Der Unzerstörbare? Moshe Zuckermann

Dank an Moshe Zuckermann für die Genehmigung seinen neuen Overon Artikel, auf der Hochblauen Seite zu veröffentlichen. Evelyn Hecht-Galinski

Der Unzerstörbare?

Trotz gehäufter Verfehlungen und zunehmenden Versagens ist Israels Premierminister Benjamin Netanjahu offenbar nicht zu stürzen. Wie kommt es?

Der Unzerstörbare?

Du bist das Haupt – du bist schuldig

Trotz gehäufter Verfehlungen und zunehmenden Versagens ist Israels Premierminister Benjamin Netanjahu offenbar nicht zu stürzen. Wie kommt es?

 

Auf Tel Avivs Straßen ist seit Wochen ein Poster mit der Abbildung des Kopfes von Israels Premierminister Benjamin Netanjahu zu sehen. Zu lesen ist die Inschrift “Du bist das Haupt – du bist schuldig”. Jeder in Israel weiß, was gemeint ist: Zum einen sei Netanjahu an der über Israel am 7. Oktober hereingebrochenen Katastrophe als Oberhaupt des Staates zwangsläufig schuld; denn in seiner Amtsperiode hat sich das Unheil ereignet. Zum anderen sei er als Regierungschef verantwortlich.

Er aber hat sich bis zum heutigen Tag nicht zu dieser Verantwortung bekannt, jedenfalls nicht in einer Weise, aus der hervorgeht, dass er sich auch verpflichtet, die Konsequenz aus dieser Verantwortung (und Schuld) zu ziehen und zu tragen. Ganz im Gegenteil ist er seit Kriegsbeginn unentwegt und rührig bemüht, die Schuld am Desaster auf das Militär abzuwälzen. Die betroffenen Armeegeneräle haben sich bereits allesamt als verantwortlich erklärt, und es ist jetzt schon (noch vor der bevorstehenden staatlichen Untersuchungskommission) jedem klar, dass keiner von ihnen seinen Posten wird behalten können.

Nicht so Netanjahu: Er, der über Jahre den militärischen Aufbau und die politische Stärkung der Hamas (mit Geldern aus Katar) als eine gegen die PLO gerichtete Taktik gefördert hat, will bis zum letzten Moment von der Hamas-Attacke nichts gewusst haben – das Militär und der Geheimdienst hätten versagt; er selbst sei unschuldig. Was konnte er schon machen, wenn er nicht rechtzeitig über das Bevorstehende unterrichtet worden sei?

Wenn man ihm vorhält, es bleibe dennoch seine Verantwortung, wenn die ihm unterstellte Armee so eklatant versagt habe, dann pariert er diese “Formalität” mit der Versicherung, die Klärung “dieser Fragen” werde nach Beendigung des Krieges stattfinden. Jetzt, wo die IDF noch am Operieren ist, sei nicht die Zeit dafür. Gefragt, wann die Beendigung des Krieges zu erwarten sei, wehrt er die Frage mit der Antwort ab “nach dem totalen Sieg”. Darauf, was “am Tag danach”, also nach dem “totalen Sieg”, mit dem Gazastreifen passieren soll, will er erst gar nicht eingehen.

Netanjahu geht es nämlich vor allem darum, den Krieg nicht “vorzeitig” zu beenden. Er hat ein privates Interesse daran, denn die Fortsetzung des Waffenganges garantiert ihm den Erhalt der Herrschaft und die Verzögerung der Weiterführung des Prozesses, der ihm seit einigen Jahren wegen Korruption, Veruntreuung und Betrug gemacht wird. Dafür ist er bereit, alles in kauf zu nehmen, selbst die Erschütterung der bilateralen Beziehungen mit den USA, wie sie diese Woche auf einen präzedenzlosen Höhepunkt getrieben worden ist: Angesichts der humanitären Krise im Gazastreifen forderte US-Präsident Biden, das geplante Manöver der IDF in Rafah mit einem längeren Waffenstillstand zu stoppen; es ist klar, dass dieses Manöver die ohnehin katastrophale Krise zu einer noch größeren Barbarei mit vielen tausenden Toten treiben werde.

Netanjahu weigert sich aber, der Bitte Bidens zu willfahren, und erklärte, die Militäraktion notfalls auch ohne die amerikanische Unterstützung durchzuführen – ein unbegreiflicher Affront gegen den amerikanischen Präsidenten, zumal Israel von der Unterstützung der USA nicht nur militärisch, aber eben auch militärisch, völlig abhängig ist. Einer Delegation der israelischen Regierung, die zu Verhandlungen in die USA reisen sollte, hat Netanjahu die Reise verboten – die USA haben sich bei einer Abstimmung des UN-Sicherheitsrates über eine Waffenruhe in Gaza ihrer Stimme enthalten; und gegen dieses “Vergehen” der Amerikaner, kein Veto eingelegt zu haben, reagierte der israelische Regierungschef eigenmächtig mit einer Art “Boykottierung” des Präsidenten. Die Maus, die brüllte…

Wie ist es möglich, dass Netanjahu die israelische Politik noch immer führt und prägt?

Vielen Publizisten und so manchen Figuren des öffentlichen Lebens in Israel ist schon längst klargeworden, was auch in Amerika seitens Bidens und seiner politischen Umgebung artikuliert wird, namentlich, dass Netanjahu dem Staat Israel beträchtlichen Schaden im Innern des Landes wie auch auf der internationalen Ebene zufüge. Man vergesse nicht, dass bereits vor dem 7. Oktober eine mächtige Protestbewegung gegen die “Justizreform” Netanjahus, mithin gegen ihn selbst, ein Dreivierteljahr lang emphatisch agierte. Sie ist mittlerweile durch den Krieg erlahmt. Wenige Stimmen gegen ihn machen sich zwar bemerkbar, aber man darf sie durchaus für eine entité négligeable erachten. Sie bildet (jedenfalls zur Zeit noch) keine ernstzunehmende Bedrohung für den israelischen Premier.

Nimmt man noch hinzu, dass Netanjahu eine Politik betreibt, die ernsthaft daran zweifeln lässt, dass er wirklich motiviert sei, die entführten Geiseln aus der Hamas-Gefangenschaft um jeden Preis (in einem Deal mit der Hamas) freizubekommen, und dies trotz verzweifelter, seit Monaten währender Demonstrationen der Angehörigen der Entführten und der sich mit ihnen solidarisierenden BürgerInnen des Landes – dann erhebt sich die Frage: Wie ist das möglich? Wie ist es möglich, dass dieser Mensch die israelische Politik noch immer führt und prägt? Dass er, den man unmittelbar nach dem 7. Oktober bereits für politisch tot erklärt hat, wie ein Phönix aus der Asche gestiegen ist, alle oppositionellen Kräfte in der eigenen Partei, in der Regierungskoalition und im Parlament mehr oder minder ausgeschaltet hat, und das Land nach wie vor relativ unbehelligt regiert? Ist dieser Politiker, den man mal (in den USA) bewundernd “King Bibi” genannt hat, nach all seinen persönlichen, privaten und eben auch staatlichen Verfehlungen und Verbrechen in der Tat “unzerstörbar” geblieben?

Die Antwort darauf ist vermutlich komplexer, als die hier angeführte. Mehrere Faktoren in der israelischen Politöffentlichkeit spielen dabei eine gravierende Rolle. Zum einen darf man nicht außer acht lassen, dass Netanjahu trotz allem sowohl in seiner Partei als auch in der Bevölkerung noch immer eine nicht unbeträchtliche Anhängerschaft hinter sich weiß. Zum Teil sind das blindlings treue Fans, zum Teil Getreue, denen er ideologisch aus der Seele spricht, zum Teil aber auch Gefolgsleute, die von ihm abhängen, weil er Wahlkampfsiege einzufahren versteht und Jobs zu verteilen hat.

Zum zweiten kann er sich darauf verlassen, dass er in seinem Parteiumfeld keinen ernstzunehmenden Rivalen hat, der ihm Paroli zu bieten vermöchte; die wenigen, die es versucht haben, sind kläglich gescheitert. Trotz verblassenden Charismas ist er noch immer stark genug, sich unangefochten zu behaupten.

Zum dritten – und dies ist ausschlaggebend – gibt es niemanden aus der parlamentarischen Opposition, der ihm die Macht streitig zu machen vermag. Man spricht immer wieder von Oppositionsführer Benny Gantz als dem wahrscheinlichsten Anwärter auf Netanjahus Nachfolge. Aber Gantz hat sich schon mehrfach als unfähig erwiesen, sich gegen Netanjahu zu erheben. Trotz beträchtlicher Anhängerschaft (gemäß den statistischen Erhebungen) ist er Netanjahu stets zu Hilfe geeilt, wenn dieser in politische Not geriet, statt ihn zu stürzen.

Aber abgesehen von Gantz’ fragwürdiger Führungskompetenz, muss man vor allem zur Kenntnis nehmen, dass die israelische Bevölkerung in den letzten Jahren politisch deutlich nach rechts gerückt ist. Um es lapidar auszudrücken: Gantz mag als Person honoriger und vertrauenswürdiger sein als Netanjahu, unterscheidet sich von ihm aber gesinnungsmäßig nicht allzu sehr. Wenn Gantz es zum israelischen Premier bringen sollte, würde sich an Israels Politik im Hinblick auf den Konflikt mit den Palästinensern, geschweige denn, in Bezug auf die Zwei-Staaten-Lösung nichts ändern. Das darf übrigens von allen relevanten israelischen Politikern behauptet werden.

Die schiere öffentlich geäußerte Idee, sich auf eine Zwei-Staaten-Lösung einlassen zu wollen, bedeutet für einen Politiker im heutigen Israel den politischen Tod. Die Politiker wollen diese Lösung nicht, weil die Bevölkerung sie nicht will; welche Lösung die Politiker beziehungsweise die Bevölkerung will, ist dabei ganz und gar nicht klar – es ist klar, was man nicht will, nicht, was man will.

Wie ist es also möglich, dass der versagende Netanjahu, schuldig an Israels größter Katastrophe seit Bestehen des Staates, der Premier, der seinem Land zunehmend einen immensen Schaden zufügt, noch immer an der Macht ist? Die Antwort ist so einfach wie peinlich: Weil man ihn nicht wirklich weg haben will; er betreibt eine Politik, die sehr viele Israelis goutieren; führt einen sinnlosen Krieg, den die allermeisten in der Bevölkerung auch wollen bzw. nicht klar genug nicht wollen. Netanjahu wird früher oder später vom Thron steigen. Aber das Volk, das ihn so lange hat walten lassen, wird bleiben. Heute schon heißt es prophetisch im Feuilleton “Bibi wird verschwinden, nicht aber der Bibismus”. Und damit ist Netanjahu, jedenfalls vorläufig, in der Tat “unzerstörbar”.

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