Dank an Moshe Zuckermann, für die Genehmigung seinen neuen, auf Telepolis publizierten Artikel auf der Hochblauen Seite zu veröffentlichen. Evelyn Hecht-Galinski
Bidens Rede und ihre Implikationen
Joe Biden hat eine wichtige Rede gehalten. Welche Auswirkungen hat sie auf die innere Politik Israel?
Bidens Rede und ihre Implikationen
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Joe Biden hat eine wichtige Rede gehalten. Welche Auswirkungen hat sie auf die innere Politik Israel?
In einer als “bedeutsam” apostrophierten Rede hat US-Präsident Joe Biden am Freitagabend, den 31.5, einen dreistufigen Plan zur Einstellung der Kampfhandlungen in Gaza sowie der Befreiung der verbliebenen Geiseln aus der Hamas-Gefangenschaft, mithin zur Beendigung des Krieges vorgelegt; impliziert waren auch (allerdings nebulöser) Regelungen zur künftigen Herrschaft im Gazastreifen und eine prinzipielle Ausrichtung auf eine neue geopolitische Ordnung in der Region.
Verwirrend war dabei, dass der Plan als eine Initiative Israels ausgegeben wurde, Biden aber in seiner Rede Israel zugleich anmahnte, den Plan anzunehmen. Ganz eindeutig ist dieser Widerspruch nicht zu erklären, es sei denn es ging dem (kundigen) Präsidenten um das, was er in seiner Rede ebenfalls ansprach, namentlich den erwartbaren Widerstand, den dieser Plan in Israel zeitigen werde, allen voran vonseiten der messianisch beseelten Führer der nationalreligiösen Parteien Bezalel Smotrich und Itamar Ben Gvir.
Nicht von ungefähr hielt Biden die Rede am Freitagabend, denn dies garantierte, dass Smotrich und Ben Gvir erst am Ausgang des Schabbat würden reagieren können. Am Schabbat dürfen sie ja nicht arbeiten. In der Tat verkündeten beide gleich am Samstagabend, dass dieser Plan inakzeptabel sei und sie im Fall seiner Billigung die Regierungskoalition sogleich auflösen würden – für Benjamin Netanjahu eine endzeitliche Vorstellung; geht es ihm doch um den unbedingten Erhalt seiner Herrschaft, zu dessen Zweck er sich ja diese rechtsradikalste Regierungskoalition der gesamten israelischen Parlamentsgeschichte kreiert hat. Dabei schreckte er nicht einmal davor zurück, den jahrzehntelang tabuisierten Kahanismus wieder salonfähig zu machen und ihn sogar an prominenter Stelle des israelischen Macht- und Gewaltestablishments einzusetzen.
Wie also ist dieser Schritt Netanjahus zu erklären? Es ist mitnichten davon auszugehen, dass er sich eines Besseren besonnen hat und etwas anstrebt, das seinem Privatinteresse zuwiderläuft. Einen solchen Netanjahu gibt es nicht, gab es noch nie, auch nicht in Zeiten, als er sich an den Belangen des Staates und dem Wohl des Kollektivs orientierte – wenn sein Herrschaftserhalt mit diesen kollidierte, hatte sein Privatinteresse stets Vorrang. Entsprechend kann im vorliegenden Fall davon ausgegangen werden, dass er zum einen hoffen durfte, Hamas würde den Biden-Plan verwerfen – dann stünde er gut da: die Schuld am Scheitern des US-Präsidenten läge bei Hamas. Zum zweiten kann nicht übersehen werden, dass sich Netanjahu real in einer Zwickmühle befindet: Selbst ihm muss mittlerweile klar sein, dass das Agieren der israelischen Armee in Gaza sich ziel- und aussichtslos ausnimmt; den von ihm proklamierten “totalen Sieg” kann er nicht erringen; die humanitäre Lage im palästinensischen Landstreifen ist für alle in der Welt sichtbar katastrophal (nur nicht in den israelischen Medien); Israels Wirtschaft sieht sich einem Desaster entgegensteuern; die Chancen des Überlebens für die entführten Geiseln sinken mit jedem Tag; Israels Ansehen in der Welt ist auf einen Tiefpunkt gesunken, den es seit seinem Bestehen nicht gekannt hat.
Entschlussscheuer Führer, der er ist, vermag Netanjahu aber andererseits nichts Wesentliches zur Besserung seiner Lage zu unternehmen, ohne seine Regierungsmacht zu gefährden – also pflegt er auch in der aktuellen Misere das eingeübte Verhaltensmuster des zeitgewinnenden Hinhaltens (wenn möglich, bis zu der von ihm erwünschten Wiederwahl Donald Trumps im November). Da dies aber angesichts seiner akuten misslichen Lage nicht ausreicht, befleißigte er sich, zum dritten, gleich nach Bidens Rede dessen, was er am besten beherrscht – des lügenhaften Dementis und der “Richtigstellung” von “Missverstandenem”: Der Plan, wie ihn Biden dargestellt habe, sei nicht (genau) das, was Israel vorgeschlagen habe; von einer impliziten Annahme der Kriegsbeendigung könne nicht die Rede sein etc. etc. Netanjahu gilt in Israel als ein Meister der Wahrheitsentstellung und Realitätsmanipulation. Sein größtes Talent besteht in der Fähigkeit, suggestiv zu täuschen und zu bluffen, ohne mit der Wimper zu zucken.
Aber nun steht er vor dem Scheideweg: Der vom US-Präsidenten verkündete Plan ist der von Israel vorgelegte, sonst hätte ihn Biden nicht so (relativ) detailliert erläutert und hervorgehoben. Es muss Netanjahu klar sein, dass es Biden ernst ist mit der Beendigung des Krieges; er braucht sie, um seine nahöstliche Geopolitik durchziehen zu können. Am 7. Oktober wollte Hamas ja gerade sie – vor allem die Annäherung Israels an Saudi-Arabien und die Emiraten – untergraben. Nun aber hat die Hamas ein genuines Interesse daran, den für sie desaströs verlaufenden Krieg zu beenden, ohne jedoch die Herrschaft in Gaza zu verlieren.
Offiziell will/kann aber Israel ebendies nicht akzeptieren – große Teile der Bevölkerung wollen die Fortsetzung des Krieges, und nahezu alle Knesset-Politiker (mit Ausnahme der arabischen Parteien und der randständigen, sich neu formierenden Arbeitspartei) würden sich erst gar nicht einfallen lassen, das Ende des Krieges zu fordern, bevor die Hamas “total liquidiert” worden ist. Und da Itamar Ben Gvir und Bezalel Smotrich die schiere Möglichkeit der Kriegsbeendigung mit der unmissverständlichen Drohung einer sofortigen Auflösung der Regierungskoalition kommentieren, muss sich Netanjahu, dem es, wie gesagt, in erster Linie ums politische Überleben (und der endlosen Hinauszögerung seines Prozesses) geht, entscheiden, wie er mit der selbstverschuldeten Sackgasse umgehen will. Es ist für ihn in der Tat eine Skylla-und-Charybdis-Situation.
Eines sei aber noch klargestellt: Die Beendigung des Krieges ist aktuell und akut gefordert. Aber sie kann nur ein Zwischenstopp sein auf dem Weg zur Bewältigung des eigentlichen Elefanten im Raum: der Okkupation und der politischen Lösung des israelisch-palästinensischen Konflikts. Joe Biden hat dies zwar mehrfach thematisiert und dabei die Zwei-Staaten-Lösung in Erinnerung gerufen. Für die allermeisten Israelis nimmt sich diese wie die Wiederkehr von Verdrängtem aus, welche ja stets mit einem Moment des Schreckens verbunden ist. Objektiv kann dies die einzige Grundlage zur Überwindung des Konflikts sein.
Nach dem 7. Oktober und dem bald acht Monate währenden Krieg kann man die schiere Möglichkeit eines binationalen Staates (und bei der Gelegenheit auch die Chimäre “From-the-River-to-the-Sea-Palestine-will-be-free”) auf Jahre, wenn nicht Jahrzehnte begraben. Der generierte Hass auf beiden Seiten wird allen Beteiligten am Desaster noch lange zu schaffen machen. Aber das wesentliche Problem besteht darin, dass wenn man die Zwei-Staaten-Lösung anvisiert, niemand zu sagen weiß, wie sie verwirklicht werden soll. Über Jahrzehnte hat Israel diese Lösung durch systematische jüdische Besiedlung des Westjordanlandes unterwandert, ja nachgerade verunmöglicht. Auf welchem Territorium soll der palästinensische Staat errichtet werden? Es kann doch nur auf dem Westjordanland und im Gazastreifen sein. Gibt es dafür aber auch die reale Möglichkeit?
Über Jahre hat Netanjahu dieses Problem unter den Teppich gekehrt, mithin das Palästina-Problem von der Tagesordnung der Welt und auch der innerisraelischen Tagesordnung hinweggefegt. Und nun muss er sehen, wie dieses “Problem” vor allem durch sein Versagen wieder zum Leben erwacht ist. Ironie des Schicksals? List der Vernunft? Eher die Fratze zynischer Ideologie und eine erschütternde Tragödie.
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