Vor Rafah-Invasion: Es droht Panik-Exodus von 1,5 Millionen Palästinensern Von David Goeßmann

Dank an David Goeßmann für die Genehmigung der Veröffentlichung seines Artikel, erschienen bei Telepolis

Vor Rafah-Invasion: Es droht Panik-Exodus von 1,5 Millionen Palästinensern

Es ist die letzte Zuflucht für Gaza-Bewohner. Doch Netanjahu-Regierung plant Invasion auch dort, mit Massenevakuierung. Ein irrwitziger Plan mit fatalen Folgen.

Vor Rafah-Invasion: Es droht Panik-Exodus von 1,5 Millionen Palästinensern

Israelische Truppen operieren im Gazastreifen. Bild: IDF

Es ist die letzte Zuflucht für Gaza-Bewohner. Doch Netanjahu-Regierung plant Invasion auch dort, mit Massenevakuierung. Ein irrwitziger Plan mit fatalen Folgen.

Israelische Streitkräfte bereiten eine Bodeninvasion in Rafah vor – die letzte Zuflucht für über eine Million vertriebene Palästinenser.

Israelische Medien berichteten gestern, dass die Vorbereitungen für einen Angriff auf die südlichste Stadt des Gazastreifens abgeschlossen sind. Die Armee wartet nun auf den Befehl zum Einmarsch.

Netanjahu: „Totaler Sieg“

Der israelische Premierminister Benjamin Netanjahu soll während eines 45-minütigen Telefonats mit US-Präsident Joe Biden am Sonntag gesagt haben, das Ziel des bevorstehenden Bodenangriffs auf Rafah sei „nichts Geringeres als der totale Sieg“ über die Hamas, die für die Angriffe auf Israel am 7. Oktober und die Entführung von über 240 Israelis und anderen Personen verantwortlich war.

Netanjahu befahl den israelischen Verteidigungsstreitkräften (IDF) am Freitag, einen Plan zur „Evakuierung“ von Rafah auszuarbeiten – ein Schritt, den Menschenrechtsgruppen als Vorbereitung einer weiteren israelischen ethnischen Säuberung der Palästinenser verurteilten.

Die meisten der 2,3 Millionen Einwohner des Gazastreifens sind Nachkommen und einige Überlebende der Zwangsvertreibung von mehr als 750.000 Arabern aus Palästina während der Nakba, der „Katastrophe“ bei der Gründung Israels im Jahr 1948.

Bei israelischen Luftangriffen am Wochenende auf die 150.000 Einwohner zählende Stadt, deren Bevölkerung durch den Zustrom von Flüchtlingen aus dem gesamten Gazastreifen auf weit über eine Million Menschen angewachsen ist, wurden Dutzende von Palästinensern getötet, darunter zahlreiche Frauen und Kinder.

Situation katastrophal

Nach Angaben des israelischen Militärs wurden bei dem nächtlichen Einsatz zwei Geiseln befreit. Es handelt sich um zwei Männer im Alter von 60 und 70 Jahren.

Währenddessen verschlechtert sich die humanitäre Lage dort, sie wird aufgrund der israelischen Belagerung nun als katastrophal eingeschätzt. Es wird berichtet, dass Patienten, medizinisches Personal und Vertriebene weder Lebensmittel noch Wasser, Medikamente oder medizinische Geräte hätten.

Nach Angaben des Gesundheitsministeriums von Gaza wurden bei den seit dem 7. Oktober andauernden israelischen Angriffen in Gaza rund 28.000 Palästinenser getötet und 67.459 verwundet. Tausende Einwohner werden zudem vermisst und unter den Trümmern vermutet.

Safe Zone so groß wie Flughafen Ben Gurion

Die renommierte Korrespondentin der israelischen Tageszeitung Haaretz, Amira Hass, fragt in einem aktuellen Artikel, wo denn die nach Rafah geflohenen Palästinenser noch Schutz finden sollen, wenn es zur Invasion kommt.

Ein israelischer Einmarsch in Rafah wird zu einem massenhaften, panikartigen Exodus von fast einer Million palästinensischer Zivilisten in eine ausgewiesene Sicherheitszone von der Größe des Ben-Gurion-Flughafens führen. Es ist immer noch unklar, wie das israelische Militär das mit der Anordnung des Internationalen Gerichtshofs vereinbaren will, dass Israel alle Maßnahmen ergreifen muss, um Völkermord zu vermeiden.

1,4 Millionen Menschen seien in Rafah konzentriert. Gleichzeitig verkleinere sich diese „Safe Zone“, die weiter von Israel bombardiert werde, immer mehr. Die einzige Sicherheitszone in Gaza, die noch übrig bleibe und nun für die Menschen in Rafah ausgewiesen wird, ist Al-Mawasi, ein südliches Küstengebiet von 16 Quadratkilometern Größe.

„Die von der Armee ausgewiesene humanitäre Zone ist etwa so groß wie der internationale Flughafen Ben-Gurion (ca. 16 Quadratkilometer)“, so die Haaretz-Journalisten Yarden Michaeli und Avi Scharf in ihrer Analyse. Der Bericht mit der Überschrift „Gazans Fled Their Homes. They Have Nowhere to Return to“ („Die Bewohner des Gazastreifens sind aus ihren Häusern geflohen. Sie können nirgendwohin zurückkehren“) dokumentiert die enormen Verwüstungen im Gazastreifen, wie sie auf Satellitenbildern zu sehen sind.

62.500 Menschen auf einem Quadratkilometer

Hass verweist darauf, dass, selbst wenn nur eine Million Palästinenser zum dritten und vierten Mal jetzt nach Al-Mawasi fliehen würden – ein Ort, der schon übervölkert ist –, dann würde die Dichte dort auf 62.500 Menschen pro Quadratkilometer ansteigen.

Das wird in einem offenen Gebiet geschehen, in dem es keine Hochhäuser gibt, die die Flüchtlinge beherbergen könnten, kein fließendes Wasser, keine Privatsphäre, keine Wohnmöglichkeiten, keine Krankenhäuser oder medizinischen Kliniken, keine Solarzellen zum Aufladen von Telefonen. Und das alles, während Hilfsorganisationen sich durch oder in der Nähe von Kampfgebieten bewegen müssen, um die geringen Mengen an Lebensmitteln zu verteilen, die in den Gazastreifen gelangen. Es scheint, als könnten in diesem winzigen Bereich die Menschen nur stehen oder knien, um Platz zu finden. Vielleicht wird es notwendig sein, spezielle Komitees zu bilden, die die Schlafplätze in Schichten festlegen: Einige Tausend legen sich hin, während der Rest wach bleibt. Das Summen der Drohnen über den Köpfen und die Schreie der Babys drum herum, die während des Krieges geboren wurden und deren Mütter keine oder nicht genug Milch haben – das wird der nervtötende Soundtrack sein.

Die Operation des israelischen Militärs werde über Wochen gehen müssen, wenn man bedenke, was in Gaza City und Chan Yunis vor sich ging.

Der Treck von Geschwächten, Kranken, Verängstigten und Verletzten auf die „Rettungsinsel“ werde Stunden dauern, auch wenn es nur vier Kilometer sind, ohne Kommunikationsmöglichkeiten und humanitäre Versorgung, ständig von Panik begleitet, so Hass, sollte das israelische Militär neue Order gebe, während Panzer stetig die medizinischen Einrichtungen umringen.

Katastrophe mit Ansage

Manche werden wie schon bei den vormaligen Evakuierungsanordnungen bleiben bzw. bleiben müssen. Sie sind dann nach israelischen Militärregeln keine „unschuldigen Zivilisten“ und „Unbeteiligte“ mehr.

Wer zum Beispiel, um Wasser zu besorgen, seine Unterkunft verlässt, wird zur Zielscheibe. Dabei würden die israelischen Soldaten im Einklang mit internationalem Recht agieren, sagt Hass, da man die Menschen vorher gewarnt hätte.

Nicht nur Hilfsorganisationen warnen eindringlich vor der Invasion. Die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock sagte auf der X (vormals Twitter): „Eine Offensive der israelischen Armee auf Rafah wäre eine humanitäre Katastrophe mit Ansage.“ Auch der Sprecher des Nationalen Sicherheitsrats in den USA, John Kirby, äußerte Bedenken: „Wir glauben, dass eine Militäroperation zum jetzigen Zeitpunkt eine Katastrophe für diese Menschen wäre“.

Ägypten droht mit Ausstieg aus Friedensvertrag

Doch solche Ermahnungen westlicher Unterstützerstaaten hat es in Israels Krieg gegen Gaza (und auch bei früheren Militäroffensiven Israels) immer wieder gegeben, während insbesondere Washington bedingungslos Waffen an Israel lieferte (das könnte sich aufgrund internen Drucks ein wenig ändern), die Netanjahu-Regierung keine Sanktionierungen erhält, während die Biden-Regierung die große Mehrheit der Staaten, die in den UN einen Waffenstillstand fordert, mit einem Veto im Sicherheitsrat gleich zweimal überstimmte.

Israelische Analysten haben der New York Times gesagt, dass ein Einmarsch eher nicht in nächster Zeit stattfinden wird, aufgrund der Evakuierungsanstrengungen. Aber es könnte auch noch ein anderer Faktor hineinspielen, der Netanjahu zögern lässt.

Nach Medienberichten soll Ägypten nämlich damit gedroht haben, den Friedensvertrag, das sogenannte Camp-David-Abkommen mit Israel, auszusetzen (der Vertrag wurde 1979 geschlossen und stabilisierte das Verhältnis der beiden Staaten), falls Truppen nach Rafah entsandt würden. Kairo befürchtet, dass dadurch die Palästinenser auf die Sinai-Halbinsel getrieben würden und der Rafah-Übergang, eine wichtige Versorgungsroute in den Gazastreifen, geschlossen werden müsste.

Hinterlasse jetzt einen Kommentar

Kommentar hinterlassen

Entdecke mehr von Sicht vom Hochblauen

Jetzt abonnieren, um weiterzulesen und auf das gesamte Archiv zuzugreifen.

Weiterlesen