Der israelische Teufelskreis Moshe Zuckermann Overton

Dank an Moshe Zuckermann für die Genehmigung seinen neuen Overton Artikel auf der Hochblauen Seite zu veröffentlichen. Evelyn Hecht-Galinski

Der israelische Teufelskreis

Unterschiedliche Diskurse durchwirken die politisch-soziale Realität Israels. Sie ergeben zusammen das Bild gesteigerten Verfalls

Der israelische Teufelskreis

Mimisterpräsident Netanjahu mit IDF-Rekruten: „We will complete the elimination of Hamas’s battalions, including in Rafah. No force in the world will stop us.“

Unterschiedliche Diskurse durchwirken die politisch-soziale Realität Israels. Sie ergeben zusammen das Bild gesteigerten Verfalls.

 

Benjamin Netanjahu spricht von “totalem Sieg” im Krieg gegen die Hamas, der aber nur zu erreichen sei, wenn man in Rafah operiert. Zugleich steigern sich die Demonstrationen für die Entführten in Hamas-Gefangenschaft. Mittlerweile beschuldigen die Angehörigen der Geiseln Netanjahu, der Hauptschuldige an der Verhinderung eines Deals mit der Hamas zur Befreiung der Entführten zu sein.

Das motiviert das propagandistische Umfeld des Premiers zur Hetze gegen die Demonstranten, die mittlerweile dazu geführt hat, dass ein Anhänger des Premiers vor einigen Tagen fünf Protestierende überfahren hat. Andere Demonstranten sind beschuldigt worden, Netanjahu und seiner Familie nach dem Leben getrachtet zu haben. Der Chef der Allgemeinen Sicherheitsbehörde hat dies in Abrede gestellt, aber das hindert die Netanjahu-Eiferer nicht, die selbstviktimisierende Botschaft des Premiers in den Medien weiterhin zu verbreiten und die Lüge zu etablieren.

Netanjahu braucht diese nahezu unfassbare Medienhetze gegen die Angehörigen der Entführten, weil es keinen Deal zur Befreiung der Geiseln geben kann, ohne Stopp der Kampfhandlungen; er weiß zwar, dass es keinen “totalen Sieg” geben kann (und dass Israel bereits am 7. Oktober eine Niederlage erlitten hat), aber er muss ihn propagieren, weil es in seinem privaten Interesse liegt, dass der Krieg nicht aufhört. Denn wenn es zur völligen Einstellung der Kampfhandlungen kommt, wird er gefordert sein, die Verantwortung für das von ihm verschuldete Desaster zu übernehmen, was ihm die Herrschaft kosten könnte, die er aber unbedingt beibehalten will, weil sie den Verlauf seines Prozesses verlangsamt (“Man verurteilt keinen amtierenden Premier und stürzt ihn nicht während eines Krieges”).

Zugleich drängt der US-amerikanische Präsident auf eine Waffenruhe, damit man die schlimmsten Folgen der humanitären Krise in Gaza in den Griff bekommen kann. Das wiederum wollen die allermeisten Israelis nicht, die sich um die Katastrophe der Palästinenser nicht im geringsten scheren; auch diejenigen, die Netanjahu vom Amt verjagen wollen, unterstützen sein Ziel, den “totalen Sieg” zu erlangen (von dem sie, wie gesagt, nur träumen können). Das hat mittlerweile zu Spannungen zwischen Biden und Netanjahu geführt, die die traditionell engen Beziehungen zwischen Israel und den USA zutiefst erschüttert haben. Israel ist von den USA völlig abhängig, und dennoch hat der israelische Premier es gewagt, einen ernstzunehmenden Konflikt mit dem Präsidenten zu riskieren. Der Präsident hat mit Repressalien gedroht, u.a. mit der Verweigerung von Waffen, die Israel dringend braucht. Aber schon am Tag nach der Berichterstattung darüber, hieß es in den Medien, die Lieferung von weiteren 35 Kampfjets aus den USA stünde an.

Wozu die Darstellung all dieser Abläufe? Nichts von dem, was hier dargelegt wurde, dürfte unbekannt sein. Alles, was in der obigen Passage kurz angeschnitten worden ist, ist doch auch in diesem Rahmen bereits beschrieben und erörtert worden. Nun, es geht hier vor allem um die Erkenntnis des Teufelskreises, in dem sich Israel gegenwärtig bewegt: Insgesamt durchläuft Israel die schlimmste Krise seit seinem Bestehen, eine Krise, deren politische Handhabung sich zunehmend als irrational und letztlich ziellos ausnimmt. Gleichwohl verfolgen die verschiedenen Diskursebenen jeweils eine Eigenlogik, die sich durch interessengeleitete Zweckrationalität auszeichnet. Das Problem besteht darin, dass sie sich gegenseitig ausschließen bzw. einander kaum tangieren:

  1. Netanjahus Geschwätz vom “totalen Sieg” verfolgt das Ziel, der Bevölkerung ein “Bild des Sieges” zu liefern; für ihn wäre dies der militärische Sieg, wenn es geht, mit der erwiesenen Liquidierung der Hamas-Führung. Das kann aber das Megaversagen des 7. Oktobers nicht wettmachen. Man muss sich auch fragen – ein halbes Jahr operiert die IDF, hat rund 33.000 PalästinenserInnen, unter ihnen viele Tausende Kinder, Frauen und Alte sowie andere Unbeteiligte, getötet und Verwüstungen angerichtet, die man kaum beschreiben kann, wobei dies gegen eine militärische Formation geschah, die der israelischen Armee klar unterlegen ist – und das ist alles, was man erwirkt hat?
  2. Das “Thema” der Geiselbefreiung spielt sich auf einer anderen Diskursebene ab, von der sich die Regierung aber trotz aller lippenbekenntnishafter Empathiebekundungen recht unbeeindruckt zeigt. Nicht von ungefähr empfinden sich die um ihre Lieben kämpfenden Angehörigen eher als eine Last, die dem “totalen Sieg” im Wege stehen, denn als BürgerInnen eines Staates, der sie von ihrer realen Not zu erlösen hätte. Sie fühlen sich verlassen und verraten. Das muss als eine besonders gewichtige Verfehlung gewertet werden, die eines der fundamentalen ideologischen Axiome des zionistischen Staates – die Garantie des Wohls und der Sicherheit der Juden in ihrer nationalen Heimstätte – zum Einsturz gebracht hat.
  3. Die beiden Koalitionspartner Bezalel Smotrich und Itamar Ben-Gvir verfolgen wiederum eigene Interessen. Nationalreligiös-messianisch beseelt geht es ihnen und anderen Vertretern ihrer Parteien vor allem darum, den Krieg “bis zum Ende zu führen”, den Gazastreifen zu besetzen, womöglich “jüdisch” zu besiedeln, wozu eventuell auch ein Bevölkerungstransfer der Palästinenser zu erwägen wäre. Die Angehörigen der Entführten und ihre Demonstrationen stehen ihnen da im Wege, was sie bereits mehrfach öffentlich zum Ausdruck brachten. Faschisten, die sie sind, haben sie einzig “das Staatsinteresse” vor Augen, den sie freilich für gottgewollt erachten.
  4. Den beiden orthodoxen Parteien, die die anderen Koalitionspartner in der gegenwärtigen Regierung bilden, geht es einzig um ihre sektorialen Interessen. Mit dem Krieg haben sie nichts zu schaffen, da ihre Männer nicht zum Militärdienst eingezogen werden. Sie bestehen darauf, dass einzig ihre Gebete die IDF (und letztlich alle jüdischen Israelis) vor größerem Unglück bewahren. Und selbst beim aktuellen Krieg, bei dem es viele Gefallene der IDF an der Front gegeben hat (und immer noch gibt), haben sie darauf bestanden, dass die Freistellung ihrer jungen Männer vom Militärdienst (die ja Thora lernen) gesetzlich verankert werde. Die Wut vieler in der säkularen israelischen Bevölkerung hat sich immens gesteigert, was aber den sephardischen Oberrabbiner Jitzchak Josef nicht gehindert hat, zu verkünden, dass wenn man seine Klientel zum Militärdienst zwingen werde, sie alle ins Ausland auswandern werden.
  5. Die Bewohner der israelischen Ortschaften um den Gazastreifen und im Norden des Landes an der libanesischen Grenze sind großenteils evakuiert worden. Viele von ihnen leben seit Monate als Flüchtlinge im eigenen Land und weigern sich, zu ihren Wohnorten zurückzukehren, solange die Sicherheit für sie nicht erlangt worden ist. Diese Sicherheit kann es aber nicht geben, wenn die Kampfhandlungen fortgesetzt werden, und die werden fortgesetzt, bis der “totale Sieg” erlangt worden ist, den es aber nicht geben kann. Fortgesetzt werden aber die Kampfhandlungen nicht zuletzt, weil Smotrich und Ben-Gvir drohen, die Regierung zu stürzen, wenn es “vorzeitig” zur Einstellung des Waffengangs kommt.

Es ließen sich hier noch viele Diskursebenen anfügen, die plastisch vorführen, in welcher vertrackten, zwickmühlenartigen Sackgasse sich Israel gegenwärtig befindet. Diese Diskurse verfolgen alle (jede für sich) eine zweckrationale, partikulare Eigenlogik, fügen sich aber nicht zu einer Gesamtraison des zionistischen Kollektivs Israels zusammen.

Der allgemeine Schock angesichts des katastrophalen politischen und militärischen Versagens am 7. Oktober mochte zunächst (vermutlich allzu optimistisch) als Möglichkeit einer kollektiven Selbstbesinnung erscheinen; stattdessen ist das Gegenteil eingetreten: Man hat sich einem barbarischen Rache- und Vergeltungsrausch hingegeben; zelebriert in den aus eigener Initiative gleichgeschalteten Medien die “militärischen Erfolge”; demonstriert für die Befreiung der entführten Geiseln, ohne aber die Regierung in wirklichen Zugzwang zu setzen (die dafür nötige kritische Protestmasse hat sich noch bei weitem nicht gebildet); regt sich über den “Antisemitismus” in der Welt auf, nimmt dabei aber auch hin, dass Israel immer mehr zu einem Pariastaat verkommt, der sich selbst mit seinen engsten Verbündeten anlegt; ist voller Sorge über “die Lage”, lässt dabei aber dem Premierminister dennoch die Zeit, sich wieder “zu erholen” und seine von perfiden Intrigen durchwirkten Herrschaftsambitionen erneut zu festigen; bekümmert sich weder um den “Tag danach” noch um die nahende Wirtschaftskatastrophe und die Zukunft der Evakuierten, von der Zukunft des Landes insgesamt ganz zu schweigen.

So ist es heute um die “einzige Demokratie im Nahen Osten” bestellt. So weit hat es “die moralischste Armee der Welt” gebracht. So sieht die Zukunft des “zionistischen Projekts” aus.

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1 Kommentar zu Der israelische Teufelskreis Moshe Zuckermann Overton

  1. Zu dem treffenden Artikel muss noch einmal angemerkt werden, dass der 7. Oktober offenbar von der israelischen Machtelite gewollt war, um einen ausgedehnten Kampf zu bekommen, in dessen Zuge die USA noch enger an Israels Seite gezwungen würden:
    „Hat Israels Politik erreicht, was lange gewollt war?“: https://wipokuli.wordpress.com/2023/11/10/has-israels-policy-achieved-what-it-has-long-wanted-hat-israels-politik-erreicht-was-lange-gewollt-war/
    Herzliche Wochenendgrüße

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