Ukraine, Gaza, Taiwan: Das US-Imperium in der (letzten?) Krise Alfred McCoy

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Der Artikel erscheint in Kooperation mit dem US-Medium TomDispatch. Hier finden Sie das englische Original [47]. Übersetzung: David Goeßmann [48].
Dank an David Goeßmannn für die Genehmigung der Veröffentlichung

Ukraine, Gaza, Taiwan: Das US-Imperium in der (letzten?) Krise

Bild: rudy liggett / CCO

Weltreiche siechen dahin. Das passiert gerade auch mit der amerikanischen Supermacht. Steuert Washington die Welt dabei ins Chaos? Gastbeitrag.

Imperien fallen nicht einfach um wie umgestürzte Bäume. Stattdessen werden sie langsam geschwächt, da eine Reihe von Krisen ihre Stärke und ihr Vertrauen schwinden lassen, bis sie sich plötzlich aufzulösen beginnen. So war es mit dem britischen, französischen und sowjetischen Imperium. So ist es jetzt mit dem imperial ausgerichteten Amerika.

Alfred W. McCoy ist Professor für Geschichte an der Universität von Wisconsin-Madison und Autor zahlreicher Bücher zur US-Außenpolitik.

Als die USA übernahmen und Krisen meisterten

Großbritannien sah sich mit schweren kolonialen Krisen in Indien, Iran und Palästina konfrontiert, bevor es 1956 kopfüber in den Suezkanal sprang [1] und der imperiale Zusammenbruch folgte. In den darauffolgenden Jahren des Kalten Krieges sah sich die Sowjetunion mit ihren eigenen Herausforderungen in der Tschechoslowakei, in Ägypten und Äthiopien konfrontiert, bevor man im Krieg in Afghanistan [2] gegen eine Mauer prallte.

Der Siegeszug der USA nach dem Kalten Krieg erlebte Anfang dieses Jahrhunderts mit den katastrophalen Invasionen in Afghanistan [3] und im Irak [4] seine eigene Krise. Nun zeichnen sich am Horizont der Geschichte drei weitere imperiale Krisen in Gaza, Taiwan und der Ukraine ab, die zusammengenommen eine langsame imperiale Rezession in einen überstürzten Niedergang, wenn nicht gar Zusammenbruch verwandeln könnten.

Lassen Sie uns zunächst einmal die Idee einer imperialen Krise in die richtige Perspektive rücken. Die Geschichte jedes Imperiums, ob alt oder modern, war immer mit einer Reihe von Krisen verbunden, die in der Regel in den ersten Jahren des Imperiums gemeistert wurden, um dann in der Zeit des Niedergangs immer katastrophaler auszufallen.

Unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg, als die Vereinigten Staaten zum mächtigsten Imperium der Geschichte wurden, meisterten die politisch Verantwortlichen in Washington genau solche Krisen in Griechenland, Berlin, Italien und Frankreich sowie etwas weniger geschickt, aber nicht katastrophal, in einem Koreakrieg, der nie wirklich offiziell beendet wurde.

Ungleichgewicht zwischen Innenpolitik und Geopolitik

Selbst nach dem doppelten Desaster einer misslungenen verdeckten Invasion auf Kuba 1961 und einem konventionellen Krieg in Vietnam, der in den 1960er- und frühen 1970er-Jahren nur allzu katastrophal daneben ging, erwies sich Washington als fähig, sich ausreichend effektiv neu einzustellen, um die Sowjetunion zu überleben, den Kalten Krieg zu „gewinnen“ und die „einsame Supermacht“ auf diesem Planeten zu werden.

Sowohl bei Erfolg als auch bei Misserfolg beinhaltet das Krisenmanagement in der Regel, ein störungsanfälliges Gleichgewicht zwischen Innenpolitik und globaler Geopolitik zu halten. Das Weiße Haus von Präsident John F. Kennedy, 1961 von der CIA mit manipulativen Mitteln zur fatalen Invasion in die Schweinebucht auf Kuba gebracht, konnte sein politisches Gleichgewicht wiederherstellen. Auf diese Weise erlangte man Kontrolle über das Pentagon und schaffte es, 1962 eine diplomatische Lösung [5] mit der Sowjetunion in der gefährlichen Kubakrise um Mittelstreckenraketen zu erreichen.

Die derzeitige Misere Amerikas ist jedoch zumindest teilweise auf ein wachsendes Ungleichgewicht zwischen einer Innenpolitik, die aus den Fugen zu geraten scheint, und einer Reihe von herausfordernden globalen Umwälzungen zurückzuführen. Ob im Gaza-Streifen, in der Ukraine oder sogar in Taiwan – Washington unter Präsident Joe Biden gelingt es eindeutig nicht, die Wähler im eigenen Land mit den internationalen Interessen des Imperiums in Einklang zu bringen.

In all diesen Fällen wird das Krisen-Missmanagement durch Fehler, die sich in den Jahrzehnten seit dem Ende des Kalten Krieges aufgestaut haben, nur noch verschlimmert, sodass jede Krise zu einem unlösbaren Knäuel wurde, für das es keine einfache oder vielleicht überhaupt keine Lösung gibt.

Sowohl im Einzelfall als auch in der Gesamtheit dürfte sich die schlechte Bewältigung dieser Krisen als ein wichtiger Marker für Amerikas endgültigen Niedergang als Weltmacht erweisen, sowohl im Inland als auch im Ausland.

Schleichende Katastrophe in der Ukraine

Seit dem Ende des Kalten Krieges ist das Missmanagement in Bezug zur Ukraine ein eigenartig parteiübergreifendes Projekt gewesen. Als sich die Sowjetunion 1991 aufzulösen begann, konzentrierte sich Washington darauf, sicherzustellen, dass Moskaus Arsenal an schätzungsweise 45.000 Atomsprengköpfen [6] keine Gefährdung darstellte, insbesondere die 5.000 Atomwaffen [7], die damals in der Ukraine lagerten, wo sich auch die größte sowjetische Atomwaffenfabrik in Dnipro (damals Dnipropetrowsk) befand.

Während eines Besuchs im August 1991 erklärte Präsident George H.W. Bush [8] dem ukrainischen Premierminister Leonid Krawtschuk, dass er die künftige Unabhängigkeit der Ukraine nicht unterstützen könne, und hielt seine als „Chicken-Kiev“-Rede bekannt gewordene Ansprache:

Die Amerikaner werden diejenigen nicht unterstützen, die die Unabhängigkeit anstreben, um eine weit entfernte Tyrannei durch eine lokale Despotie zu ersetzen. Sie werden nicht diejenigen unterstützen, die einen selbstmörderischen, auf ethnischem Hass basierenden Nationalismus fördern.

Er würde jedoch bald Lettland, Litauen und Estland als unabhängige Staaten anerkennen, da sie keine Atomwaffen besaßen.

Als die Sowjetunion schließlich im Dezember 1991 zusammenbrach, wurde die Ukraine auf Anhieb zur drittgrößten Atommacht der Welt, obwohl sie keine Möglichkeit hatte, die meisten dieser Atomwaffen tatsächlich abzuliefern. Um die Ukraine davon zu überzeugen, ihre Atomsprengköpfe nach Moskau zu verlagern, nahm Washington drei Jahre lang multilaterale Verhandlungen auf und gab Kiew „Zusicherungen“ (aber keine „Garantien“) für seine künftige Sicherheit – das diplomatische Äquivalent eines persönlichen Schecks, der mit einem Bankkonto verbunden ist, das kein Guthaben hat.

Osterweiterung der Nato

Im Rahmen des Budapester Sicherheitsmemorandums [9] vom Dezember 1994 unterzeichneten drei ehemalige Sowjetrepubliken – Belarus, Kasachstan und die Ukraine – den Atomwaffensperrvertrag und begannen mit der Übergabe ihrer Atomwaffen an Russland.

Gleichzeitig erklärten sich Russland, die USA und Großbritannien bereit, die Souveränität der drei Unterzeichner zu respektieren und diese Waffen nicht gegen sie einzusetzen. Jedem der Anwesenden schien jedoch klar zu sein, dass die Vereinbarung bestenfalls dürftig war. (Ein ukrainischer Diplomat sagte [10] den Amerikanern, er mache sich „keine Illusionen darüber, dass die Russen sich an die von ihnen unterzeichneten Vereinbarungen halten würden“).

In der Zwischenzeit – und das sollte uns heute bekannt vorkommen – wetterte der russische Präsident Boris Jelzin gegen die Pläne Washingtons, die Nato weiter auszubauen, und beschuldigte US-Präsident Bill Clinton, von einem Kalten Krieg zu einem „kalten Frieden“ überzugehen. Unmittelbar nach dieser Konferenz warnte Verteidigungsminister William Perry Clinton eindringlich davor [11], dass „ein verwundetes Moskau als Reaktion auf die Nato-Erweiterung um sich schlagen würde“.

Dennoch stimmte Clinton, nachdem die ehemaligen Sowjetrepubliken sicher von ihren Atomwaffen befreit worden waren, der Aufnahme neuer Mitglieder in die Nato zu und leitete damit einen unaufhaltsamen Marsch nach Osten in Richtung Russland ein, der unter seinem Nachfolger George W. Bush fortgesetzt wurde.

So wurden drei ehemalige Satellitenstaaten der Sowjetunion, nämlich die Tschechische Republik, Ungarn und Polen (1999), drei ehemalige Sowjetrepubliken, nämlich Estland, Lettland und Litauen (2004), und drei weitere ehemalige Satellitenstaaten, nämlich Rumänien, die Slowakei und Slowenien (2004), aufgenommen.

Überfall auf Ukraine wirklich überraschend?

Auf dem Bukarester Gipfel 2008 beschlossen [12] die 26 Mitglieder des Bündnisses außerdem einstimmig, dass die Ukraine und Georgien zu einem nicht näher bezeichneten Zeitpunkt ebenfalls „Nato-Mitglieder“ werden sollen. Mit anderen Worten: Nachdem die Nato bis an die ukrainische Grenze vorgedrungen war, schien Washington die Möglichkeit, dass Russland sich in irgendeiner Weise bedroht fühlen und mit der Annexion dieses Landes reagieren könnte, um seinen eigenen Sicherheitskorridor zu schaffen, nicht zu berücksichtigen.

In jenen Jahren kam Washington auch zu der Überzeugung, dass es Russland in eine funktionierende Demokratie verwandeln könnte, die vollständig in die sich noch entwickelnde US-amerikanische Weltordnung integriert werden könnte.

Doch mehr als 200 Jahre lang war Russland autokratisch regiert worden. Und jeder Herrscher von Katharina der Großen bis Leonid Breschnew hatte seine innere Stabilität durch ständige Expansion nach außen erreicht. Daher dürfte es kaum überraschen, dass die scheinbar endlose Expansion der Nato Russlands jüngsten Autokraten, Wladimir Putin, dazu veranlasste, im März 2014, nur wenige Wochen nach der Austragung der Olympischen Winterspiele, auf der Halbinsel Krim [13] einzufallen.

In einem Interview kurz nach der Annexion dieses Teils der Ukraine durch Moskau erkannte [14] Präsident Barack Obama die geopolitische Realität an, die das gesamte Land in den Orbit Russlands treiben könnte, und sagte:

Tatsache ist, dass die Ukraine, ein Nicht-Nato-Land, für eine militärische Beherrschung durch Russlands anfällig sein wird, egal, was wir tun.

Russland liegt nicht darnieder

Im Februar 2022, nach jahrelangen Kämpfen mit geringer Intensität in der ostukrainischen Donbass-Region, schickte Putin 200.000 Truppen los, um die Hauptstadt Kiew einzunehmen und genau diese „militärische Vorherrschaft“ zu errichten.

Als die Ukrainer sich überraschend gegen die Russen wehrten, reagierten Washington und der Westen zunächst mit erstaunlicher Entschlossenheit: Sie drosselten die Energieimporte Europas aus Russland, verhängten schwere Sanktionen gegen Moskau, dehnten die Nato auf ganz Skandinavien aus und schickten ein beeindruckendes Arsenal an Waffen in die Ukraine.

Nach zwei Jahren eines nicht enden wollenden Krieges sind jedoch Risse in der antirussischen Koalition entstanden, die darauf hindeuten, dass Washingtons globaler Einfluss seit den glorreichen Tagen des Kalten Krieges deutlich abgenommen hat.

Nach 30 Jahren marktwirtschaftlichen Wachstums hat Russlands robuste Wirtschaft die Sanktionen überstanden, seine Ölexporte haben neue Märkte [15] gefunden, und das Bruttoinlandsprodukt wird in diesem Jahr voraussichtlich um gesunde 2,6 Prozent wachsen [16]. In der Kampfsaison des letzten Frühjahrs und Sommers scheiterte eine ukrainische „Gegenoffensive“. Und der Krieg ist nach Ansicht sowohl der russischen als auch der ukrainischen Befehlshaber zumindest „festgefahren“ [17], wenn er nicht sogar beginnt, sich zu Russlands Gunsten zu wenden.

Besonders kritisch ist, dass die Unterstützung der USA für die Ukraine ins Stocken geraten ist. Nachdem es dem Weißen Haus unter Biden gelungen war, das Nato-Bündnis auf die Seite der Ukraine zu ziehen, öffnete man das US-Waffenarsenal [18], um Kiew mit einer beeindruckenden Palette von militärischer Ausrüstung im Gesamtwert von 46 Milliarden Dollar auszustatten, die der kleineren Armee einen technologischen Vorsprung auf dem Schlachtfeld verschaffte.

Historischer Isolationismus der Republikaner

Doch nun hat ein Teil der republikanischen (oder besser gesagt: trumpublikanischen) Partei in einem historisch bedeutsamen Schritt mit der parteiübergreifenden Außenpolitik gebrochen, die die amerikanische Weltmacht seit Beginn des Kalten Krieges gestützt hat.

Wochenlang hat sich das von den Republikanern geführte Repräsentantenhaus sogar wiederholt geweigert [19], Präsident Bidens jüngstes 60-Milliarden-Dollar-Hilfspaket für die Ukraine in Erwägung zu ziehen, was zu den jüngsten Rückschlägen Kiews auf dem Schlachtfeld beigetragen hat.

Der Bruch in der Republikanischen Partei beginnt mit ihrem Vorsitzenden. Nach Ansicht der ehemaligen Beraterin im Weißen Haus, Fiona Hill, war Donald Trump während „der inzwischen legendär desaströsen Pressekonferenz“ in Helsinki 2018 so rücksichtsvoll [20] gegenüber Wladimir Putin, dass Kritiker überzeugt waren, „der Kreml habe den US-Präsidenten in der Hand“.

Aber das Problem geht viel tiefer. Wie der Kolumnist der New York Times, David Brooks, kürzlich feststellte [21], ist der schon historische „Isolationismus der Republikanischen Partei immer noch auf dem Vormarsch.“ In der Tat hat das Pew Research Center herausgefunden, dass zwischen März 2022 und Dezember 2023 der Prozentsatz der Republikaner, die der Meinung sind, die USA würden die Ukraine „zu sehr unterstützen“, von lediglich neun Prozent auf enorme 48 Prozent gestiegen ist [22].

Angst vor imperialer Überlastung

Auf die Frage nach einer Erklärung für diesen Trend meint Brooks [23], dass „der Trumpsche Populismus einige sehr legitime Werte vertritt: die Angst vor einer imperialen Überlastung … [und] die Notwendigkeit, die Löhne der Arbeiterklasse vor dem Druck der Globalisierung zu schützen.“

Da Trump diesen tieferen Trend vertritt, hat seine Feindseligkeit gegenüber der Nato zusätzliche Bedeutung erlangt. Seine jüngste Äußerung, dass er Russland ermutigen würde [24], mit einem Nato-Verbündeten, der nicht seinen gerechten Anteil zahlt, „zu tun, was immer sie wollen“, hat Schockwellen in ganz Europa ausgelöst und wichtige Verbündete dazu gezwungen, darüber nachzudenken [25], wie ein solches Bündnis ohne die Vereinigten Staaten aussehen würde (selbst als der russische Präsident Wladimir Putin, der zweifellos eine Schwächung der Entschlossenheit der USA spürte, Europa mit einem Atomkrieg drohte [26]).

All das signalisiert der Welt, dass die globale Führungsrolle Washingtons alles andere als eine Selbstverständlichkeit ist.

Krise in Gaza

Genau wie in der Ukraine haben Jahrzehnte zögerlicher US-Führung, verstärkt durch eine zunehmend chaotische Innenpolitik, die Gaza-Krise außer Kontrolle geraten lassen. Am Ende des Kalten Krieges, als der Nahe Osten vorübergehend von der Politik der Großmächte losgelöst war, unterzeichneten [27] Israel und die Palästinensische Befreiungsorganisation 1993 das Oslo-Abkommen.

Darin vereinbarten sie die Gründung der Palästinensischen Autonomiebehörde als ersten Schritt auf dem Weg zu einer Zweistaatenlösung. In den folgenden zwei Jahrzehnten gelang es den unwirksamen Initiativen Washingtons jedoch nicht, die festgefahrene Situation zwischen dieser Behörde und den aufeinander folgenden israelischen Regierungen zu überwinden, die jeden Fortschritt in Richtung einer solchen Lösung verhinderte.

Im Jahr 2005 beschloss Israels Hardliner-Premierminister Ariel Sharon, seine Verteidigungskräfte und 25 israelische Siedlungen aus dem Gazastreifen abzuziehen, um „Israels Sicherheit und internationalen Status“ zu verbessern [28]. Innerhalb von zwei Jahren übernahmen [29] jedoch militante Hamas-Kämpfer die Macht im Gazastreifen und verdrängten die Palästinensische Autonomiebehörde unter Präsident Mahmoud Abbas.

Im Jahr 2009 begann der umstrittene Benjamin Netanjahu seine fast ununterbrochene 15-jährige Amtszeit als israelischer Premierminister und entdeckte bald den Nutzen der Unterstützung der Hamas [30] als politische Folie, um die von ihm so verabscheute Zweistaatenlösung zu blockieren.

Es überrascht daher nicht, dass die Times of Israel am Tag nach dem tragischen Hamas-Anschlag vom 7. Oktober letzten Jahres diese Schlagzeile veröffentlichte [31]: „Jahrelang hat Netanjahu die Hamas gestützt. Jetzt ist es uns um die Ohren geflogen.“ In ihrem Leitartikel berichtete die führende politische Korrespondentin Tal Schneider:

Jahrelang verfolgten die verschiedenen Regierungen unter Benjamin Netanjahu einen Ansatz, der die Macht zwischen dem Gazastreifen und dem Westjordanland aufteilte – sie zwangen den Präsidenten der Palästinensischen Autonomiebehörde, Mahmoud Abbas, in die Knie, während sie gleichzeitig Maßnahmen ergriffen, die die Terrorgruppe Hamas unterstützten.

Schulterschluss Bidens mit Netanjahu

Am 18. Oktober, als die israelische Bombardierung des Gazastreifens bereits schwere Opfer unter der palästinensischen Zivilbevölkerung forderte, flog Präsident Biden nach Tel Aviv zu einem Treffen mit Netanjahu, das auf unheimliche Weise an Trumps Pressekonferenz mit Putin in Helsinki erinnerte.

Nachdem Netanjahu den US-Präsidenten dafür lobte [32], „eine klare Linie zwischen den Kräften der Zivilisation und den Kräften der Barbarei“ zu ziehen, bestätigte Biden diese manichäische Sichtweise, indem er die Hamas für „Übel und Gräueltaten verurteilte, die ISIS vernünftiger erscheinen lassen“. Er versprach, Israel die benötigten Waffen zur Verfügung zu stellen, „um auf diese Angriffe zu reagieren“. Biden sagte nichts über Netanjahus frühere Allianz mit der Hamas [33] oder die Zweistaatenlösung.

Stattdessen legte das Weiße Haus unter Biden in der UNO Vetos gegen Waffenstillstandsvorschläge ein, während es auf dem Luftweg [34], neben einer Reihe von Waffen, auch 15.000 Bomben nach Israel transportierte, darunter die gewaltigen 900-Kilo-Bunkerbrecherbomben, die bald darauf die Hochhäuser des Gazastreifens in Schutt und Asche legten und immer mehr zivile Opfer forderten.

Nach fünf Monaten Waffenlieferungen an Israel, drei UN-Vetos gegen den Waffenstillstand und keiner Initiative, die Netanjahus Plan einer endlosen Besetzung [35] des Gazastreifens im Gegensatz zu einer Zweistaatenlösung hätte stoppen können, hat Biden die diplomatische Führungsrolle der USA im Nahen Osten und in weiten Teilen der Welt beschädigt.

Im November und erneut im Februar gingen unter anderem in Berlin, London, Madrid, Mailand, Paris, Istanbul und Dakar riesige Menschenmengen [36] für Frieden in Gaza auf die Straßen [37].

Effekt auf Innenpolitik und Wahlen

Darüber hinaus hat der unerbittliche Anstieg der Zahl ziviler Todesopfer im Gazastreifen auf weit über 30.000 [38], darunter frappierend viele Kinder, Bidens innenpolitische Unterstützung bei Wählerschichten geschwächt [39], die für seinen Sieg im Jahr 2020 entscheidend waren – einschließlich der arabischen US-Amerikaner im wichtigen Swing State Michigan, der Afroamerikaner im ganzen Land und der jüngeren Wähler im Allgemeinen.

Um die Kluft zu verringern, bemüht sich Biden nun verzweifelt [40] um einen Waffenstillstands-Deal. Er gab sogar Netanjahu, einem Verbündeten von Donald Trump, die überraschende Gelegenheit im Oktober für weiteren Verwüstungen in Gaza.

Auf schädigende Weise verband Biden damit internationale und Innenpolitik, was die Geschlossenheit der Demokraten aufbrechen und die Chancen auf einen Sieg von Trump im November erhöhen könnte – mit fatalen Folgen für die globale Macht der USA.

Ärger in der Meerenge von Taiwan

Während Washington mit Gaza und der Ukraine beschäftigt ist, steht es möglicherweise auch an der Schwelle zu einer ernsten Krise in der Meerenge von Taiwan. Beijings (Pekings) unerbittlicher Druck auf die Insel Taiwan hält unvermindert an.

Nach der schrittweisen Strategie, mit der es sich seit 2014 ein halbes Dutzend Militärstützpunkte im Südchinesischen Meer [41] gesichert hat, ist Beijing dabei, Taiwans Souveränität langsam auszuhöhlen [42]. Die Verletzungen des Luftraums der Insel haben von 400 im Jahr 2020 auf 1.700 im Jahr 2023 zugenommen.

Ebenso haben chinesische Kriegsschiffe die Mittellinie in der Straße von Taiwan seit August 2022 300 Mal überquert und sie damit faktisch ausgelöscht. Wie der Kommentator Ben Lewis warnte, „könnte es bald keine Linien mehr geben, die China überschreiten könnte“.

Nachdem Beijing 1979 als „alleinige rechtmäßige Regierung Chinas“ anerkannt worden war, stimmte Washington zu [43], Taiwan als Teil Chinas „anzuerkennen“. Gleichzeitig verabschiedete der US-Kongress jedoch den „Taiwan Relations Act“ von 1979, der vorschreibt, „dass sich die Vereinigten Staaten die Möglichkeit bewahren, sich jeglicher Gewaltanwendung zu widersetzen, die die Sicherheit der Bevölkerung Taiwans gefährden würde“.

China könnte Taiwan „friedlich“ lahmlegen

Diese von den USA insgesamt geteilte „Zweideutigkeit“ gegenüber Taiwan schien bis Oktober 2022 tragfähig zu sein. Dann erklärte der chinesische Präsident Xi Jinping [44] auf dem 20. Parteitag der Kommunistischen Partei, dass die „Wiedervereinigung verwirklicht werden muss“.

Er weigerte sich, auf die „Anwendung von Gewalt“ gegen Taiwan „zu verzichten“. In einer fatalen Konfrontationsgeste erklärte Präsident Biden [45] bereits im September 2022, dass die USA Taiwan verteidigen würden, „wenn es tatsächlich zu einem echten Angriff käme“.

Doch Beijing könnte Taiwan auch ohne „Angriff“ lahmlegen, indem es alle Grenzübertretungen auf dem Meer und in der Luft in eine Art „Zollquarantäne“ [46] stellen könnte, die alle nach Taiwan gehenden Güter mit friedlichen Mitteln auf das chinesische Festland umleitet.

Da die wichtigsten Häfen der Insel in Taipeh und Kaohsiung an der Straße von Taiwan liegen, würde jedes US-Kriegsschiff, das versucht, dieses Embargo zu durchbrechen, mit einem tödlichen Schwarm von Atom-U-Booten, Kampfjets und Anti-Schiff-Raketen konfrontiert werden.

Angesichts des nahezu sicheren Verlusts von zwei oder drei Flugzeugträgern würde sich die US-Marine wahrscheinlich zurückziehen, und Taiwan wäre gezwungen, die Bedingungen für seine Wiedervereinigung mit Beijing auszuhandeln.

Eine solche demütigende Kehrtwende würde ein klares Signal aussenden, dass die US-amerikanische Vorherrschaft im Pazifik nach 80 Jahren endgültig beendet ist. Es würde zugleich der globalen Hegemonie der USA einen weiteren schweren Schlag versetzen.

Die Summe von drei Krisen

Washington sieht sich nun mit drei komplexen globalen Krisen konfrontiert, die alle die ungeteilte Aufmerksamkeit der USA erfordern. Jede einzelne von ihnen würde selbst die Fähigkeiten des erfahrensten Diplomaten herausfordern.

Ihre Gleichzeitigkeit bringt die USA in die wenig beneidenswerte Lage, in allen drei Krisen auf einmal einen möglichen Rückschlag zu erleiden, während ihre Innenpolitik auf eine Ära des Chaos zuzusteuern droht. Die Protagonisten in Beijing, Moskau und Tel Aviv spielen mit der innenpolitischen Zerrissenheit der USA und haben alle Zeit (oder zumindest potenziell mehr als Washington) und hoffen auf einen automatischen Sieg, wenn die USA der Auseinandersetzungen müde werden.

Als Amtsinhaber muss US-Präsident Biden die Last jedes Umschwungs tragen, mit dem daraus resultierenden politischen Schaden im November.

In der Zwischenzeit könnte Donald Trump versuchen, solchen internationalen Verstrickungen und den damit verbundenen politischen Kosten zu entgehen, indem er den Isolationismus der Republikanischen Partei hervorholt, während er dafür sorgt, dass die ehemalige einzige Supermacht des Planeten Erde nach der Wahl 2024 aus den Fugen geraten könnte.

In einem solchen Fall würde die globale Hegemonie der USA in einer Welt, die eindeutig im Chaos versinkt, überraschend schnell dahinschwinden und bald nur noch eine ferne Erinnerung sein.

Der Artikel erscheint in Kooperation mit dem US-Medium TomDispatch. Hier finden Sie das englische Original [47]. Übersetzung: David Goeßmann [48].

Alfred W. McCoy ist Professor für Geschichte an der Universität von Wisconsin-Madison und Autor von „In the Shadows of the American Century: The Rise and Decline of U.S. Global Power“. Zu seinen früheren Büchern gehören: „Torture and Impunity: The U.S. Doctrine of Coercive Interrogation“, „A Question of Torture: CIA Interrogation, from the Cold War to the War on Terror“, „Policing America’s Empire: The United States, the Philippines, and the Rise of the Surveillance State“, und „The Politics of Heroin: Die Komplizenschaft der CIA im globalen Drogenhandel“.


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[1] https://www.history.com/topics/cold-war/suez-crisis
[2] https://www.history.com/news/1979-soviet-invasion-afghanistan
[3] https://www.nytimes.com/article/afghanistan-war-us.html
[4] https://www.atlanticcouncil.org/blogs/menasource/how-the-war-in-iraq-changed-the-world-and-what-change-could-come-next/
[5] https://history.state.gov/milestones/1961-1968/cuban-missile-crisis
[6] https://www.nytimes.com/1993/09/26/world/russian-says-soviet-atom-arsenal-was-larger-than-west-estimated.html
[7] https://www.nytimes.com/2022/02/05/science/ukraine-nuclear-weapons.html
[8] https://bush41library.tamu.edu/archives/public-papers/3267
[9] https://www.wilsoncenter.org/sites/default/files/media/documents/publication/Issue%20Brief%20No%203--The%20Breach--Final4.pdf
[10] https://www.foreignaffairs.com/articles/united-states/shoals-ukraine?utm_medium=newsletters&utm_source=fabackstory&utm_content=20240225&utm_campaign=NEWS_FA%20Backstory_022524_The%20Shoals%20of%20Ukraine&utm_term=fa-backstory-2019
[11] https://www.foreignaffairs.com/articles/united-states/shoals-ukraine?utm_medium=newsletters&utm_source=fabackstory&utm_content=20240225&utm_campaign=NEWS_FA%20Backstory_022524_The%20Shoals%20of%20Ukraine&utm_term=fa-backstory-2019
[12] https://www.nato.int/docu/update/2008/04-april/e0403h.html
[13] https://www.cfr.org/backgrounder/ukraine-conflict-crossroads-europe-and-russia
[14] https://foreignpolicy.com/2023/07/11/obama-russia-ukraine-war-putin-2014-crimea-georgia-biden/
[15] https://www.google.com/
[16] https://www.newsweek.com/russia-imf-2024-economy-sanctions-1866071#:~:text=The%20IMF%20has%20said%20that,year%2C%20according%20to%20IMF%20figures.
[17] https://www.washingtonpost.com/opinions/2024/02/06/russia-ukraine-drone-war-technology-stalemate/
[18] https://www.cfr.org/article/how-much-aid-has-us-sent-ukraine-here-are-six-charts
[19] https://www.theguardian.com/us-news/2024/feb/28/funding-ukraine-republican-government-shutdown
[20] https://www.foreignaffairs.com/russia/fiona-hill-putin-kremlin-strange-victory?utm_medium=newsletters&utm_source=weekend_read&utm_content=20240302&utm_campaign=NEWS_FA%20Weekend%20Read_030224_The%20Kremlin%E2%80%99s%20Strange%20Victory&utm_term=FA%20Weekend%20Read-012320
[21] https://www.nytimes.com/2024/02/29/opinion/donald-trump-republican-gop.html
[22] https://www.nytimes.com/2024/02/14/opinion/republicans-isolationsim-ukraine-russia-congress.html
[23] https://www.nytimes.com/2024/02/15/opinion/democracy-good-evil.html
[24] https://www.nbcnews.com/politics/politics-news/trump-says-russia-whatever-hell-want-nato-countries-dont-pay-enough-rcna138256?gad_source=1&gclid=EAIaIQobChMItKG-qYDXhAMV32dHAR0QkwxlEAAYASAAEgJrBfD_BwE
[25] https://www.nytimes.com/2024/02/11/world/europe/trump-nato-analysis.html
[26] https://www.nytimes.com/2024/02/29/world/europe/putin-speech-ukraine-nuclear-conflict.html
[27] https://history.state.gov/milestones/1993-2000/oslo
[28] https://embassies.gov.il/MFA/AboutIsrael/Maps/Pages/Israels%20Disengagement%20Plan-%202005.aspx
[29] https://www.theguardian.com/world/2007/jun/15/israel4
[30] https://www.nytimes.com/2023/12/10/world/middleeast/israel-qatar-money-prop-up-hamas.html
[31] https://www.timesofisrael.com/for-years-netanyahu-propped-up-hamas-now-its-blown-up-in-our-faces/
[32] https://www.whitehouse.gov/briefing-room/speeches-remarks/2023/10/18/remarks-by-president-biden-and-prime-minister-netanyahu-of-israel-before-bilateral-meeting-tel-aviv-israel/
[33] https://www.nytimes.com/2023/12/10/world/middleeast/israel-qatar-money-prop-up-hamas.html
[34] https://www.wsj.com/world/middle-east/u-s-sends-israel-2-000-pound-bunker-buster-bombs-for-gaza-war-82898638
[35] https://www.washingtonpost.com/world/2024/02/27/post-war-gaza-plan-netanyahu-israel-day-after-future-abbas/
[36] https://www.aljazeera.com/news/2023/11/4/demonstrations-around-the-world-renew-calls-for-gaza-ceasefire
[37] https://www.aljazeera.com/news/2024/2/17/thousands-take-part-in-pro-palestine-protests-across-the-world
[38] https://www.bbc.com/news/world-middle-east-68430925
[39] https://www.reuters.com/world/us/inside-democratic-rebellion-against-biden-over-gaza-war-2024-02-27/
[40] https://www.nbcnews.com/politics/white-house/biden-walks-back-prediction-monday-ceasefire-deal-gaza-hopeful-probabl-rcna141161
[41] https://www.nytimes.com/2023/09/23/world/asia/china-sea-philippines-us.html
[42] https://www.nytimes.com/2024/02/26/opinion/taiwan-china-war-military.html
[43] https://www.csis.org/analysis/what-us-one-china-policy-and-why-does-it-matter
[44] https://www.theguardian.com/world/2022/oct/16/xi-jinping-speech-opens-china-communist-party-congress
[45] https://www.theguardian.com/world/2022/sep/19/joe-biden-repeats-claim-that-us-forces-would-defend-taiwan-if-china-attacked
[46] https://www.reuters.com/investigates/special-report/taiwan-china-wargames/
[47] https://tomdispatch.com/the-american-empire-in-ultimate-crisis/
[48] https://www.telepolis.de/autoren/David-Goessmann-7143590.html

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