Stehen wir vor dem Ende des Gaza-Kriegs? Von David Goeßmann

Dank an David Goeßmann für die Genehmigung seinen heutigen auf Telepolid publizierten Artikel, für die Hochblauen Seite zu übernehmen. Evelyn Hecht-Galinski

Stehen wir vor dem Ende des Gaza-Kriegs?

Biden hat einen Plan Israels für einen Waffenstillstand vorgestellt. Jetzt herrscht große Konfusion. Wird Netanjahu seinem eigenen Vorschlag zustimmen? Eine Einordnung.

Stehen wir vor dem Ende des Gaza-Kriegs?

US-Präsident Joe Biden und der israelische Premierminister Benjamin Netanjahu bei einem Treffen im Oktober 2023 in Tel Aviv. Bild: Evan Vucci / Public Domain

Biden hat einen Plan Israels für einen Waffenstillstand vorgestellt. Jetzt herrscht große Konfusion. Wird Netanjahu seinem eigenen Vorschlag zustimmen? Eine Einordnung.

Nach fast acht Monaten Krieg hat US-Präsident Joe Biden am Freitag einen Plan für einen Waffenstillstand im Gazastreifen präsentiert [1]. Er beschrieb drei Phasen, in denen Gefangene beider Seiten freigelassen werden, Bewohner in den Norden des Gazastreifens zurückkehren können und nach dem vollständigen Rückzug der israelischen Truppen mit dem Wiederaufbau des verwüsteten Gebiets begonnen wird.

Langfristige Perspektive auf Frieden

Es soll sich dabei, so Biden, um einen Vorschlag von Israel handeln. Die Hamas hat bereits bei früheren Verhandlungen die gleichen Bedingungen für einen Waffenstillstand akzeptiert und äußerte sich umgehend [2], dass man dem Vorschlag positiv gegenüberstehe.

Es sieht also auf den ersten Blick gut aus: Alle relevanten Parteien, Israel, die Hamas und die USA, stehen im Prinzip hinter dem Plan. Der Gaza-Krieg könnte demnach kurz vor seinem Ende stehen. Doch ist dem so?

Zuerst einmal: Bidens Plan stellt tatsächlich einen großen Fortschritt dar, auch wenn die Initiative viel zu spät kommt, nach 36.000 Toten [3] in Gaza, einer voranschreitenden Hungersnot in der Enklave, da Israel die Hilfslieferungen über die Grenzübergänge extrem herunterdrosselte, und einem fast komplett zerstörten Gebiet, in dem die Infrastruktur nicht mehr funktionsfähig ist.

Die Bedingungen für den Waffenstillstand sind nicht neu, aber zum ersten Mal enthält ein offizielles Angebot eine langfristige Perspektive auf Frieden. Dieses Element hat bisher immer gefehlt. Die Schritte dahin sollen wie folgt aussehen [4]:

Die drei Phasen

In der ersten Phase des Plans würde eine sechswöchige Waffenruhe gelten, während der sich die israelische Armee aus den bewohnten Gebieten des Gazastreifens zurückziehen würde.

Einige israelische Gefangene würden gegen Hunderte von palästinensischen Gefangenen ausgetauscht werden. Die Zivilbevölkerung dürfte sich im gesamten Gazastreifen, einschließlich des Nordens, frei bewegen, und 600 Lastwagen würden täglich humanitäre Hilfe in die Enklave bringen.

In der zweiten Phase würden die Hamas und Israel die Bedingungen für ein dauerhaftes Ende der Feindseligkeiten aushandeln, obwohl Biden sagte, dass die Waffenruhe so lange andauern würde, „wie die Verhandlungen andauern“.

Die dritte Phase des Plans würde einen dauerhaften Waffenstillstand beinhalten, der den Wiederaufbau der Enklave ermöglichen würde, sowie ein endgültiges Ende des Kriegs.

Kommt der Plan von Israel?

Soweit so gut. Doch ein Ende des Gaza-Kriegs ist weiter ungewiss, trotz der begrüßenswerten US-Initiative. Denn Israel hat dem Plan bisher nicht zugestimmt und es ist angesichts der Äußerungen von Benjamin Netanjahu, Vertretern aus der Regierungskoalition und seiner Partei unklar, ob es sich überhaupt in dieser Form um einen Vorschlag Israels handelt.

Netanjahu konterkarierte [5] die Erklärung des US-Präsidenten fast umgehend und nannte den Plan am Samstag einen „Rohrkrepierer“. Seitdem hat er den neuen Vorschlag, der an die Hamas weitergeleitet wurde, zwar widerwillig zur Kenntnis genommen, aber Berichten zufolge auch seinen politischen Partnern versichert, dass „der Krieg nicht enden würde und die Chancen auf eine Einigung gering seien“.

Es wirft natürlich Fragen auf, wenn der US-Präsident öffentlich einen Vorschlag Israels an die Hamas präsentiert, und kurze Zeit später antwortet der israelische Premierminister, man habe andere Vorstellungen. Es könne, so Netanjahu, nur eine vorübergehende Waffenruhe [6] geben, 42 Tage lang, um die Geiseln nach Israel zu bringen. Danach werde das Kämpfen weitergehen. Das steht in direktem Widerspruch zu Bidens Worten.

Zugleich drohten [7] zwei rechtsextreme Mitglieder der israelischen Regierung – der Finanzminister Bezalel Smotrich und der Minister für nationale Sicherheit Itamar Ben-Gvir –, Netanjahus Regierung zu verlassen, falls er den Waffenstillstandsvorschlag unterstützt.

Konstruktive Zweideutigkeit

Auch große Teile aus Netanjahus eigener Likud-Partei haben den Plan zurückgewiesen [8]. Ein Berater von Netanjahu erklärte jedoch, Israel habe dem Rahmen des Abkommens zugestimmt.

Nun zerbrechen sich die Experten die Köpfe darüber, was hinter dem Vorgehen Bidens steckt. Der ehemalige israelische Unterhändler bei Friedensverhandlungen und Präsident des U.S./Middle East Project, Daniel Levy, vermutet [9], es könnte sich um eine strategische Operation der Biden-Regierung handeln.

So hat der US-Präsident in seinem Statement betont, dass der Plan vorteilhaft für Israel sei und die israelische Regierung ihn daher annehmen solle – einen Plan, den Tel Aviv doch mutmaßlich selbst der Hamas anbietet. Levy erklärt den Vorgang wie folgt:

Ich bin der festen Überzeugung, dass es manchmal einen Platz für konstruktive Zweideutigkeit gibt, um etwas voranzubringen, und manchmal braucht man ein wenig poetische Freiheit.

Was kommt nach den 42 Tagen?

Im Klartext: Biden könnte Israel einen weitreichenderen, längerfristigen Plan öffentlich untergeschoben und als Erfolg für die israelische Seite verkauft haben, um die Verhandlungen nach vorn zu bringen.

Eines hat der Plan bereits erreicht: Die Reaktion von israelischer Seite zeigt nun klar, wo der zentrale Knackpunkt liegt zwischen dem, was Biden vorschlägt – ob er es ernst damit meint, wird sich zeigen müssen – und der Position der israelischen Regierung.

Im Kern dreht es sich darum, was nach den 42 Tagen Waffenruhe und der Geiselbefreiung folgt: Weiterer Krieg, wie Netanjahu an der Seite Smotrich und Ben-Gvir verkündet, oder, wie die Hamas immer wieder deutlich eingefordert hat, ein vollständiger Rückzug der israelischen Streitkräfte und ein Ende der Kämpfe, was ja auch der Biden-Plan anvisiert?

Die Frage wird sein, wie die Spannungen in diesem Punkt zwischen der US- und der israelischen Regierung ausgetragen werden und was daraus erwächst.

Netanjahus Zwickmühle

Was Netanjahu angeht, steht er vielfach unter Druck und befindet sich letztlich in einer Art Zwickmühle. Die rechtsextremen Koalitionspartner werden kein Ende des Kriegs akzeptieren.

Gleichzeitig hat Benny Gantz, Mitglied im Kriegskabinetts – und potenzieller Netanjahu-Nachfolger – erklärt [10], seine Partei werde sich dem Vorschlag nicht widersetzen. Auch ultraorthodoxe Politiker aus den Parteien Schas und Vereinigtes Thora-Judentum, die beide der Regierungskoalition angehören, haben sich für das Abkommen ausgesprochen [11].

Unterdessen hat Oppositionsführer Yair Lapid angeboten [12], Netanjahu die Stimmen zu geben, die er braucht, um den Waffenstillstand durch das israelische Parlament, die Knesset, zu bringen.

Das würde Netanjahu jedoch nur die Stimmen verschaffen, die er braucht, um den Vorschlag durchzubringen, nicht aber die Unterstützung, die er braucht, um seinen Platz an der Spitze der Regierung zu behalten.

Was ist politisch riskanter?

Dafür braucht er immer noch Smotrich und Ben-Gvir. Außerdem wird gemutmaßt, dass Netanjahu den Krieg fortsetzen will, um Korruptionsvorwürfen zu entgehen. Auf die Frage, ob Netanjahu den Krieg fortsetzen wolle, um weiter an der Macht zu bleiben, antwortete Biden [13], es gebe „allen Grund, diesen Schluss zu ziehen“.

Demgegenüber kommt Druck von der Straße. Am Wochenende nahmen Zehntausende Israelis, angeführt von Angehörigen der Geiseln, an Protesten teil [14], bei denen sie Netanjahu aufforderten, das Waffenstillstandsabkommen nicht zu sabotieren.

Netanjahu muss also letztlich entscheiden, ob es politisch riskanter ist, Nein zu Biden zu sagen oder Ben-Gvir und Smotrich die kalte Schulter zu zeigen. Durch seine Biden widersprechenden Aussagen hat er den Ball wieder ins Feld Washingtons gespielt.

Nun wird sich zeigen, ob der US-Präsident es ernst meint und die Kosten für Netanjahu in die Höhe treibt. Die USA haben bereits einen Resolutionsentwurf im UN-Sicherheitsrat zur Unterstützung des Waffenstillstandsplans ausgearbeitet [15] und den Regierungen zugesandt. Viele von ihnen hätten laut US-Botschafterin Linda Thomas-Greenfield zustimmend reagiert.

Meint es Biden wirklich ernst?

Die Frage ist aber, ob eine weitere in Kraft tretende Waffenstillstand-Resolution (es gibt ja bereits eine [16]) von den Vereinigten Staaten dann auch mit entsprechenden Sanktionsmaßnahmen gegen Israel unterlegt wird, wenn der Krieg trotzdem weitergeführt wird. Bei der ersten Resolution hielt die Biden-Regierung die Füße still und erklärte sie [17] kontrafaktisch für „nicht bindend“. Als Israel das Urteil des Internationalen Gerichtshofs [18], die Streitkräfte aus Rafah zurückzuziehen, missachtete, folgten keine Sanktionen, sondern mehr US-Waffen [19].

Die Netanjahu-Regierung weiter gewähren zu lassen und vorgeführt zu werden, hat aber auch Kosten für Biden. Im Land wächst die Kritik an seiner Gaza-Politik.

Immer wieder kündigen selbst langjährige Beamte [20] seiner Regierungsadministration, weil sie den Israel-Kurs nicht weiter mittragen wollen. Die Unterstützung der israelischen Regierung beim Gaza-Krieg könnte Biden sogar die Präsidentschaftswahlen kosten [21], da Demokraten ihm die Stimme verweigern wollen, insbesondere in wichtigen Swing-States.

Die Biden-Regierung ist zudem sehr besorgt über die jüngste Zunahme der Feindseligkeiten [22] an der israelisch-libanesischen Grenze. Die Schlagabtausche zwischen den israelischen Streitkräften und der Hisbollah eskalieren, und der starke Beschuss reicht nun Dutzende von Kilometern weit in israelisches Gebiet hinein. 60.000 Israelis sind aus dieser Zone bereits vertrieben worden, was auch den Druck auf Tel Aviv erhöht.

Wir könnten vor dem Kriegsende stehen, wenn …

Bidens Plan über einen Waffenstillstand kann entweder der Anfang vom Ende des Kriegs sein oder doch nur eine weitere Hinhaltetaktik des US-Präsidenten nach dem Motto: „Schaut her, ich habe alles versucht. Aber am Ende hat es nicht funktioniert.“ Ob dieses Narrativ in den USA bei Kritikern seines Kurses verfangen wird, ganz zu schweigen von der Weltöffentlichkeit, ist jedoch zweifelhaft.

Am Ende ist es so: Netanjahu versucht im Moment, den Plan der US-Regierung abzutun und der Hamas den schwarzen Peter zuzuschieben. Solange der israelische Premierminister die Kosten für seine Verweigerungshaltung für akzeptabel einschätzt, solange wird es kein Ende des Gaza-Kriegs geben.

Nur die Biden-Regierung kann letztlich daran etwas ändern. Wachsender Druck auf sie, international wie im eigenen Land, könnte sie dazu bewegen, die Kosten für Netanjahu zu erhöhen. Ab dem Zeitpunkt stehen wir dann tatsächlich vor dem Kriegsende.


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Links in diesem Artikel:
[1] https://www.reuters.com/world/middle-east/whats-new-israel-ceasefire-proposal-biden-announced-2024-05-31/
[2] https://www.trtworld.com/content/article/bidens-gaza-ceasefire-proposal-positive-hamas-18168520
[3] https://www.ochaopt.org/content/reported-impact-snapshot-gaza-strip-5-june-2024
[4] https://www.aljazeera.com/news/2024/6/2/how-significant-is-bidens-gaza-peace-plan-will-hamas-and-israel-agree
[5] https://www.theguardian.com/world/article/2024/jun/01/biden-gaza-ceasefire-deal-lack-of-influence-netanyahu
[6] https://www.aa.com.tr/en/middle-east/netanyahu-says-he-won-t-halt-gaza-war-disputes-bidens-cease-fire-proposal/3238789
[7] https://www.bbc.com/news/articles/cz55y6k0p5go
[8] https://www.democracynow.org/2024/6/3/ceasefire_proposal
[9] https://www.democracynow.org/2024/6/3/ceasefire_proposal
[10] https://www.jpost.com/breaking-news/article-804594
[11] https://www.newarab.com/news/israel-ultra-orthodox-parties-back-gaza-ceasefire-deal
[12] https://www.i24news.tv/en/news/israel-at-war/artc-lapid-presses-netanyahu-to-accept-ceasefire-deal-offers-political-safety-net
[13] https://www.theguardian.com/us-news/article/2024/jun/04/biden-netanyahu-ceasefire-israel-gaza-war
[14] https://www.theguardian.com/world/article/2024/may/07/israel-protests-benjamin-netanyahu-ceasefire-proposal-hamas-rafah-attack-gaza
[15] https://www.spiegel.de/ausland/israel-gaza-krieg-usa-setzen-auf-uno-resolution-fuer-bidens-friedensplan-a-c3381a55-c2b6-4476-b804-a370226bb967
[16] https://news.un.org/en/story/2024/03/1147931
[17] https://jacobin.com/2024/03/biden-un-cease-fire-resolution-gaza
[18] https://www.reuters.com/world/world-court-rule-request-halt-israels-rafah-offensive-2024-05-24/
[19] https://uk.news.yahoo.com/biden-send-more-1bn-weapons-161826711.html?guccounter=1&guce_referrer=aHR0cHM6Ly93d3cuZ29vZ2xlLmNvbS8&guce_referrer_sig=AQAAALjvi2CRhhwifNPG2uuA8DGOL0PsEVh-_h0xKoh9B4SS-eTEo6nl9JZ3eyTSoZu370v-fqPP6G9rZK1urgeFdHuvI4APDtBd-NaHDg3YgaLmHBcyEjrD8t5p9iFOX4ra_1CDMuSUC7CF1NzE9l61jn91pvYF1lkfb9I9OF6DUk56
[20] https://www.democracynow.org/2024/5/31/stacy_gilbert_state_dept_resignation_gaza
[21] https://responsiblestatecraft.org/biden-gaza-2668270281/
[22] https://www.haaretz.com/israel-news/2024-06-03/ty-article/.premium/netanyahu-distances-himself-from-the-cease-fire-deal-he-already-agreed-too/0000018f-da59-dbdb-a59f-db59468c0000

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