Von Barmherzigkeit und Ideologie Moshe Zuckermann

Ich danke Mosehe Zuckermann für seine Genehmigung der Veröffentlichung seines Artikels. Evelyn Hecht-Galinski

Von Barmherzigkeit und Ideologie

Juden rühmen sich traditionell ihrer Barmherzigkeit. Was ist von ihr im gegenwärtigen Krieg gegen die Palästinenser geblieben?

Von Barmherzigkeit und Ideologie

Bild: Times of Gaza

Juden rühmen sich traditionell ihrer Barmherzigkeit. Was ist von ihr im gegenwärtigen Krieg gegen die Palästinenser geblieben?

 

Im jüdischen “Buch der Erziehung” aus dem 13. Jahrhundert werden Juden als “Barmherzige, Söhne von Barmherzigen” apostrophiert. Bamherzigkeit sei eine jüdische Tugend, welche man zuweilen im Umgang mit anderen sogar übertreibe. Die jüdische Religion ist nicht die einzige, die sich mit solcherlei Narzißmen schmückt. Zwischen dem, was die Religionen ethisch vorschreiben und beanspruchen, und dem, was sich in der geschichtlichen Praxis realiter manifestiert, klafft gemeinhin ein widersprüchlicher Gegensatz. Gerade deshalb insistiert man wohl auch mit Verve auf das moralisch schmeichelnde traditionelle Selbstbild.

Max Horkheimer hat 1960 in seiner Kritik an dem von Israel gegen Adolf Eichmann geplanten staatsoffiziellen Prozess geschrieben: Der Wunsch, Eichmann wegen seiner Schandtaten etwas anzutun, sei für Israel “zu arm”. Er hebt das historische Leiden des jüdischen Volkes hervor, fügt aber die Einsicht hinzu: “Die Weigerung, Gewalt als Argument der Wahrheit anzuerkennen, bildet in seiner Geschichte den durchgehenden Zug. Aus dem Leid, das ihm daraus entstand, hat er ein Moment der Dauer und der Einheit gemacht. Anstatt die Auflösung zu bewirken, oder besondere Bosheit und Gemeinheit, an denen es bei Juden so wenig wie in anderen Kollektiven fehlt, hat sich Unrecht in eine Art Erfahrung umgesetzt. Leid und Hoffnung sind im Judentum untrennbar geworden.”

Horkheimer ließ aber kein Missverständnis aufkommen: Juden hätten “das Leiden nicht verherrlicht, nicht angebetet, nicht gesucht noch gepriesen, sondern bloß erfahren. Mehr jedoch als bei anderen ist es bei ihnen mit der Erinnerung an die eigenen Toten verknüpft. Nach dem jüdischen Gesetz können Menschen durch das Leiden nicht zu Heiligen werden wie im Christentum, das Leiden verleiht nur dem Gedanken an die Toten die unendliche Zartheit, die vom Trost des ewigen Lebens nicht abhängt. Der Jude, dem angesichts des gefangenen Eichmann der Gedanke kommt, ihn leiden zu sehen, hat sich nicht ernst genug besonnen.”

Das mutet zunächst merkwürdig an. Und doch insistiert Horkheimer darauf, dass das Leiden des Einzelmenschen Adolf Eichmann in keinem Verhältnis zur millionenfachen Vernichtung von Juden stehen kann – weder Sühne noch Gerechtigkeit sei durch Eichmanns Tod zu erlangen. Einem Shoah-Überlebenden, der Eichmann auf offener Straße getötet hätte, würde man nachfühlen können. Der vom Staat initiierte Prozess sei jedoch inadäquat angesichts dessen, was in ihm verhandelt werden sollte: die Shoah der Juden.

Was der Philosoph Max Horkheimer wohl zum gegenwärtigen Gazakrieg gesagt hätte? Das Judentum, das er noch 1960 vor Augen hatte, war das von jahrhundertealter Verfolgung und Leid geprägte diasporische Judentum, dessen Umgang mit seinem historischen Schicksal er durch dessen religiösen Werte zu charakterisieren suchte. Aber es war dies die Erfahrung eines ohnmächtigen Kollektivs, das keine Möglichkeit zur Selbstwehr hatte. Wie hätte sich das Judentum wohl entwickelt, wenn es nicht solcher historisch bedingter Machtlosigkeit ausgesetzt gewesen wäre?

Nun, eine mögliche Antwort auf diese hypothetische Frage kann man gerade vom derzeitigen Gazakrieg ableiten. Jetzt, da die Juden eine mächtige Armee zur Verfügung haben, ist klar und deutlich zu sehen, wie sie in ihrem Nationalstaat mit erlittenem Leid umgehen: Auf die Monstrositäten des 7. Oktober reagieren sie mit eigener Barbarei, welche den Eindruck erwecken mag, es gehe darum, dem biblischen Gerechtigkeitspostulat “Auge um Auge, Zahn um Zahn” nachzukommen, das mit Horkheimers Vorstellung vom Judentum nicht sehr viel zu tun hat. Und selbst die im Postulat aufgezeigte Symmetrie wird bei weitem nicht eingehalten: Rund 13.000 durch die israelische Armee zu Tode gekommene Kinder und Tausende von Frauen wie auch andere unbeteiligte Gaza-Bewohner zeugen von großem Rachebedürfnis und rasender Vergeltungslust, von verheerender Zerstörungs- und Verwüstungswut. Die Toten der anderen zählen nicht.

“Barmherzige, Söhne von Barmherzigen”?

Was derzeit in Israels Print- und elektrischen Medien, im Diskurs der sozialen Medien, im Parlament und auf der Straße zu hören ist, zeugt von einer verwahrlosten zügellosen Rhetorik, die sich in Schadenfreude, Sadismus und unbändigem Hass suhlt, die Gaza-Bewohner allesamt des Terrorismus zeiht (“Es gibt dort keine Unbeteiligte”), die es mit allen Mitteln zu vernichten gelte. Kinder, Frauen und Alte werden davon mitnichten ausgenommen (“Die haben sich das selbst zuzuschreiben” bzw. “Ich habe jetzt keinen Raum in mir für ein Mitgefühl mit ihnen”). Der Gazastreifen sei zu “säubern”, seine Bewohner von ihrem Wohngebiet zu vertreiben, damit die israelische Armee bei der “Säuberung” frei operieren kann (und sich dabei noch als “die moralischste Armee der Welt” vorkommen darf). Sogar das Verhungernlassen der Zivilbevölkerung wird für legitime Taktik erachtet, und zwar nicht nur von faschistischen Hitzköpfen, sondern auch von angesehenen “seriösen” Kommentatoren.

Und die Religion? Wie verhalten sich die Religiösen, die die jüdische Barmherzigkeit rühmen und sie immer wieder zur Rechtfertigung ihres Verhaltens und Handelns anführen? Nun, die orthodoxen Juden, die von vornherein keinen Militärdienst leisten (und daher gerade in Kriegszeiten die Wut der säkularen Bürger des Landes entfachen), halten sich in dieser Hinsicht unbeschadet; sie sind ja die Platzhalter der Religion, wie sie das diasporische Judentum in seiner Lebenswelten zu praktizieren pflegte, sehen sich mithin großteils als Gäste im zionistischen Staat – was freilich ihren Araberhass mitnichten schmälert.

Von großer Relevanz für den hier erörterten Zusammenhang sind hingegen die nationalreligiösen Juden, bei denen sich der Zionismus mit einem mystischen Messianismus verbindet, und die das Hauptkontingent der Siedler im besetzten Westjordanland stellen. Für sie ist der Krieg ein Anlass zur freudigen Feier: Die radikalen unter ihnen, von Smotrich und Ben-Gvir geführt, hängen dezidiert dem Bevölkerungstransfer an, reden nicht nur der totalen Eroberung des Gazastreifens, sondern auch seiner jüdischen Neubesiedlung das Wort. Sie sind besonders motiviert beim gegenwärtigen Waffengang; viele in seinem Verlauf gefallenen Soldaten zählen zu ihren Reihen.

Von selbst versteht sich, dass bei ihnen nicht die geringste Spur von Empathie für die Leiderfahrung der Gaza-Bewohner zu finden ist. Denn nicht nur gelten diese ihnen als Feinde, sondern sie sind auch Nichtjuden – womit hätten sie sich dann Mitgefühl verdient? Es wundert daher nicht, dass gerade ihre Vertreter in der Regierungskoalition dezidiert gegen die humanitäre Hilfe für die Gaza-Bewohner kämpfen. Und es war auch Bezalel Smotrich, Israels Finanzminister, der vor einiger Zeit ohne Zögern deklarierte, die Befreiung der von der Hamas gefangenen israelischen Entführten sei kein vorrangiges Ziel des Krieges, denn sie würde die siegreiche Fortsetzung des Krieges behindern.

Sowohl die nationalreligiösen als auch die orthodoxen Juden im Parlament haben eine große Macht über Netanjahu – ohne sie verlöre er die Herrschaft und die Macht. Und welche Regung kann sich bei diesen Menschen für die in Gaza umkommenden Kinder regen, wenn sie nicht einmal für die eigenen Landsleute in der Hamas-Gefangenschaft Mitgefühl aufzubringen vermögen, das über das Lippenbekenntnis hinausgeht?

Ob Horkheimer recht hatte mit seiner Kennzeichnung des diasporischen Judentums als in seinem Wesen gewaltlos, sei dahingestellt. Klar dürfte aber sein, dass, insofern einst dieses humanistische Judentum bestanden hat, von ihm im heutigen, aggressiv wütenden Israel nicht sehr viel übriggeblieben ist. Von universell ausgerichteter Barmherzigkeit ganz zu schweigen.

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