Der Globale Süden stellt sich zunehmend gegen westliche Heuchelei – zu Recht von David Goeßmann

Dank an David Goeßmann für die Zusendung und Genehmigung der Veröffentlichung. Evelyn Hecht-Galinski

Selenskyj in Davos: Auf dem Weg ins Nirgendwo

Seine Rede wurde gefeiert. Doch die Zukunft für die Ukraine ist düster. Warum eine Kompromisslösung mit Russland jetzt vernünftig wäre. Kommentar.

Der Globale Süden stellt sich zunehmend gegen westliche Heuchelei – zu Recht

Protest vor dem Weißen Haus in Washington D.C., der während des Gaza-Kriegs ein Ende der Okkupation durch Israel fordert. Bild: Ted Eytan / CC BY-SA 2.0 Deed

China zeigt Selenskyj in Davos die kalte Schulter. Südafrika reicht gegen Israel eine Genozid-Klage ein. Wenn Moral und Macht multipolar werden. Kommentar.

Beim Treffen der Mächtigen und Reichen beim Weltwirtschaftsgipfel in Davos hielt der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj am Montag eine Rede. Er forderte die Staaten der Welt auf, die Ukraine weiter mit Rüstungsgütern zu unterstützen.

Raubtier-Rhetorik

Die Aufforderung war natürlich vor allem an den Westen gerichtet, an die USA und die EU-Staaten. Sie sind es, die seit fast zwei Jahren große Mengen an Waffen an Kiew liefern, um damit die von Russland militärisch gehaltenen Gebiete (Donbass, Krim) zurückzuerobern.

Für die Rede erhielt Selenskyj stehende Ovationen, die EU-Kommissionspräsident Ursula von der Leyen verkündete, ein Paket im Wert von 50 Milliarden Euro über vier Jahre für die Ukraine auch ohne Zustimmung Ungarns zu genehmigen.

Selenskyj nannte Putin ein „Raubtier“, das sich nicht mit „Tiefgefrorenem“ (sprich einem Waffenstillstand, um die Situation „einzufrieren“) zufriedenstelle, obwohl der russische Präsident signalisiert hat, dass er offen für einen Waffenstillstand sei.

Selenskyj braucht „Rest der Welt“

Selenskyj warb zudem erneut für seinen 10-Punkte-Friedensplan. Darin wird Russland u.a. aufgefordert, sich von allen ukrainischen Gebieten zurückzuziehen, während russische Offizielle wegen Kriegsverbrechen angeklagt werden sollen.

Die New York Times berichtete am Dienstag: „Diese Forderungen werden von Analysten und sogar von Politikern, die den Vorschlag unterstützen, angesichts des derzeitigen Kräfteverhältnisses auf dem Schlachtfeld als unerreichbar angesehen“.

Selenskyj weiß, dass er für seinen Plan nicht nur die Unterstützung der westlichen Staaten braucht. Denn der „Rest der Welt“ ist geopolitisch immer relevanter geworden, insbesondere, weil die Länder des sogenannten Globalen Südens wirtschaftlich an Einfluss gewonnen haben.

Die wirtschaftliche Macht der Brics-Staaten

So vereinen die Brics-Staaten heute 30 Prozent der globalen Wirtschaftsleistung auf sich, die der G7 liegt darunter – und die Tendenz läuft gegen USA, Deutschland, Japan und Co.

Daher betont der ukrainische Präsident in Davos, dass es ihm wichtig sei, dass Vertreter aus China und dem Globalen Süden an einem geplanten Ukraine-Gipfel teilnehmen, bei dem er für den Friedensplan eine internationale Allianz schmieden möchte. „Wir würden es sehr begrüßen, wenn China an unserer [Friedens-]Formel und an dem Gipfel beteiligt wäre“, sagte er laut Reuters.

Doch die Regierungsvertreter aus Beijing (Peking) hätten der Ukraine in Davos die kalte Schulter gezeigt. Das berichtet jedenfalls Politico:

Chinas Entscheidung, sich nicht mit den Ukrainern zu treffen, schien beabsichtigt und nicht das Ergebnis eines Terminproblems zu sein. Ein hochrangiger US-Beamter sagte, Beijing habe die Bitte Kiews um ein Treffen zu einem bestimmten Zeitpunkt während der gegenseitigen Besuche in der Schweiz abgelehnt. Ein anderer leitender US-Offizieller sagte, China habe jegliche Treffen abgelehnt, nachdem Russland das Land aufgefordert habe, diplomatische Begegnungen mit der Ukraine zu beenden.

Unterschiedliche Interessen

Dieser Zwischenfall zeigt aber keineswegs, dass China – und in weiterem Sinn andere Länder wie Brasilien oder Südafrika – die Position der Ukraine nicht nachvollziehen können oder die russische Aggression gutheißen.

Die kalte Schulter Beijings demonstriert vielmehr, dass man in großen Teilen Asiens, Afrikas und Lateinamerikas versteht, dass es sich beim Ukraine-Krieg und -Konflikt um einen Stellvertreterkrieg handelt – provoziert und am Laufen gehalten durch die von den USA forcierten Nato-Ausdehnungsbestrebungen bis an die russischen Grenzen einschließlich Ukraine und Georgien, die von Moskau als roten Linien angesehen werden –, bei dem Washington und seine Verbündeten geopolitische Interessen verfolgen, während internationales Recht und Moral eine untergeordnete Rolle spielen.

Und man sieht sehr klar, dass die Interessen des Westens keineswegs deckungsgleich mit denen des Globalen Südens sind. Die stärksten Auswirkungen der Sanktionen werden beispielsweise von den ärmsten Ländern geschultert, in Form von steigenden Energie- und Lebensmittelpreisen.

Sicherlich haben die Entwicklungsländer schon früher nicht an die Werte-Mission der Supermacht USA und der Nato geglaubt, die immer wieder eigene Kriege, Invasionen und unfaire Handelsregime bzw. die ihrer Partner als globalen Kampf um Frieden, Demokratie, Freiheit, globale Ordnung und Prosperität für alle verkauft haben.

Globaler Süden verlässt die Seitenlinie

Man wusste zum Beispiel sehr wohl: Der „Krieg gegen den Terror“, den die Vereinigten Staaten unter Präsident Bush 2001 starteten und bis heute im arabischen und afrikanischen Raum fortsetzen, wurde nicht, wie vom Weißen Haus proklamiert, vom „kollektiven Willen der Welt“ durchgeführt, um die globale Friedensordnung wiederherzustellen.

Vielmehr agierte das westliche Bündnis auf eigene Rechnung, Werte dabei mit Füßen tretend und gleichgültig gegenüber den Interessen und Bedürfnissen des „Rests der Welt“, wenn nicht gegen sie gerichtet.

Aber es stimmt auch, dass viele Staaten im Süden sich den Anordnungen und Befehlen aus Washington fügten oder sich an die Seitenlinie stellten, weil sie nicht die Missgunst der Vereinigten Staaten auf sich ziehen wollten.

Das hat sich geändert. Nicht nur, was den Ukraine-Krieg angeht, bei dem viele Länder, darunter China und Indien, trotz des US- und EU-Sanktionsregimes weiter und sogar vermehrt mit Russland handeln, während Brasilien unter Präsident Lula selbstbewusst verkündet, Putin zu globalen Treffen (Brics und G20) dieses Jahr einzuladen.

Gaza-Krieg

Auch beim anderen Krisenherd lässt sich „ungehorsames“ Verhalten im Globalen Süden erkennen.

Während die USA und EU Israels Gaza-Krieg weiter als Selbstverteidigung unterstützen und die Netanjahu-Regierung mit Waffen dafür versorgen, fordert die überwältigende Mehrheit der Staaten in der UN-Generalversammlung nicht nur einen Waffenstillstand – was die USA im UN-Sicherheitsrat mit ihrer Veto-Macht blockieren –, sondern einige von ihnen gehen zum ersten Mal auch in die juristische Offensive.

So hat Südafrika eine Völkermord-Klage gegen Israel am Internationalen Gerichtshof der Vereinten Nationen in Den Haag (IGH) eingereicht. Unterstützt wird die Klage von der Organisation für Islamische Zusammenarbeit (OIC), eine Gruppe von 57 Ländern, darunter Saudi-Arabien, Iran, Pakistan und Marokko.

Washington und Tel Aviv unter Druck

Zu den Unterstützern Südafrikas vor dem IGH kommen Malaysia, die Türkei, Jordanien, Bolivien, die Malediven, Namibia und Pakistan. Auch die aus 22 Staaten bestehende Arabische Liga hat sich hinter die Klage gestellt. Außerdem haben sich dem Hunderte zivilgesellschaftliche Gruppen, Gewerkschaften und Nichtregierungsorganisationen weltweit angeschlossen.

Das hat in Washington und Tel Aviv Alarm ausgelöst. Israel hat in der Vergangenheit internationale Gerichtshöfe und UN-Untersuchungen meist schlicht boykottiert, weil es sie als unfair und parteiisch ansieht. Aber in diesem Fall nahm man zum ersten Mal an der Anhörung teil und schickte ein hochrangiges juristisches Team, um sich gegen die Anschuldigungen des Völkermords zu verteidigen.

Deutschland hat erklärt, Israel bei der IGH-Klage zur Seite zu stehen. Das hat wiederum scharfe Kritik hervorgerufen. Wie Telepolis berichtete, verurteilte u.a. die namibische Regierung diesen Schritt und verwies auf den Massenmord an Mitgliedern der Volksgruppen der Herero und Nama durch Deutschland zwischen 1904 und 1908.

So geht es nicht weiter

Zeitgleich riefen Südafrika, Bangladesch, Bolivien, die Komoren und Dschibuti den Internationalen Strafgerichtshof (zu unterscheiden vom Internationalen Gerichtshof der UN. Der IStGH verfolgt Individuen und nicht Staaten.) auf, mögliche Verbrechen im Gaza-Israel-Krieg zu untersuchen. Dem Aufruf haben sich nun auch Mexiko und Chile angeschlossen.

Drei Palästinenserrechtsgruppen haben bereits Klage beim IStGH eingereicht, in der sie das Gremium auffordern, gegen Israel wegen „Apartheid“ und „Völkermord“ zu ermitteln und Haftbefehle gegen führende israelische Politiker zu erlassen.

Was mehr und mehr Länder des Globalen Südens damit immer deutlicher sagen und in Taten ausdrücken, ist, dass der Westen unter Führung der Vereinigten Staaten so nicht weitermachen kann und darf.

Gleicher Maßstab

Sie erklären: Wenn Gewalt und Krieg verboten sind, dann muss das gleichermaßen für alle gelten, nicht nur, wenn die USA und die mit ihnen verbündeten Nato-Staaten es sagen. Und die Lösung von Konflikten muss fair ausgestaltet sein, sie setzt Verhandlungen und Diplomatie voraus, die die Sicherheitsinteressen aller beteiligten Akteure einbezieht.

China, Brasilien, Südafrika und viele andere Länder außerhalb des elitären Clubs der reichen Industriestaaten G7 können heute zudem Alternativen bieten und Bestrafungsdruck widerstehen. Der Fall der Russland-Sanktionen ist ein Beispiel dafür.

Das weiß auch die Ukraine. Daher wirbt Selenskyj für seinen Friedensplan auf der ganzen Welt. Er weiß, dass er den Globalen Süden braucht. Aus gleichem Grund schickt Israel ein hochkarätiges Rechtsteam nach Den Haag, um den „Rest der Welt“ zumindest zu beruhigen.

Verfallsdatum für westliche Erzählungen überschritten?

Und letztlich verstehen auch die Huthi die Absetzbewegungen, die moralischen Konfrontationen und die Chancen, die in den Rissen schlummern.

So verkündete die Miliz, die Israel mit Angriffen auf die Schifffahrt vor der Küste Jemens unter Druck setzen will und einen Waffenstillstand im Gaza-Krieg fordert, dass chinesische und russische Schiffe eine sichere Durchfahrt durchs Rote Meer erhalten, während sie US-Schiffe angreifen. Sie versuchen sehr bewusst, einen Keil in die geopolitische Frontstellung zu treiben.

Und der Westen? Die Regierungen und Medien in den wohlhabenden Industriestaaten scheinen weiter davon auszugehen, dass der „Rest der Welt“ ihre moralischen Erzählungen vom guten und schlechten Krieg sowie vom Nutzen westlicher Großzügigkeit zum Gradmesser des Handelns machen wird.

Doch diese Erzählungen haben ein Verfallsdatum. Es könnte sein, dass es schon überschritten ist.

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