8.697 tote Kinder in Gaza – „Hetze gegen Israel“?
Tag für Tag wird die Grenze des Erlaubten enger gezogen. Augenblicklich sind es israelische Bomben, die dabei den Takt vorgeben. Eine Hamburger Politikerin macht gerade die Erfahrung, dass man nicht einmal mehr aussprechen darf, was diese Bomben anrichten.
8.697 tote Kinder in Gaza – „Hetze gegen Israel“?
Von Dagmar Henn
Von Dagmar Henn
Dass die Atmosphäre in Hamburg besonders eigenartig ist, zeigte sich schon an der Berichterstattung über das Urteil des Verwaltungsgerichts zu propalästinensischen Demonstrationen. Aber nun wurde das noch deutlich übertroffen. Ziel ist diesmal die türkischstämmige Politikerin Nebahat Güçlü und Auslöser der Artikelflut ist ein Post auf Facebook.
Die Bild schreibt von einem „Skandal-Beitrag gegen Israel“, die BZ titelt „SPD-Politikerin hetzt gegen Israel“, und auch die Hamburger Morgenpost – eine SPD-Postille, nebenbei – kommentiert das ehemalige Mitglied mit „Hamburger SPD-Politikerin wirft Israel ‚Kriegsverbrechen‘ vor“.
Jetzt steht Güçlü damit mitnichten allein. Man muss nur lesen, was UN-Generalsekretär Guterres zuletzt so geschrieben hat, oder wahrnehmen, dass zuletzt, als im UN-Sicherheitsrat die nächste, bereits die dritte Resolution, die eine Waffenruhe für Gaza fordert, abgestimmt wurde, nur noch die USA dagegen stimmten. Mehr noch, der UN-Botschafter der Vereinigten Arabischen Emirate, die diesmal die Resolution eingebracht haben, erklärte, dass der Entwurf binnen 24 Stunden von 95 Staaten unterstützt worden sei.
Aber was ist die Welt gegen Berlin oder Hamburg? Güçlü jedenfalls erhält das volle Programm – ihr werden „fragwürdige Äußerungen“ und „zweifelhafte Auftritte“ angekreidet und der letzte Facebook-Post sei „Anti-Israel-Propaganda“. Warum? Weil in diesem Post ein einziger Satz steht: „Israel hat in 60 Tagen in Gaza 8.697 Kinder getötet.“
Güçlü war bis 2015 Mitglied der Grünen. Dann trat sie dort aus, als man ihr einen Auftritt bei einer türkischen Vereinigung vorwarf, die den „Grauen Wölfen“ zugerechnet wird. Was in diesem Zusammenhang unterschlagen wird: Von 2012 bis 2017 war sie Vorsitzende der Türkischen Gemeinde. Da gehört es zur Aufgabe, auch Veranstaltungen aufzusuchen, mit denen man inhaltlich nichts zu tun hat. Diese ganze Geschichte erinnert an die üblichen Kontaktschuldvorwürfe, und innerhalb der Grünen gehört so etwas zum grundlegenden Intrigenrüstzeug; vermutlich stand die langjährige Migrationsberaterin schlicht jemandem im Weg. Interessanterweise ist einer der Konfliktpunkte, die sie mit ihrer damaligen Partei gehabt haben dürfte, die Position zur Ukraine.
Im Jahr 2018 trat sie dann in die SPD ein, die sie vor einigen Wochen wieder verließ. Ihre Austrittsbegründung hat sie auf Facebook veröffentlicht. Dabei ist ihre Haltung sowohl beim Thema Ukraine als auch im Zusammenhang mit Gaza vorsichtig: Sie kritisiert, dass die Waffenlieferungen an die Ukraine nur weiteres Elend erzeugen, und sie hätte von der Bundesregierung Kritik an den israelischen Bombardements erwartet, aber sie unterzeichne sowohl den „russischen Angriffskrieg“ als auch, dass Israel „das Recht“ habe, „sich zu verteidigen“.
„Doch die seit mehr als sieben Wochen andauernde Bombardierung des Gazastreifens ist unverhältnismäßig und ein Kriegsverbrechen gegen die Menschlichkeit!“
Auf der globalen Skala eine durchaus gemäßigte Position. Und es ist mitnichten so, dass irgendjemand noch glaubwürdig abstreiten könnte, dass die israelischen Bombenangriffe Kinder töten, zu Tausenden. Selbst die Zahl derer, die man in den vielen kursierenden Videos selbst nachzählen kann, beträgt schon mehrere Hundert. So drückt sich die Hamburger Morgenpost um die Anerkennung der Wirklichkeit:
„Die Bevölkerung dort wird von den Terroristen als menschliche Schutzschilde missbraucht. Auch so ist zu erklären, dass bei den israelischen Gegenschlägen gegen die Terrororganisation bisher rund 15.000 Menschen gestorben sein sollen – auch unschuldige Zivilisten.“
„Auch unschuldige Zivilisten“ ist eine gehörige Untertreibung. Es gibt genügend Aufnahmen der Einschläge israelischer Bomben in Wohnhäusern, in bewohnten Wohnhäusern. Vorletzte Woche gab es ein Video, in dem eine Journalistin gerade live berichtete, als hinter ihr eine Bombe in dem Haus einschlug, in dem ihre Familie lebte. Das hat nichts damit zu tun, dass die Hamas „menschliche Schutzschilde“ verwendet, das ist schlichter, direkter, menschenverachtender Terror gegen die Zivilbevölkerung. Genau deshalb wendet sich die Stimmung international nicht nur gegen Israel, sondern auch gegen die Vereinigten Staaten. Schließlich sind es zu einem guten Teil US-Bomben, die die palästinensischen Häuser zerstören und die Kinder töten. Und sie werden weiterhin täglich geliefert.
Interessanterweise hat Güçlü ihre Austrittserklärung erst veröffentlicht, als in der Presse die Forderung auftauchte, man solle sie aus der SPD werfen. Das bedeutet, die ehemalige Bürgerschaftsabgeordnete wurde tatsächlich einzig wegen der Zahl der toten palästinensischen Kinder attackiert. Als der erste Schlamm flog, war diese Erklärung noch gar nicht öffentlich.
Wie bizarr diese Angriffe sind, belegt der Artikel der Bild:
„Bei Facebook schwurbelte sie anlässlich der israelischen Angriffe zur Befreiung von Geiseln auf die Terroristen der Hamas in Gaza: Israel habe in nur 60 Tagen 8697 Kinder getötet. Eine Lüge – damit verbreitet sie lupenreine Propaganda der Terror-Organisation.“
Nein, tat sie nicht. Auch die UN akzeptiert diese Zahlen. Kein Wunder, schließlich sind genügend UN-Mitarbeiter in Gaza anwesend. Inzwischen sind schon über hundert davon bei den israelischen Angriffen ums Leben gekommen, die auch gegen UN-Einrichtungen gerichtet waren. Einzig und allein die israelische Propaganda versucht, diese Zahlen herunterzuspielen, dabei sind sie aller Wahrscheinlichkeit nach zu niedrig. Zum einen ist die Verwaltung in Gaza inzwischen so weit zerstört, dass es schwierig wird, Zahlen zu sammeln, und zum anderen fehlen all die Vermissten, die noch immer unter den Trümmern der Häuser begraben liegen.
Nicht einmal mehr in Großbritannien wird der US-amerikanische Kurs zu Israel derart fanatisch befolgt wie in Deutschland (die Briten haben sich im UN-Sicherheitsrat enthalten). Ohne jede Wahrnehmung dafür, wie sehr das Land damit dem Hegemon in die Isolation folgt. Ohne jede Bereitschaft, die Wirklichkeit auch nur wahrzunehmen. In keinem der Artikel, die Güçlü zur Unperson machen sollen, wird behauptet, dass keine Kinder bei diesen Bombardements getötet worden seien. Und wenngleich es nur halb so viele wären, wäre es dann in Ordnung? Wäre es dann kein Kriegsverbrechen mehr? Wäre es dann nicht immer noch geboten, mit allen Kräften darauf zu dringen, dass dieses Gemetzel endet?
Es mag den Granden der Hamburger SPD (zu denen nach wie vor auch Bundeskanzler Olaf Scholz gezählt werden muss) und dem Parteigeheimdienst der Grünen ein momentanes Hoch verschaffen, auf eine Politikerin wie Güçlü einzuprügeln. Aber eines Tages, in nicht allzu ferner Zeit, werden sie alle erkennen müssen, dass sie sich vollständig an den Rand manövriert und dafür gesorgt haben, dass dieses Deutschland nur noch einen einzigen Freund auf diesem Planeten besitzt – die Vereinigten Staaten, um die herum es täglich einsamer wird (sofern man ein Land, das lebenswichtige Infrastruktur wegbombt, einen Freund nennen kann). Und vielleicht noch Israel, falls dieses unter Ministerpräsident Benjamin Netanjahu überhaupt so etwas wie Freunde kennt. Nun, dann kann man zumindest das Auswärtige Amt schließen und der Welt Besuche von Außenministerin Annalena Baerbock ersparen.
Mehr zum Thema – Seltener Schritt: Guterres ruft wegen Gaza-Konflikt „Globale Sicherheitsbedrohung“ aus
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