Terroranschlag in Moskauer Konzerthalle: Warum Vorsicht bei Täter-Spekulationen geboten ist David Goeßmann

Dank an David Goeßmann für die Genehmigung der Veröffentlichung seines neuen Telepolis Artikel. Evelyn Hecht-Galinski

Terroranschlag in Moskauer Konzerthalle: Warum Vorsicht bei Täter-Spekulationen geboten ist

Weit über hundert Menschen tot, über hundert verletzt. Ein Inferno. Trotz Isis-Bekennerschreiben wird über andere Täter spekuliert. Ein Spiel mit dem Feuer.

Terroranschlag in Moskauer Konzerthalle: Warum Vorsicht bei Täter-Spekulationen geboten ist

Die Moskauer Konzerthalle Crocus City Hall in Brand. Bild: Screenshot

Weit über hundert Menschen tot, über hundert verletzt. Ein Inferno. Trotz Isis-Bekennerschreiben wird über andere Täter spekuliert. Ein Spiel mit dem Feuer.

So viel ist klar: Bei dem schwersten Terroranschlag in Russland seit Jahren wurden gestern Abend mindestens 133 Menschen getötet [1] und 107 verletzt, als bewaffnete Männer in militärischer Ausrüstung in einer großen Konzerthalle am Stadtrand von Moskau, der Crocus City Hall, das Feuer eröffneten und Sprengstoff zündeten [2].

Schreie und Panik

Die staatliche Nachrichtenagentur Ria [3] zitierte einen Sprecher einer Kommission, die die Ermittlungen aufgenommen hat, dass die Zahl der Todesopfer noch steigen könne.

Videos, die auf Social Media geteilt wurden, zeigen schlimme Szenen und hilflose Menschen. Panik brach aus im mit 6.200 Besuchern voll besetzten Saal, während wohl vier Angreifer begannen, Besucher der Konzerthalle zu erschießen. Überlebende Augenzeugen sprechen davon, dass die Menschen schrien und versuchten, wegzurennen.

Update:

In seiner Rede an die Nation erklärte [4] der russische Präsident Wladimir Putin nun:

„Alle vier unmittelbaren Täter des Terroranschlags, alle, die Menschen erschossen und getötet haben, wurden gefunden und festgenommen. Sie versuchten, sich zu verstecken und bewegten sich in Richtung Ukraine, wo nach vorläufigen Angaben auf ukrainischer Seite eine Möglichkeit zum Überschreiten der Staatsgrenze für sie vorbereitet wurde. Insgesamt wurden elf Personen festgenommen.

Der Inlandsgeheimdienst der Russischen Föderation und andere Strafverfolgungsbehörden arbeiten daran, die gesamte Komplizenschaft der Terroristen zu ermitteln und aufzudecken: diejenigen, die ihnen Transportmittel zur Verfügung stellten, Fluchtwege vom Tatort skizzierten, Verstecke vorbereiteten und Waffen und Munition lagerten.“

Die Angreifer zündeten auch Sprengsätze, die ein riesiges Feuer entfachten, das zeitweise bis zu 12.900 Quadratmeter umfasste, wie die russische Nachrichtenagentur Interfax berichtet [5].

Es wurden Hubschrauber eingesetzt, um die Flammen aus der Luft zu löschen, während die Feuerwehrleute den Brand vom Boden aus bekämpften. Das Feuer wurde schließlich am frühen Samstag unter Kontrolle gebracht.

Bekennerschreiben

Russische Ermittler veröffentlichten zugleich Bilder von einer automatischen Kalaschnikow, Westen mit mehreren Ersatzmagazinen und Säcken mit verbrauchten Patronenhülsen.

Lange blieb unklar, wer die Angreifer gewesen sind, von denen zumindest einige laut Berichten nach der Tat entkommen konnten. Nach Angaben von Interfax unter Berufung auf den Kreml sollen elf Menschen festgenommen worden sein [6]. Vier von ihnen stehen im Verdacht, direkt in den Angriff verwickelt gewesen zu sein. Sie sollen auf der Flucht in der russischen Region Brjansk erfasst worden sein. Es handelt sich laut Medienberichten um tadschikische Staatsangehörige.

Der Islamische Staat in der Provinz Chorasan (ISKP), ein afghanischer Ableger des Isil (Isis), bekannte sich in einer von seiner Nachrichtenagentur Amaq veröffentlichten Erklärung [7] zu dem Anschlag.

Demnach hätten ihre Kämpfer am Stadtrand von Moskau angegriffen, „Hunderte von Menschen getötet und verwundet und große Zerstörungen angerichtet, bevor sie sich sicher in ihre Stützpunkte zurückzogen“ und dann entkamen.

Isis richtet Fokus auf Putin

Russland meldete in diesem Monat mehrere Vorfälle mit Isil-Beteiligung, wobei der Geheimdienst FSB am 7. März erklärte, er habe einen Anschlag der ISKP auf eine Moskauer Synagoge vereitelt.

Auch die USA hatten vor einer erhöhten Bedrohung durch „Extremisten“ gewarnt [8], die einen Anschlag auf „große Versammlungen“ in Moskau planten, und diese Erkenntnis mit den Russen geteilt. Am Freitagabend erklärte ein US-Beamter, Washington verfüge über nachrichtendienstliche Erkenntnisse, die das Bekenntnis des Isil zu dem Anschlag auf die Moskauer Konzerthalle bestätigten.

Terrorexperten wie Peter Neumann vom King’s College in London [9] oder Wassim Nasr vom Soufan Center [10], einer in Washington ansässigen Forschungsgruppe, halten das Bekennerschreiben für echt. Das Portal The Insider berichtet zudem [11], dass die Kleidung, die zwei verdächtige Personen bei der Befragung durch russische Sicherheitskräfte trugen, auch auf dem IS-Foto zu erkennen sei, das über Amaq im Laufe des Tages veröffentlicht wurde und die vier mutmaßlichen Terroristen zeigen soll.

Experten zufolge hat sich die Gruppe in den letzten Jahren gegen den russischen Präsidenten Wladimir Putin gestellt. „Isis-K [ISKP] hat sich in den letzten zwei Jahren auf Russland fixiert und Putin in seiner Propaganda häufig kritisiert“, sagte Colin Clarke [12] ebenfalls vom Soufan Center.

Behauptung: USA und Ukraine stecken dahinter

Michael Kugelman vom Wilson Center in Washington D.C. sagte, dass ISKP „Russland als Komplize bei Aktivitäten sieht, die regelmäßig Muslime unterdrücken“. Im Oktober 2015 explodierte [13] eine von der Isil platzierte Bombe in einem russischen Passagierflugzeug über dem Sinai und tötete alle 224 Menschen an Bord, die meisten von ihnen Russen, die aus ihrem Urlaub in Ägypten zurückkehrten.

Die russischen Behörden hatten vor Kurzem auch eine Reihe von Razzien gegen bewaffnete islamistische Kämpfer in der Region Inguschetien durchgeführt [14], die zu Feuergefechten zwischen der Polizei und den Kämpfern führten.

Währenddessen zirkulieren Spekulationen, dass hinter dem Anschlag die Ukraine oder gar die USA stecken könnten. Obwohl der Kreml sich bisher nicht dazu geäußert hat, verwiesen russische Vertreter und Abgeordnete auf Kiew.

Dmitri Medwedew, der ehemalige Präsident Russlands und jetzige stellvertretende Vorsitzende des russischen Sicherheitsrates, schrieb [15]: „Wenn feststeht, dass es sich um Terroristen des Kiewer Regimes handelt, wird es nicht möglich sein, sie und diejenigen, die sie inspiriert haben, anders zu behandeln.“

Sie alle sollten gefunden und unerbittlich als Terroristen vernichtet werden. Einschließlich der Beamten des Staates, der so etwas Böses getan hat. Tod für Tod.

Moskau: USA trainieren Isis-Kämpfer für Terrorakte in Russland

Ukrainische Regierungsvertreter haben erklärt, dass man keinerlei Verbindung zu dem Anschlag habe. „Die Ukraine hat ganz sicher nichts mit den Schüssen/Explosionen im Crocus Theater (Region Moskau, Russland) zu tun. Das ergibt überhaupt keinen Sinn“, sagte Mykhailo Podolyak, ein Berater der ukrainischen Präsidialverwaltung.

„Die Ukraine hat nie zu terroristischen Methoden gegriffen“, sagte er. „Solche Taten sind immer sinnlos.“

Auch in Richtung Washington gibt es Verdächtigungen, die jedoch auf die sozialen Medien beschränkt sind. Dort wird insinuiert, dass die USA hinter dem Anschlag stecken würden.

Diese Spekulation kann sich durchaus auf Anschuldigungen von Moskau stützen. Russland behauptet [16] seit geraumer Zeit, dass die USA Isis gegen Russland in Stellung bringen. Im Mai letzten Jahres sagte der Chef des russischen Auslandsgeheimdienstes, Sergey Naryshkin, dass die US-Militärbasis Al-Tanf an der Grenze zwischen Syrien, Jordanien und Irak für die Ausbildung von Terroristen von Daesh/Isis genutzt wird, um Terroranschläge in Syrien und Russland zu verüben.

Gefährliche Spekulationen

Doch dafür, dass die Ukraine oder gar die USA hinter dem Anschlag auf die Moskauer Konzerthalle stecken, gibt es bisher keine Hinweise, Indizien oder gar Beweise, die vorgelegt wurden. Es sind zudem gefährliche Spekulationen, die Öl ins Feuer gießen in einer an sich schon extrem angespannten geopolitischen Konfrontationslage.

Sicherlich ist es so, dass die Ukraine in Reaktion auf die russische Aggression begonnen hat, auch vereinzelt Angriffe auf russisches Territorium auszuführen. Jüngst waren es vergeltende Bombardierungen [17] auf russische Ölraffinerien und Strominfrastrukturen mittels Drohnenangriffen. Aber ein Terrorangriff auf Theaterbesucher mit toten Kindern ist eine ganz andere Kategorie.

Damit würde Kiew das Risiko eingehen, jegliche internationale Unterstützung zu verlieren (wenn eine Beteiligung festgestellt werden würde), wobei diejenigen, die darin involviert gewesen sind, zur Rechenschaft gezogen würden.

Für die USA wären die Folgen noch dramatischer. Sollte Moskau nur zu der Überzeugung kommen, dass Washington dahintersteckt, wäre es sehr wahrscheinlich, dass man das als Kriegserklärung ansieht und dementsprechend darauf reagieren würde. Willkommen im Dritten Weltkrieg und einem möglichen nuklearen Armageddon.

Bitte keine weitere Eskalation

Aber abseits der Frage, warum die USA Russland vor möglichen Anschlägen warnten, stellt sich eine weitere: Warum ein Terrorangriff gegen Zivilisten in einer Konzerthalle, was, wenn es herauskäme (wie gesagt, absolut realistisch), die USA zum Paria der Weltgemeinschaft machen würde, während der Rest an Glaubwürdigkeit Washingtons dahin wäre? Warum wählte man nicht zumindest ein politisch-militärisches Ziel?

Fest steht: Bisher wissen wir sehr wenig, was kurz nach der Tat nicht verwundert. Man sollte sich mit Spekulationen zurückhalten, die Indizienlage anschauen sowie Plausibilität und Motivlagen beachten.

Denn Eskalationspotenziale zwischen Russland und der Ukraine, Russland und den Vereinigten Staaten gibt es im Übermaß. Einen weiteren Treiber, der zudem vollkommen unnötig ist, braucht es nun wirklich nicht.


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Links in diesem Artikel:
[1] https://www.theguardian.com/world/live/2024/mar/23/moscow-concert-attack-crocus-city-hall-shooting-russia-live-updates
[2] https://www.tagesschau.de/ausland/europa/schusswaffenangriff-moskau-102.html
[3] https://ria.ru/
[4] https://www.politico.eu/article/vladimir-putin-ukraine-moscow-concert-hall-terrorist-attack-russia/
[5] https://www.aljazeera.com/news/2024/3/23/moscow-concert-hall-attack-what-do-we-know-so-far
[6] https://www.tagesschau.de/ausland/europa/anschlag-moskau-festnahmen-100.html
[7] https://twitter.com/SimNasr/status/1771285574445383846
[8] https://www.theguardian.com/world/2024/mar/22/moscow-concert-hall-shooting-blast
[9] https://www.spiegel.de/ausland/russland-zweifel-an-is-bekennerschreiben-nach-anschlag-bei-moskau-a-0a7784bf-af32-4340-adfa-6c000cc5a501
[10] https://twitter.com/SimNasr
[11] https://theins.ru/news/270191
[12] https://www.theguardian.com/world/2024/mar/23/theres-little-reason-to-doubt-attack-on-moscow-venue-was-by-islamic-state
[13] https://www.aljazeera.com/news/2015/11/17/russia-says-plane-in-egypts-sinai-brought-down-by-bomb
[14] https://www.theguardian.com/world/2024/mar/22/moscow-concert-hall-shooting-blast
[15] https://www.theguardian.com/world/2024/mar/22/moscow-concert-hall-shooting-blast
[16] https://www.aa.com.tr/en/world/russian-intelligence-chief-accuses-us-of-training-daesh-isis-in-syria-for-attacks-in-russia/2905078
[17] https://www.theguardian.com/world/2024/mar/17/ukraine-oil-electricity-drone-attacks-russia

1 Kommentar zu Terroranschlag in Moskauer Konzerthalle: Warum Vorsicht bei Täter-Spekulationen geboten ist David Goeßmann

  1. Fest steht aber, dass die Attentäter zur ukrainischen Grenze flüchteten. Und ohne Hilfe nicht in die Ukraine hätten gelangen können. Da russische Soldaten dabei nahezu auszuschließen sind, bleiben eigentlich nur ukrainische übrig. Es mussten Soldaten sein, denn nur die kennen die Minenfelder. Wobei es auch sein könnte, dass man ďie Männer in Minenfelder lenken wollte, um Spuren zu verwischen. Auch daran hätte die Ukraine wohl das größte Interesse.Auch Nachrichten von der Bezahlung passen eher zu einem Geheimdienst als zum IS. Auch von Allah Akba -Rufen ist nichts bekannt geworden, die für Islamisten typisch sind. Das sind nur ein paar Gründe, warum die ukrainische Spur definitiv weiterverfolgt werden sollte.

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