephardischer Oberrabbiner Yitzhak Yosef gedroht, die Haredim würden Israel ganz verlassen, wenn sie zum Militärdienst gezwungen würden.

Der Beschluss des Obersten Gerichtshofs löste einen Aufschrei in der Gemeinschaft aus, wobei Haredi-Mitglieder schworen, das Gesetz zu missachten und „niemals in der Armee zu dienen„.

Der israelische Militärdienst wird innerhalb der Haredim seit langem abgelehnt, was so weit geht, dass ihre Mitglieder de facto exkommuniziert und sogar von ihren eigenen Familien gemieden werden können. Für Haredi-Juden, die sich entschlossen haben, gegen die gesellschaftlichen Normen zu verstoßen und der Armee beizutreten, wurde im Westjordanland ein spezielles Kampfbataillon namens Netzah Yehuda aufgestellt.

Die Entscheidung des Obersten Gerichtshofs, die weniger als 24 Stunden vor Ablauf der Frist für die Verlängerung der Wehrpflichtbefreiung am 1. April erging, bedeutete das Ende der Finanzierung von 50.000 Vollzeit-Talmud-Studenten, was 18 hochrangige Shas-Rabbiner dazu veranlasste, ein Schreiben zu unterzeichnen, in dem sie diesen Schritt verurteilten. In dem Schreiben heißt es: „Wir werden uns nicht davon abhalten lassen, ins Gefängnis zu gehen“, und es wird behauptet, dass die Zwangsverpflichtung eine Verschwörung sei, um die Einhaltung des ultraorthodoxen Judentums zu verringern.

Israels massiver wirtschaftlicher Tribut durch den andauernden Krieg gegen den Gazastreifen, die vom Jemen verhängte Blockade aller mit Israel verbundenen Schifffahrtswege in mehreren wichtigen regionalen Wasserstraßen und die täglichen Militäroperationen der libanesischen Hisbollah im Norden haben die finanziellen Ressourcen Tel Avivs erheblich strapaziert. In den letzten Jahren sind allein die Kosten für die Aufrechterhaltung der Subventionen für ultraorthodoxe Jeschiwa-Studenten auf 136 Millionen Dollar pro Jahr in die Höhe geschnellt, was für die israelische Opposition ein starkes Argument für die Einstellung der Finanzierung darstellt.

Das Schicksal der Regierung Netanjahu

Die anhaltende Debatte über die Wehrpflicht für Haredi hat ein kritisches Stadium erreicht, das potenzielle Risiken für Netanjahus Führungsrolle und die Stabilität seiner wackeligen Koalition birgt. Der seit dem 7. Oktober amtierenden Notstandsregierung gehören Oppositionsführer wie Benny Gantz von der Partei der Nationalen Einheit an, die den Premierminister bei jedem Schritt herausfordern.

Gantz hat sein eigenes Ultimatum gestellt: Er will die Regierung verlassen, wenn Ausnahmeregelungen für die Haredim verabschiedet werden. Seine Drohungen gehen auf Netanjahus schwankende Haltung in der Frage zurück, ob er die Ausnahmeregelungen erlassen oder ablehnen wird. Dies zeigt, wie vorsichtig der Ministerpräsident inmitten eines regionalen Krieges und der Ausnahmeregelungen innenpolitisch agieren muss und wie zerbrechlich seine Einheitsregierung bleibt.

Netanjahu steht vor der Qual der Wahl: Entweder er sichert sich die Unterstützung seiner Haredi-Koalitionspartner, indem er ihre Wehrpflicht beibehält, oder er gibt allen anderen im Land nach und erzwingt die Einberufung der Haredi.

Das Dilemma wird durch die möglichen Auswirkungen auf Israels Siedlungsexpansion und demografische Strategie noch komplizierter, was sich letztlich auf das Überleben des „jüdischen Staates“ auswirkt.

Die Spaltung, die den Staat bedroht

Diese Frage hat auch Auswirkungen auf die wachsende Spaltung zwischen den säkularen und religiösen Fraktionen in Israel. Wenn die Haredim nicht in die Armee eintreten – was vor allem in Kriegszeiten kritisch ist, wenn diese Zahl benötigt wird -, bedeutet dies, dass mindestens 40 Prozent der Inhaber eines israelischen Passes, darunter sowohl Ultraorthodoxe als auch Palästinenser aus dem Jahr 1948 (die traditionell nicht zum Militär gehen), vom Militärdienst befreit werden.

Aus der Erhebung des israelischen Zentralamts für Statistik aus dem Jahr 2021 geht hervor, dass sich 45 Prozent der jüdischen Bevölkerung Israels als säkular oder nicht religiös bezeichnen. Dies ist ein Land, das in Bezug auf die Einhaltung des religiösen Judentums sehr klar gespalten ist.

Diese Spaltung wird auch durch die Reaktion der Öffentlichkeit auf die von Netanjahu vorgeschlagenen Gesetzesreformen deutlich, wobei die Ablehnung je nach Umfragedaten im Jahr 2023 zwischen 43 und 66 Prozent schwankt.

Der politische Aufstieg der Haredim stellt heute die traditionelle zionistische Vision eines säkularen jüdischen Ethnostaates in Frage, da ein erheblicher Teil der Bevölkerung, der dem religiösen Fundamentalismus anhängt, untergebracht werden muss.

Die Abneigung der Haredim gegen die Integration in eine moderne kapitalistische Wirtschaft – und ihre Rolle im Rahmen eines Staates, der sowohl jüdisch als auch demokratisch sein will – ist tiefgreifend. Dies wirft wesentliche Fragen über die Praktikabilität des Zionismus auf, wenn er mit den Realitäten einer vielfältigen und sich entwickelnden israelischen Gesellschaft konfrontiert wird.

Darüber hinaus verdeutlicht die Gegenüberstellung einer zunehmend religiösen israelischen Regierung – vor dem Hintergrund einer Bevölkerung, die fast ebenso viele Palästinenser umfasst – die inhärenten Widersprüche des Konzepts einer „jüdischen Demokratie“.

Da säkulare Ultranationalisten beginnen, die religiöse Rechte unter Netanjahu herauszufordern, wird dieser interne Konflikt Israels Fundamente weiter erschüttern. Während der Besatzungsstaat unter dem Druck eines regionalen Mehrfrontenkriegs taumelt, den er in seiner kurzen Geschichte noch nie erlebt hat, ist es heute die Haredim-Frage, die – intern – die größte existenzielle Bedrohung für das gesamte zionistische Projekt darstellt.

Übersetzt mit deepl.com

Hinterlasse jetzt einen Kommentar

Kommentar hinterlassen

Entdecke mehr von Sicht vom Hochblauen

Jetzt abonnieren, um weiterzulesen und auf das gesamte Archiv zuzugreifen.

Weiterlesen