Kontextualisierung der Ereignisse ist kein Antisemitismus; niemand will ein zweites Auschwitz in Gaza     von  Akram Al-Deek

https://www.middleeastmonitor.com/20231127-contextualisation-of-events-is-not-anti-semitism-nobody-wants-another-auschwitz-in-gaza/


Menschen nehmen an dem vom Vereinten Palästinensischen Nationalkomitee organisierten Solidaritätsmarsch mit den Palästinensern teil, der am 25. November 2023 in Berlin vom Anhalter Bahnhofsvorplatz zum Berliner Dom führt [Halil Sağırkaya/Anadolu Agency].

Kontextualisierung der Ereignisse ist kein Antisemitismus; niemand will ein zweites Auschwitz in Gaza

    von  Akram Al-Deek

27. November 2023

Am 7. Oktober war ich zum Abendessen in Berlin-Neukölln. Auf der Straße fragten deutsche Polizisten die Leute nach ihren Ausweisen, wiesen pro-palästinensische Menschenmengen ab und stellten sicher, dass die Leute keine Aufkleber mit der palästinensischen Flagge mehr verteilten oder „Free Palestine“ skandierten. Das erinnerte mich an eine Szene aus dem berüchtigten deutschen Film Sonnenallee von 1999, in dem ein Kontrollpunkt noch einige Monate lang in Betrieb war und Ostberliner ihre Ausweispapiere vorzeigen mussten, die damals von den DDR-Grenzbehörden abgestempelt wurden.

Zuvor hatten einige palästinensische Jugendliche auf dem Hermannplatz gefeiert, indem sie mitten in Berlin arabische Süßigkeiten verteilten. Damit feierten sie die Wiederbelebung des palästinensischen Widerstands, der seit vielen Jahren im besetzten Palästina durch die Komplizenschaft der Palästinensischen Autonomiebehörde mit Israel und außerhalb Palästinas durch die vergessliche internationale Gemeinschaft und deren Weigerung, internationale Gesetze und Konventionen auf die Besatzung anzuwenden, geschwächt wurde. Bei diesen Jugendlichen handelt es sich um die Kinder und Enkelkinder der Palästinenser im Exil, die in der Nakba von 1948 und im arabisch-israelischen Krieg von 1967 (der Naksa) aus ihrem Heimatland vertrieben wurden. Sie jubeln über alles, was ihnen Hoffnung auf eine Rückkehr in ihr Heimatland macht. Der ägyptische Schriftsteller und Nobelpreisträger Nagib Mahfouz sagte: „Heimat ist nicht der Ort, an dem du geboren bist. Es ist der Ort, an dem alle Versuche, zu fliehen, aufhören.“ Vielleicht wird Deutschland eines Tages ein solcher Ort sein.

Wenn man in der so genannten „Straße der Araber“ in Berlin ankommt, wird man von dem offiziellen Straßenschild begrüßt: Sonnenallee. Der Schriftzug wird von einem Aufkleber unterstrichen, der „Free Palestine“ verkündet. Wenn man durch die belebten Straßen des Viertels geht, blicken einen die Geister palästinensischer Häftlinge, Gefangener und Märtyrer von jedem Plakat an der Wand an. Man hört verschiedene arabische Dialekte, links und rechts sind poetische Graffiti gesprüht, Schilder sind auf Arabisch, Deutsch und Türkisch, und es riecht nach Frittieröl und Tabak, syrischen Desserts, türkischem Döner und Baklava, irakischen Gewürzen und libanesischem Gebäck, dazu ertönt kurdische und ägyptische Musik. Im Vergleich zu anderen Teilen der Stadt ist es hier sehr laut und chaotisch. So ist das Leben. Die Sonnenallee ist ein Ort, der eine kulturelle Übersetzung und gesunde Dialoge ermöglicht.

    Die Integration von Arabern und Palästinensern in die deutsche Kultur und Gesellschaft wird immer problematisch sein

Deutsche Hipster mit ihren arabischen und türkischen Freunden sind in dieser Gegend in großer Zahl anzutreffen. Das ist ein sehr erfrischender Anblick. Man merkt nicht, dass es sich um eine Straße handelt, die im 19. Jahrhundert gebaut und 1938 in Braunauer Straße umbenannt wurde, nach dem Geburtshaus von Adolf Hitler, und die einst durch die Berliner Mauer geteilt war. Vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion und der Wiedervereinigung Berlins und Deutschlands war sie der Grenzübergang zwischen Ost- und Westdeutschland. Heute dekonstruiert und befreit die Sonnenallee die Straße aus ihrem kolonialen Kontext, erweitert ihre kulturellen Grenzen, stellt die Parameter ihrer lokalen Gemeinschaft in Frage und bietet Raum für politische Veränderungen. Die Integration von Arabern im Allgemeinen und von palästinensischen Jugendlichen im Besonderen in die deutsche Kultur und Gesellschaft wird jedoch immer problematisch sein.

Wie der deutsche Verteidigungsminister Boris Pistorius am 12. Oktober mitteilte, wurden an einem Tag zwei von der Bundeswehr geleaste bewaffnete Kampfdrohnen des Typs Heron sowie deutsche Munitionslieferungen an israelische Streitkräfte und Kriegsschiffe verschickt. In diesem Monat wurden Millionen von Euro als zusätzliche Hilfe gezahlt, um Israel bei seiner Bombardierung und Invasion des Gazastreifens zu unterstützen. Über anderthalb Milliarden Euro wurden als Entschädigung für Überlebende des Holocaust gezahlt.

„Es gibt nur einen Platz für Deutschland“, sagte Bundeskanzler Olaf Scholz in einer Rede vor Parlamentariern. „Dieser Platz ist an der Seite Israels.“

Ein paar Tage später erhellte Scholz‘ Gesicht das sonst so triste rote Cover des Spiegels. Die Bildunterschrift lautete: „Wir müssen endlich massenhaft Menschen abschieben“.

In einem Antrag, der wenige Tage nach dem 7. Oktober verabschiedet wurde, beschloss der Deutsche Bundestag einstimmig, dass die Sicherheit Israels als nicht verhandelbar angesehen wird. Bis zum Krieg Russlands mit der Ukraine im vergangenen Jahr war es lange Zeit die offizielle Politik Deutschlands gewesen, keine Waffen in Konfliktgebiete zu liefern. Trotz des Bekenntnisses Berlins, seine Sicherheits- und Außenpolitik zu überdenken, ist der Widerstand gegen eine militärische Verstrickung Deutschlands in Konflikte im Ausland in der deutschen Gesellschaft nach wie vor groß. Die Demonstranten auf den Straßen bekräftigen heute ihre nationale Identität als Abwehrmechanismus gegen den westlichen Kapitalismus, Kolonialismus und Materialismus in Übersee.

In den letzten Wochen hat die Berliner Polizei in der Sonnenallee patrouilliert, Arabisch sprechende Personen eingeschüchtert und verhaftet. Dort lebt eine der größten palästinensischen Gemeinden in Europa.

Ich habe Zeugenaussagen gelesen und Videos gesehen, die von Einschüchterungen, gezielten Beleidigungen und Kündigungsdrohungen gegen jeden berichten, der seine Unterstützung für das palästinensische Volk zum Ausdruck bringt. Der Mainzer Fußballverein hat den Vertrag seines arabisch-marokkanischen Spielers Anwar El-Ghazi gekündigt, weil dieser auf Instagram ein Ende des Völkermords in Gaza gefordert hatte. Diese selektive Kriminalisierung von Palästinensern und Arabern, unserer Stimmen und unserer nationalen Symbole ist unmenschlich. Die selektive Ächtung von Menschen, die uns unterstützen, und von Menschen, die ihr Recht auf friedlichen Protest und antikolonialen Widerstand wahrnehmen, ist ungerecht. Das international mitschuldige Schweigen zu unserer Unterdrückung ist inakzeptabel. Die palästinensische Flagge, das palästinensische Keffiyeh-Tuch und der Slogan „Freies Palästina“ sind Bestandteile unserer kulturellen Identität und gewaltfreie Mittel des Widerstands gegen Kolonialismus und ethnische Säuberung.

Erst vor wenigen Wochen zogen sich die Arab Book Association in Ägypten und die Sharjah Book Fair in den Vereinigten Arabischen Emiraten von der diesjährigen Frankfurter Buchmesse zurück und forderten, die Rolle von Kultur und Büchern bei der Förderung des Dialogs und der Verständigung zwischen den Völkern hervorzuheben. Damit reagierten sie auf die Erklärung des Messedirektors zur Unterstützung Israels und die Entscheidung der Messeleitung, der palästinensischen Autorin Adania Shibli den Preis für ihren Roman Minor Detail, der für den Booker Prize 2021 nominiert war, zu entziehen. Der Roman schildert das Leben einer palästinensischen Frau, die 1949 von israelischen Soldaten vergewaltigt wurde, und thematisiert die Gewalt, die Erinnerung und das Leiden des palästinensischen Volkes. Wie die Deutsche Welle berichtet, haben die Organisatoren des Preises die Veranstaltung in letzter Minute abgesagt.

Antisemitismus ist ein europäisches Problem, das auf zweitausend Jahre Ausgrenzung und Ermordung der Juden durch Christen zurückgeht. Erklärungen der soziopolitischen und historischen Bedingungen, die zu den Schrecken des 7. Oktober und des UN-Teilungsplans für Palästina im November 1947 geführt haben, sind nicht antisemitisch, denn eine Kontextualisierung bedeutet keine Rechtfertigung. Dieses Problem begann nicht am 7. Oktober 2023. Es begann 1896 mit der Gründung der politischen zionistischen Bewegung und der daraus resultierenden palästinensischen Nakba im Mai 1948.

Deutschland sollte friedliche Proteste zur Unterstützung der palästinensischen Freiheit zulassen, Solidaritätsbekundungen mit palästinensischen Symbolen und Slogans legalisieren, die polizeiliche Überwachung von Studenten aufheben und die Polizei für ihre Gewalt und Diskriminierung zur Rechenschaft ziehen. Die Bundesrepublik hat die moralische und politische Verpflichtung, zu einem Waffenstillstand aufzurufen und die Bewaffnung und Unterstützung Israels in seinem Krieg gegen die Palästinenser einzustellen. Sie sollte sich an ihre demokratische Gesetzgebung halten und dafür sorgen, dass sich die Geschichte nicht wiederholt, denn niemand will ein weiteres Auschwitz in Gaza oder anderswo.

Akram Al-Deek ist Schriftsteller im Exil, Aktivist, Literaturkritiker und Assistenzprofessor für Englisch mit den Schwerpunkten postkoloniale Studien und Weltliteratur. Er ist ehemaliger stellvertretender Dekan der Fakultät für Sprachen und Kommunikation und Leiter der Abteilungen für englische Sprache und Literatur sowie der Übersetzungsabteilung an der Amerikanischen Universität Madaba, Jordanien. Er schreibt Kolumnen für Die Linke Berlin, die Jordan Times, Al Rai Alyoum und The Palestine Chronicle. Al-Deek hat einen BA-Abschluss in englischer Sprache und Literatur, einen Master-Abschluss in Weltliteratur und einen Doktortitel in postkolonialen Studien und Literatur von der Universität Sunderland, UK.

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