Ich danke Rainer Werning sehr für die Zusendung und Genehmigung der Zweitveröffentlichung seines neuen und besonders „prickelnden“ Beitrags. Erstveröffentlichung auf den heutigen Nachdenkseiten. Evelyn Hecht-Galinski
https://www.nachdenkseiten.de/?p=105106
Streumunition: Warum Mister President Uncle Sam partout „nicht in den Arm fallen“ mag. Zum Stand einer Strafanzeige gegen Bundespräsident Steinmeier.
12. Oktober 2023
Am 13. Juli berichteten die NachDenkSeiten unter dem Titel Streumunition über außenpolitischem Minenfeld – zur Strafanzeige gegen den Bundespräsidenten als Erste über die drei Tage zuvor bei der Bonner Staatsanwaltschaft eingereichte Strafanzeige des Diplom-Mathematikers Wolf Göhring. Am 8. August teilte die Staatsanwaltschaft Koblenz, an die die Anzeige mittlerweile weitergereicht worden war, Herrn Göhring mit, dass sie seinem Begehren nicht nachkommt. Sie hielt die Anzeige für „abwegig und rechtsmissbräuchlich“ und verwahrte sich dagegen, als „Superrevisionsinstanz für nicht genehme politische Entscheidungen benutzt (zu werden)“. Das wiederum veranlasste Herrn Göhring, bei der Generalstaatsanwaltschaft Koblenz am 23. September eine elfseitige Beschwerde gegen den Entscheid vom 8. August einzulegen, die den NDS vorliegt und die Sie hier in vollem Wortlaut nachlesen können. Ein Beitrag und Interview mit Wolf Göhring von Rainer Werning.
Perfide Waffe mit tückischer Langzeitwirkung
Im Sommerinterview des ZDF, das am 9. Juli ausgestrahlt wurde, hatte Bundespräsident Dr. Frank-Walter Steinmeier mit Blick auf die Entscheidung Washingtons, Streumunition an die Ukraine zu liefern, erklärt, man könne „in der gegenwärtigen Situation den USA nicht in den Arm fallen”.[1] Der Einsatz von Streumunition, die mittlerweile von weit über 100 Staaten – darunter auch die BRD, nicht aber seitens der USA, der Ukraine und Russlands – geächtet ist, führt dazu, dass auf großflächigem Areal auf Dauer das Betreten aufgrund explosionsfähiger Rückstände mit hoher Gefahr für Leben und Gesundheit von Menschen verbunden ist. Zuvörderst ist die Zivilbevölkerung mitsamt landwirtschaftlich genutzten Flächen vom Einsatz dieser perfiden Waffe betroffen. Schätzungen der Organisation Handicap International zufolge sind 98 Prozent der von den Auswirkungen von Streubomben betroffenen Menschen Zivilpersonen und darunter 27 Prozent Kinder. Als das bis heute am stärksten betroffene Land gilt Laos, wo die USA auf dem Höhepunkt ihres Aggressionskrieges gegen Vietnam, Kambodscha und Laos seit Ende der 1960er- / Anfang der 1970er-Jahre einen „geheimen Krieg“ führten.
Im oben zitierten Statement von Herrn Steinmeier sieht der Beschwerdeführer Göhring einen Verstoß gegen die Bestimmungen von §18a und §20a Kriegswaffenkontrollgesetz (KWKG).[2]
„Die Vereinigten Staaten haben das Verbot von Streumunition (Oslo-Vertrag) von 2008 genauso wenig unterzeichnet wie das Verbot von Landminen (Ottawa-Vertrag) von 1997. (…)
Die USA setzten Streumunition in folgenden Ländern ein: Afghanistan, Bosnien-Herzegowina, Grenada, Iran, Irak, Jemen, Kambodscha, Kosovo, Kuwait, Laos, Libanon, Libyen, Montenegro, Saudi-Arabien, Serbien und Vietnam.
Die USA vertreten den Standpunkt, dass Streumunition einen militärischen Nutzen hat – bis auf eine einzelne Ausnahme im Jemen 2009 wurden allerdings seit 2003 (Irak) keine Streubomben mehr eingesetzt. Außerdem haben sie den Umgang mit Streumunition stark angepasst, da ihre NATO-Partner fast alle dem Oslo-Abkommen beigetreten sind.“[3]
„(…) unter keinen Umständen jemals Streumunition einzusetzen“
Das Übereinkommen über Streumunition, auch als sogenanntes „Oslo-Übereinkommen“ bekannt, unter das pikanterweise Herr Steinmeier als damaliger Außenminister der Bundesrepublik im Namen Deutschlands seine Unterschrift setzte, ist ein völkerrechtlicher Vertrag zum Verbot des Einsatzes, der Entwicklung, der Herstellung, des Erwerbs, der Lagerung, der Zurückbehaltung und der Weitergabe von Streumunition. Er ist seit 1. August 2010 in Kraft. Darin heißt es in „Artikel 1: Allgemeine Verpflichtungen und Anwendungsbereich” unmissverständlich und kategorisch:
„(1) Jeder Vertragsstaat verpflichtet sich, unter keinen Umständen jemals
- Streumunition einzusetzen,
- Streumunition zu entwickeln, herzustellen, auf andere Weise zu erwerben, zu lagern, zurückzubehalten oder an irgendjemanden unmittelbar oder mittelbar weiterzugeben,
- irgendjemanden zu unterstützen, zu ermutigen oder zu veranlassen, Tätigkeiten vorzunehmen, die einem Vertragsstaat aufgrund dieses Übereinkommens verboten sind.“[4]
Die nunmehrige Entscheidung von US-Präsident Joe Biden, Streumunition (worunter sich seit den Tagen des Vietnamkrieges, der in Vietnam selbst der „Amerikanische Krieg“ genannt wird, auch sogenannte „daisy cutters“ – „Gänseblümchenschneider“ – mit verheerender Wirkung befinden) an die Ukraine zu liefern, kommentierte beispielsweise der langjährig tätige US-amerikanische Politikberater und Analyst Ted Galan Carpenter noch Ende September wie folgt:
„Das angebliche Bekenntnis der US-Elite zu den Menschenrechten und zur Ablehnung von Kriegsverbrechen wurde soeben auf besonders deutliche Weise auf die Probe gestellt. Es überrascht nicht, dass sowohl der Kongress als auch die amerikanischen Nachrichtenmedien diesen Test nicht bestanden haben. Am 27. September 2023 lehnte das US-Repräsentantenhaus einen von Matt Gaetz (Matthew „Matt“ Gaetz vertritt als Mitglied der Republikanischen Partei seit Anfang 2017 den ersten Distrikt des Bundesstaates Florida im US-Repräsentantenhaus – RW) eingebrachten Änderungsantrag zum Bewilligungsgesetz für das Pentagon ab. Sein Änderungsantrag hätte die Weitergabe von Streubomben aus dem US-Arsenal an andere Länder untersagt.
Eine positive Abstimmung über diese Maßnahme wäre eine Gelegenheit für den Kongress gewesen, eine wichtige moralische Aussage über solche Waffen zu treffen. Wie ich in einem früheren Artikel dargelegt habe, sind Streubomben besonders perfide Waffen, da die vielen winzigen Bomblets in einem Kriegsgebiet über ein großes Areal verteilt werden und automatisch auch Zivilisten treffen. Noch schlimmer wiegt, dass einige dieser Bomblets – bis zu 14 Prozent – beim Aufprall nicht explodieren und somit eine Gefahr darstellen, die über Jahre oder sogar Jahrzehnte anhält. Die in den frühen 1970er-Jahren über Laos abgeworfenen US-Streubomben fordern noch immer Opfer. Kinder sind in besonderem Maße gefährdet, weil sie von der glänzenden Oberfläche eines solchen Gegenstandes angezogen werden und denken, es handele sich um verlorenes Spielzeug.“[5] (eigene Übersetzung: RW)
In einem Interview mit der US-Zeitschrift Newsweek am 16. August 2023 forderte Dan Rice, ein Ex-Offizier der US-Armee, nach Streugranaten nunmehr auch Streuraketen an die Ukraine zu liefern. In seiner Eigenschaft als Sonderberater des Oberbefehlshabers der ukrainischen Streitkräfte, General Walerij Saluschnyj, war er maßgeblich an der Entscheidung zur Lieferung der Streugranaten beteiligt, wie Newsweek und auch Rice selbst schreiben. Rice erklärte in dem Interview:
„Wir haben in Deutschland Zehntausende dieser Streuraketen herumliegen, um zerstört zu werden. Anstatt sie zu zerstören, gebt sie einfach den Ukrainern.“[6]
Fürwahr: Ein Schelm, der Böses dabei denkt.
Postscript
Die Fraktion Die Linke stellte zwischenzeitlich eine Kleine Anfrage an die Bundesregierung, um Näheres über deren Haltung zu der Aussage von Herrn Steinmeier und der weiter relevanten Frage in Erfahrung zu bringen, ob und ggf. in welchem Umfang die USA über das Bundesgebiet bereits Streumunition in die Ukraine geliefert haben. Hier lesen Sie die entsprechende Anfrage sowie die am 28. September erfolgte Antwort seitens der Bundesregierung Drucksache 20/8546 (bundestag.de).
Haupttenor der Antwort: Die Bundesregierung kommentiere nicht die Äußerungen des Bundespräsidenten, und ihr lägen überdies keine eigenen, über die Medienberichterstattung hinausgehenden Erkenntnisse darüber vor, ob die USA Streumunition aus in Deutschland gelagerten Beständen oder mittels eines militärischen Lufttransports via Deutschland in die Ukraine geliefert haben.
„Kneifen gilt vielleicht vor kaltem Wasser, aber hier nicht“
Rainer Werning im Gespräch mit Wolf Göhring
(RW) Am 10. Juli dieses Jahres stellten Sie bei der Staatsanwaltschaft Bonn eine Strafanzeige gegen den Bundespräsidenten Dr. Frank-Walter Steinmeier. Darin werfen Sie dem deutschen Staatsoberhaupt vor, aufgrund seiner Äußerungen zu Streumunition im ZDF-Sommerinterview womöglich gegen §18a und §20a Kriegswaffenkontrollgesetz verstoßen zu haben. Wie reagierte die Bonner Staatsanwaltschaft auf das Einreichen Ihrer Strafanzeige?
(WG) Die Bonner Staatsanwaltschaft hat die Sache nach Koblenz abgegeben, weil Herr Steinmeier das Interview in Mayschoß in der Nähe von Koblenz gegeben hatte. Die Koblenzer Staatsanwaltschaft sah keinen Grund zu ermitteln. Sie hielt die Anzeige für „abwegig und rechtsmissbräuchlich“ und meinte, ich wollte den Staatsanwalt als „Superrevisionsinstanz für nicht genehme politische Entscheidungen“ benutzen. Sie hat übersehen, dass aufgrund der gesetzlichen Lage überhaupt kein Spielraum für irgendeine „politische Entscheidung“ besteht.
Wie war bis jetzt die Resonanz auf Ihren Schritt, gab es entsprechende Berichte in den sogenannten Leitmedien?
(WG) Die Leitmedien ignorierten die Strafanzeige. Zwei druckten immerhin einen Leserbrief von mir. Die Zeitungen Unsere Zeit und Zeitung vum Letzebuerger Vollek brachten einen Artikel. Es gab ein großes Echo in Online-Medien, zuerst auf den NachDenkSeiten und dann bei Telepolis, Overton, in der Online-Ausgabe der Weltwoche, um einige zu nennen. Beim Kontrafunk gab’s ein elfminütiges Video. Auch einige kleine, mir bislang unbekannte lokale Online-Medien berichteten. Die Zahl der Klicks war enorm, wenn ich den Zählern Vertrauen schenken darf.
Warum wurde Ihrer Meinung nach ein solch brisantes Thema nicht in den Leitmedien aufgegriffen? Vor allem solche Formate wie politische Magazine müssten da doch eigentlich gebührendes Interesse aufbringen.
(WG) Dieses Thema ist unbequem. Wer will sich schon die Finger verbrennen? Monitor erklärte mit vielen freundlichen Textbausteinen, die zu allem passen, dass sie erstmal nichts tun werden. Der WDR-Newsroom mochte auch nicht recherchieren, ob die Streumunition über deutsches Hoheitsgebiet transportiert wurde. Denn: „Viele militärische Prozesse unterliegen der strikten Geheimhaltung, lassen sich nur schwer überprüfen oder recherchieren.“ Da scheint sogar Frau Baerbock energischer gegen Streumunition zu sein, als sie am Rande einer Konferenz leichtfüßig erklärte, Deutschland werde keine Streumunition an die Ukraine liefern. Na klar doch. Deutschland hat heute keine mehr; das Zeugs ist seit Ende 2015 zerstört. Aber die USA lagern wohl noch solche Waffen auf ihren hiesigen Militärbasen, wie ich dem diesjährigen Bericht des „Cluster Munition Monitor” entnommen habe. Und sie könnten die Streumunition per LKW, Bahn oder auch Flieger leicht von dort in die Ukraine geschafft haben, was ich auch vermute. Für eine solche Recherche bekommt natürlich kein Journalist die nötigen Tipps vom Bundesnachrichtendienst (BND) oder dem Militärischen Abschirmdienst (MAD).
Erfuhren Sie bei der Abfassung Ihrer letzten Beschwerdeschrift eine Art Rechtsbeistand oder gar Unterstützung seitens versierter Juristen beziehungsweise Völkerrechtler?
(WG) Ein Jurist hat meinen Text gegengelesen. Ansonsten verfolge ich selbst rechtliche Auseinandersetzungen um Krieg und Frieden seit vielen Jahren. Ich unterstützte beispielsweise die abgeschmetterte Schadenersatzklage der Opfer des Beschusses der Brücke von Varvarin während der NATO-„Luftschläge“ gegen Serbien. Oder ich verfolgte verschiedene Verfahren wegen des mörderischen, von Ramstein aus gesteuerten Drohnenkrieges der USA. Oder die Verfahren zu dem unfassbaren Massaker nahe Kunduz in Afghanistan, bei dem etwa 140 Menschen starben, als ein deutscher Offizier gegen alle Einsatzregeln der USA (!) auf einem Bombardement beharrte.
Wie reagieren Sie auf die Stimmen von Kritikern, die Ihnen raten, diese Angelegenheit nicht weiterzuverfolgen, oder die keine Erfolgsaussichten sehen?
(WG) Kneifen gilt vielleicht vor kaltem Wasser, aber hier nicht. Es zeigt sich einmal mehr, wie Verantwortliche bestehendes Recht beiseiteschieben, wenn es ihnen im Wege ist. Ich habe herausgefunden, wie ein ehemaliger US-Militär – Dan Rice heißt er – als Sonderberater des Oberkommandierenden der ukrainischen Streitkräfte, General Walerij Saluschnyj, diesen und Präsident Wolodymyr Selenskyj dazu überredete, Streumunition von den USA anzufordern. Das Übereinkommen über Streumunition sei womöglich ein russisches Manöver. Rice nennt es eine Dummheit, und es würde der Ukraine die im Kampf gegen die Russen benötigte Streumunition entziehen. Steinmeier hat die Worte von Dan Rice nur etwas vornehmer wiederholt. Aber beide stapfen, genau besehen, mit einem großen Tross in den Fußspuren von Leuten wie Hindenburg, der im November 1914 erklärte: „Der Feind ist nicht vernichtet. Drum weiter vorwärts, bis der letzte Russe besiegt am Boden liegt. Hurra!“ Das soll aus meiner bescheidenen Sicht nicht noch mal 109 Jahre so weitergehen!
Wer ist dieser Herr Rice? Können Sie bitte den Kern seiner Argumentation zusammenfassen und schildern, was ihm mit Blick auf die Verwendung von Streumunition vorschwebt?
(WG) Ich bin auf den Namen Dan Rice dank eines Artikels von Bernhard Trautvetter im August auf den NachDenkSeiten gestoßen. Rice forderte in einem Interview mit Newsweek am 16. August 2023, in Deutschland lagernde Streuraketen, die für viel Geld vernichtet werden sollten, zum Verschuss an die Ukraine zu liefern. Das sei billiger. Dan Rice hat 1988 die US-Militärakademie West Point absolviert und hat offenbar heute noch die Militärdoktrinen des Kalten Krieges voll drauf und denkt an deren Umsetzung in der Ukraine, wie man es seinen Selbstdarstellungen im Internet entnehmen kann.
Streumunition sei in der US- und NATO-Doktrin schon immer das Mittel der Wahl, um überlegene gegnerische Artillerie zu kontern. Das sei bei den Russen der Fall. Streumunition sei ein „Gamechanger“. Als er im Juli 2022 über ein Schlachtfeld geblickt habe, so berichtet Rice in einem weiteren Interview, habe er gewusst, dass DPICM-Streugranaten die perfekte Waffe seien, um die russische Armee zu schlagen. „Aber“, so Rice dort weiter, „das war kein neuer Gedanke, sondern genau das, was wir seit 50 Jahren geplant hatten.“ „Und dieses idiotische Übereinkommen zu Streumunition hat diese Waffe der Verteidigung der Ukraine, Polens, Estlands oder Finnlands entzogen. Warum sollten Belize, Fidschi, St. Kitts, die Philippinen oder Island entscheiden, welche Waffen Europa zu seiner Verteidigung gegen eine russische Invasion einsetzt?“, so Dan Rice in weiterem O-Ton. Bummbum-bum-bumbumm fällt mir da nur ein und, dass Rice wohl ein Mann der CIA ist, denn ohne eine solche Beziehung dürfte man kaum zum „Sonderberater des Oberkommandierenden der ukrainischen Streitkräfte, Walerij Saluschnyj“ avancieren.
Sie pflegen Kontakte zur ausländischen Friedensbewegung. Gab es von deren Seite bislang Hinweise bezüglich bestimmter Routen, über die möglicherweise Streumunition aus US-amerikanischen Beständen in die Ukraine gelangte?
(WG) Leider habe ich aus der Friedensbewegung aus dem Ausland keine gezielten Hinweise erhalten, auf welchem Weg bisher Streumunition in die Ukraine gelangte oder künftig gelangen könnte. Erste Hinweise lieferte mir Dan Rice in seinem Newsweek-Interview. Aus einer späteren E-Mail aus der US-Friedensbewegung erfuhr ich, dass die New York Times bereits am 14. Juli schrieb, die USA hätten die Streumunition aus europäischen Lagern geliefert. Die Organisation „Cluster Munition Monitor“, die auch vom Auswärtigen Amt finanziert wird, gibt an, dass die USA wohl Streumunition in Deutschland und in Italien lagern, obwohl beide Länder das Übereinkommen unterzeichnet und auch ratifiziert und somit in einklagbares nationales Recht umgesetzt haben. Ob die USA schon längst Streumunition ins Baltikum und nach Polen verbracht hatten, etwa aus Beständen in Deutschland, ist mir unbekannt. Gut wär‘s, wenn das jemand herausfände.
Was gedenken Sie zu unternehmen, wenn Ihre Beschwerde seitens der Generalstaatsanwalt Koblenz abgewiesen wird?
(WG) Dann, so meine ich, muss der aktuelle Stand breit in die Öffentlichkeit gelangen, auch um Druck zu machen, dass künftig auf keinen Fall Streumunition durch Deutschland an die Ukraine geliefert wird. Sollte der Generalstaatsanwalt in Koblenz nach wie vor keine strafrechtlichen Ermittlungen einleiten, wird er mir das mit einer Begründung mitteilen müssen. Sollte sie wieder wie jetzt auf „abwegig und rechtsmissbräuchlich“ lauten, wäre dies ein offener Abschied vom Rechtsstaat. Ich hoffe darauf, dass dies nicht eintritt. Im Übrigen muss ich abwarten, was man in Koblenz tatsächlich unternehmen wird.
Gab es da in den reichlich acht Jahrzehnten Ihres Lebens – womöglich in Ihrer Jugend – außergewöhnliche Erfahrungen, Begegnungen oder dergleichen, die Sie zu Ihrem Engagement inspirierten?
(WG) Ich habe vor 81 Jahren, am 31. Juli 1942, im Morgengrauen erstmals einen Blindgänger zu sehen gekriegt, als wir – meine Mutter und zwei ihrer Freundinnen – durch einen kleinen Garten zu einem ebenso kleinen Haus von einem Luftschutzkeller zurückkehrten, wo wir die erste große Bombennacht über Saarbrücken verbracht hatten. Vielleicht war das, was mir die drei Frauen vor dem in einer Erdkuhle liegenden Geschoss sagten, die erste große Lehre für mein noch so junges Leben: „Nicht dranfassen, nicht drantreten, nicht hingehen. Gefährlich.“ So mochten ihre Worte gelautet haben.
Als ich im Herbst 1946 eingeschult wurde, gedachten wir als Erstes eines Jungen. Er war bei der Gartenarbeit mit dem Spaten auf einen Blindgänger gestoßen. Dieser explodierte und tötete den etwa Zwölfjährigen. Ein Jahrzehnt später legte ich selbst beim Umgraben einen Blindgänger frei und konnte gerade noch stoppen, als ich die aufgeworfene Scholle mit dem Spaten zerteilen wollte. Mein Erschrecken war groß. Mein Stiefvater nahm‘s nach sechs Jahren Kriegserfahrung gelassener. Er beäugte das Ding, meinte „Geschoss eines schweren MG mit Aufschlagzünder“, stopfte es in die Jackentasche und schmiss es später in die Saar.
1959 baute man in Saarbrücken den deutsch-französischen Garten als Bundesgartenschau aus. Am oberen Ende des „Ehrentals“, das Teil der Gartenschau wurde und wo die deutschen Toten der nahegelegenen Schlacht von Spichern von August 1870 bestattet sind, war ein Platz mit Trümmerschutt. Daraus sollte ein Parkplatz werden. Plötzlich flog bei den Arbeiten die Planierraupe mit dem 21-jährigen Fahrer durch die Luft. Der Mann verlor ein Bein und ein Auge. Mit dem Schutt hatte man zum Verhängnis des Fahrers eine Höckerlinie des Westwalls zusammen mit einer unentdeckten Panzermine zugekippt.
Ich hatte zwei Kollegen, die als Kinder tragische Erfahrungen mit Munition machten. Der eine spielte achtjährig mit Freunden auf einem Schrottplatz, sie fanden eine scharfe Panzerfaust und einer drückte ab. Dieser Kollege verlor durch den Schuss ein Bein, der andere spielte mit Zündhütchen aus intakten Patronen. Man steckte zwei, drei Zündhütchen in eine leere Patrone, dann mit einem Nagel auf die Zündhütchen schlagen. Patsch. Nach dem Patsch fehlten diesem Kollegen, auch etwa acht Jahre alt, einige Finger. Trocken meinte er zu mir: „Es sollte ordentlich knallen, aber ich hatte wohl einige Zündhütchen zu viel reingetan.“
Zuletzt erzählte mir vor etwa zehn Jahren ein Mann aus meiner Bonner Nachbarschaft seine Geschichte, als wir uns mal im Bus trafen. Er hinkte, und ich fragte ihn nach der Ursache. Ja, sagte er, es begann an Gründonnerstag 1944 in der Bonner Rheinaue. Zusammen mit seinen vier älteren Brüdern und einem 16-jährigen Cousin, Schlosserlehrling, hatten sie einen Blindgänger gefunden. Der Cousin machte sich mit einem Schraubenschlüssel daran zu schaffen. Im Sommer jenes Jahres wurde mein Nachbar dann, wie er weitererzählte, auf einem Rollbett in einen Bonner Hörsaal gefahren, und ein Dozent eröffnete seine Medizinvorlesung mit den Worten: „Sie sehen hier den einzigen Überlebenden von sechs Jungens“. So erfuhr er vom Tod der anderen.
Auf den großen Friedensdemonstrationen Anfang der 1980er-Jahre auf der Bonner Hofgartenwiese wurde Wolfgang Borcherts Gedicht „Sagt Nein!“ vorgetragen. Mit Hunderttausenden habe ich den Schwur geleistet: „Du. Mann auf dem Bahnhof. Wenn sie dir morgen befehlen, du sollst das Signal zur Abfahrt geben für den Munitionszug (…), dann gibt es nur eins: Sag NEIN!“
Dazu stehe ich bis heute.
Titelbild: Voyage View Media/shutterstock.com
[«1] zdf.de/nachrichten/politik/zdf-sommerinterview-steinmeier-streubomben-ukraine-100.html
[«2] gesetze-im-internet.de/krwaffkontrg/index.html
[«3] streubomben.de/streumunition/laender/usa-und-streubomben-streumunition/
[«4] Übereinkommen über Streumunition – Auswärtiges Amt * auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/sicherheitspolitik/abruestung-ruestungskontrolle/uebersicht-konvalles-node/streumunition-node
[«5] Ted Galen Carpenter: fff.org/explore-freedom/article/congressional-and-media-hypocrisy-on-cluster-bombs/ – Carpenter ist zudem Autor zahlreicher Zeitschriften- und Buchpublikationen über internationale Angelegenheiten – sein letztes Opus Unreliable Watchdog: The News Media and U.S. Foreign Policy erschien im vergangenen Jahr in Washington, D.C.: Cato Institute. Siehe dazu auch folgenden Hintergrundbericht von Lynzy Billing: America’s Legacy of Pollution in Afghanistan * undark.org/2023/09/25/afghanistan-war-toxic-pollution/
[«6] Zur Person Dan Rice und seiner Rolle in der Ukraine, die im Interview „Kneifen gilt vielleicht vor kaltem Wasser, aber hier nicht“ ausführlich thematisiert werden, siehe folgende Quellen: David Brennan: newsweek.com/ukraine-gamechanger-himars-upgrade-win-war-dcipm-cluster-munitions-counteroffensive-artillery-1820071
Dan Rice, former Special Advisor to CinC Valeriy Zaluzhnyi, President American University Kyiv * ukrinform.net/rubric-ato/3738718-dan-rice-former-special-advisor-to-cinc-valeriy-zaluzhnyi-president-american-university-kyiv.html
Dan Rice, Special Advisor to CinC Valeriy Zaluzhnyi * ukrinform.net/rubric-ato/3544330-dan-rice-special-advisor-to-cinc-valeriy-zaluzhnyi.html
Dan Rice, Special Advisor to Valeriy Zaluzhnyi * ukrinform.net/rubric-ato/3487117-dan-rice-special-advisor-to-valeriy-zaluzhnyi.html
the-monitor.org/media/3383234/Cluster-Munition-Monitor-2023_Web.pdf
Kommentar hinterlassen
Du musst angemeldet sein, um einen Kommentar abzugeben.