Leere Worte: Baerbock fordert bei G20-Treffen Frieden, während Deutschland aufrüstet von David Goeßmann

Dank an David Goeßmann für die Genehmigung der Veröffentlichung seines heutigen Telepolis Artikel auf der Hochblauen Seite

Leere Worte: Baerbock fordert bei G20-Treffen Frieden, während Deutschland aufrüstet

Außenministerin mahnt Prinzipien und Menschenrechte ein. Doch deutsche Realpolitik geht einen anderen Weg: Sicherheit durch Destabilisierung. Kommentar.

Leere Worte: Baerbock fordert bei G20-Treffen Frieden, während Deutschland aufrüstet

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Baerbock beim Nato-Treffen, 29. Juni 2022. Bild: Vlada Republike Slovenije / CC BY 2.0 Deed

Außenministerin mahnt Prinzipien und Menschenrechte ein. Doch deutsche Realpolitik geht einen anderen Weg: Sicherheit durch Destabilisierung. Kommentar.

Die führenden Wirtschaftsmächte, die G20, hat die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) bei einem Außenministertreffen aufgefordert, mehr für Frieden und Gerechtigkeit in der Welt zu tun. Die Krisen in der Ukraine und im Nahen Osten müssten gelöst werden.

Sie fügte hinzu, dass der russische Angriffskrieg uns alle auffordere,

… die Grundprinzipien, die uns alle schützen, entschlossen zu verteidigen: die Charta der Vereinten Nationen, das Völkerrecht und die Menschenrechte. Diese Prinzipien schützen alle Nationen, egal wie groß oder klein.

Militärische Lösung für Ukraine

Es sind große Worte, die von den deutschen Medien kommentarlos weitergereicht werden [1] ans Publikum. Doch wir sollten einen Moment innehalten und uns fragen: Was tut Deutschland, die aktuelle Bundesregierung, dafür, diese Prinzipien zu wahren und Frieden real herzustellen.

Nehmen wir den Ukraine-Krieg. Im Grunde lässt sich die deutsche Position wie die der westlichen Unterstützerstaaten, vor allem die USA, so auf den Punkt bringen: Waffenlieferungen, aber keine Verhandlungen. Es gibt nur eine militärische Lösung, koste es, was es wolle.

Nur wenn Russland vollkommen besiegt wird (militärisch und ökonomisch, am Anfang nannte Baerbock das „Russland ruinieren“ [2]), kann der Konflikt gelöst werden. Zugleich wird der Ukraine weiter ein Nato-Beitritt nach dem Krieg versprochen – was, wie alle wissen [3], eine rote Linie Moskaus ist, die den Konflikt provoziert hat, und was kein russischer Präsident jemals, in Hinsicht auf vitale russische Sicherheitsinteressen, akzeptieren wird.

Gefahren und Auswirkungen

Es ist ein sicheres Rezept für endlosen Krieg, mit allen Gefahren und Auswirkungen, die das in sich birgt.

– fortgesetztes Leiden und Sterben von Soldaten und Zivilisten,

– Zerstörung des Lands und weiterer wirtschaftlicher Ruin [4] der Ukraine,

– weitere Flucht von Menschen

– Störungen der globalen Ökonomie und Lebensmittelversorgung [5], die vor allen die ärmsten Länder betrifft,

Erhöhung der Gefahr [6] eines Atomkriegs bzw. einer Ausweitung der Kriegshandlungen,

– Blockierung von internationaler Kooperation durch Blockbildung (China, Russland etc.), die überlebenswichtig in Hinsicht auf globale Krisen ist, und

Beförderung der Erderhitzung [7] (Militär und Krieg als eine große Quelle von Treibhausgasen).

Ja, Russland hat einen illegalen Aggressionsakt zu verantworten. Doch Frieden wird man in der Ukraine nicht auf dem Schlachtfeld erringen können.

Diplomatie-Blockade geht weiter

Ohne Diplomatie wird es nicht gehen, was Zugeständnisse an Russland bedeutet (das ist ungerecht, keine Frage). Denn die Ukraine kann und wird auf absehbare Zeit keinen Sieg erringen [8] – und selbst wenn es irgendwann geschehen sollte, wird Russland das nicht auf sich sitzen lassen. Der Konflikt wird weitergehen.

Vor diesem Hintergrund ist die Blockade, die Tabuisierung von Verhandlungen, ein fataler Anti-Friedensakt, gerechtfertigt mit einem absurden, von realen Konfliktdynamiken abgelösten moralischen Absolutismus, den der Westen selbst natürlich ständig mit Füßen tritt (siehe Nato- und US-Angriffskriege).

Zudem wird die russische Aggression benutzt, tatsächlich missbraucht, um aufzurüsten, Pläne, die lange bei westlichen Rüstungslobbyisten in den Schubladen lagen, aber jetzt umgesetzt werden können.

In Zahlen: Sondervermögen in Höhe von 100 Milliarden Euro, einfach mal an der heiligen deutschen Schuldenbremse vorbei beschlossen. Und dann letztes Jahr ein historischer Rekordwert an Militärausgaben, über 73 Milliarden [9] für die „Kriegstüchtigkeit“ Deutschlands.

Rekord-Rüstungsausgaben

Erstmals seit über 30 Jahren erzielt man damit die Nato-Vorgabe von zwei Prozent vom BIP [10]. So sieht die nach dem Fall des Eisernen Vorhangs gepriesene Friedensdividende heute aus, wie sie in den 1990er-Jahren in aller Munde war (aber wer erinnert sich noch daran?).

Das Geld fließt in noch mehr Kampfpanzer, Kriegsschiffe und moderne Kampfjets, in jede Menge Gewehre, Raketensysteme und Munition. Rheinmetall lässt die Korken knallen [11].

Währenddessen plant die Ampelregierung eine Kürzung des Entwicklungs-Etats [12], über alle Ressorts hinweg. Hilfsorganisationen warnen davor, dass ein solcher Rückgang, der von Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) vorangetrieben wird, fatal wäre [13].

Im letzten Jahre hat man für Entwicklungshilfe rund 0,8 Prozent des BIP ausgegeben, sicherlich höher als früher – aber weniger als die Hälfte wie für Panzer und Raketen. Zudem sind die Daten für Entwicklungsgelder irreführend und verzerrt.

Fake-Entwicklungsgelder und Waffen für Israel

Denn ein großer Teil, 30 Prozent [14], wurde für die Inlandsversorgung von vor allem ukrainischen Flüchtlingen ausgegeben. Diese Einpreisung von Geldern in die Entwicklungshilfe wird breit kritisiert, da es sich nicht um Auslandshilfe für arme Länder im Kampf gegen Armut, Hunger und für ökonomische Entwicklung handelt.

Die Gelder verlassen auch nie Deutschland und regen vielmehr unsere Konjunktur natürlich an. Wir profitieren davon.

Zudem ist die offizielle ODA-Unterstützung („Official Development Assistance“) aufgebläht mit Klimafinanzierungsgeldern (die zusätzlich zur Entwicklungshilfe als eine Art Reparation bereitgestellt werden müssen, also nicht in die ODA eingerechnet werden dürfen) und Krediten, die die Schuldnerländer im Globalen Süden natürlich zurückzahlen müssen.

Gehen wir in den Nahen Osten. Beim Gaza-Krieg verfolgt das deutsche Außenministerium unter Baerbock die langjährige deutsche Strategie, Israel das Recht zur Selbstverteidigung zuzusprechen, egal, wie schlimm die Kriegsverbrechen sind, während man die Netanjahu-Regierung gelegentlich sanft daran erinnert, Völker- und Menschenrechte zu respektieren.

Währenddessen werden bedingungslos Waffen an den Aggressor gesendet (Deutschland ist hinter den USA der zweitgrößte Waffenlieferant [15] für Israel und hat die Hilfen im Zuge des Kriegs noch aufgestockt), der schwere Kriegsverbrechen begeht, wahrscheinlich auch mit deutschen Waffen.

Gaza „am seidenen Faden“

100.000 Bewohner [16] des Gazastreifens sind bisher getötet und verletzt worden bzw. werden unter Trümmern vermisst, von einer Gesamtbevölkerung von gut zwei Millionen Menschen, darunter überwiegend Kinder und Mütter.

Das Welternährungsprogramm der UNO erklärt nun [17], dass das Leben der Menschen dort an einem „seidenen Faden“ hänge, da Lebensmittellieferungen wegen der Bombardierungen pausiert werden mussten.

Israel plant zeitgleich den Einmarsch nach Rafah [18], der letzten „sicheren Zone“ in Gaza. Ägypten baut angesichts der drohenden Massenflucht, was einer ethnischen Säuberung gleichkommt, in der angrenzenden Sinai-Wüste präventiv schon mal eine Zeltstadt für die Fliehenden auf.

In der UN-Generalversammlung hat sich Baerbock bei Abstimmungen zu einer Waffenruhe in Gaza zweimal der Stimme enthalten [19], während die überwältigende Mehrheit der Staaten dafür stimmte.

Deutschland schaut weiter bei Kriegsverbrechen zu

Vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag stellte Deutschland sich Israel verteidigend [20] an die Seite gegen die Klage Südafrikas, dass die Netanjahu-Regierung Genozid in Gaza begehe.

In einer vorläufigen Anordnung erklärte der UN-Weltgerichthof, dass Israel „plausibel“ dabei sei, Völkermord zu begehen, und forderte das Land auf, alles zu unternehmen, um das und weitere Kriegsverbrechen zu stoppen.

Israel hält sich nicht daran, macht weiter mit dem Beschuss, intensivierte ihn sogar [21] (die genozidale Rhetorik wurde jedoch eingestellt). Nun plant man, wie gesagt, eine weitere Invasion in den Süden, was die über eine Million Menschen dort, die nirgendwo Schutz erhalten können, in komplette Verzweiflung stoßen würde. Man spricht jetzt schon von einer „medizinischen Apokalypse“ [22] in Gaza.

Währenddessen ist Israel dabei [23], eine Straße mit Sicherheitspuffer durch den Gazastreifen zu bauen, die den Norden vom Süden abtrennt, im offensichtlichen Bemühen, komplette innere Kontrolle über das besetzte palästinensische Gebiet zu erhalten.

Über friedenschaffende Wege

Am Ende ist es so: Deutschland könnte einen unabhängigen, friedenschaffenden Weg gehen, sowohl bezüglich des Ukraine- wie des Gaza-Kriegs. In Gaza braucht es als ersten Schritt einen Waffenstillstand. In der Ukraine Diplomatie und Verhandlungen. Waffen sind in beiden Fällen nicht die Lösung.

Doch das steht nicht auf der Agenda. Man kann es auch daran ablesen, dass eine ehrliche Bestandsaufnahme der eigenen Kriegsbeteiligungen am globalen „War on Terror“ unter Führung der USA weiter, 22 Jahre nach seinem Beginn, verweigert wird.

So legte vor Kurzem eine Enquete-Kommission des Bundestags unter dem Vorsitz von Michael Müller (SPD) den Zwischenbericht zum Bundeswehr-Einsatz in Afghanistan [24] vor. Das Ergebnis: Es seien „strategische“ Fehler begangen worden.

Die Frage danach, ob der Krieg gerechtfertigt war, ist weiter Tabu [25] (Was würden wir sagen, wenn Russland in 20 Jahren einen Bericht verfassen würde, in dem die Invasion in die Ukraine kritisiert würde, aber ausschließlich, weil strategische Fehler begangen wurden?).

Die Doktrin von guter und schlechter Gewalt

Denn ob es ein illegitimer Aggressionsakt gewesen ist, der Chaos und Leid erzeugte, kann nicht untersucht werden, da die Antwort darauf das allgemein geteilte Narrativ über zwei Jahrzehnte von Politik und Medien den Boden entziehen würde [26]. Und das wäre nicht nur unangenehm, sondern ein Gesichtsverlust, dem weitere Fragen folgen würden.

Die Doktrin von guter und schlechter Gewalt, legitimer und illegitimer Aggression, je nach Akteur, beherrscht weiter die Regierungslinie in Deutschland (und natürlich auch die der USA und der anderen Nato-Staaten), während in der Öffentlichkeit Werte und Prinzipien hochgehalten und eingefordert werden, wenn gegnerische Staaten das unternehmen, was der Westen und seine Partner ständig praktizieren.

Weltfrieden wird so nicht hergestellt. Wir sollten langsam beginnen, diese Doktrin abzulegen, um ernsthaft über Konfliktlösung und internationale Kooperation zu reden – und danach dann auch zu handeln.

Baerbock mahnte beim G20-Treffen „Selbstreflexion“ an. Das sind leider bis heute leere Worte.


URL dieses Artikels:
https://www.heise.de/-9635782

Links in diesem Artikel:
[1] https://www.tagesschau.de/ausland/amerika/g20-aussenministertreffen-rio-100.html
[2] https://www.rnd.de/politik/ukraine-krieg-baerbock-ueber-sanktionen-das-wird-russland-ruinieren-RZDYS2DEPRK5OST7ZGGRZ6UN4I.html
[3] https://www.telepolis.de/features/USA-wussten-dass-man-Russlands-rote-Linien-bei-Nato-Expansion-ueberschritt-7518151.html
[4] https://www.telepolis.de/features/EU-Deal-50-Milliarden-Euro-fuer-Ukraine-sind-ein-Rettungsring-keine-bluehenden-Landschaften-9616105.html
[5] https://www.nature.com/articles/s41598-023-43883-4
[6] https://www.telepolis.de/features/Warum-die-Atomkriegsgefahr-im-neuen-Kalten-Krieg-weiter-eskaliert-9607108.html
[7] https://www.theguardian.com/commentisfree/2024/jan/09/emission-from-war-military-gaza-ukraine-climate-change
[8] https://www.telepolis.de/features/Es-gibt-keine-US-Zauberwaffe-mehr-fuer-einen-offensiven-Sieg-in-der-Ukraine-9616878.html
[9] https://www.dw.com/en/germany-to-hit-nato-budget-goal-for-1st-time-since-cold-war/a-68254361
[10] https://taz.de/Nato-Vorgabe-fuer-Ruestungsbudget/!5992405/
[11] https://www.telepolis.de/features/Rheinmetall-Aktie-im-Hoehenflug-Dieser-Kriegsgewinner-steht-schon-fest-9627182.html
[12] https://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2023/kw36-de-wirtschaftliche-zusammenarbeit-entwicklung-957756
[13] https://www.welthungerhilfe.de/fileadmin/pictures/publications/de/studies-analysis/2023-kompass-deutsche-entwicklungszusammenarbeit.pdf
[14] https://www.welthungerhilfe.de/fileadmin/pictures/publications/de/studies-analysis/2023-kompass-deutsche-entwicklungszusammenarbeit.pdf
[15] https://www.telepolis.de/features/Waffen-fuer-Israel-Offensive-Wer-liefert-was-welche-Staaten-sind-ausgestiegen-9630645.html
[16] https://reliefweb.int/report/occupied-palestinian-territory/100th-day-gaza-genocide-100000-palestinians-killed-missing-or-wounded-enar
[17] https://palestine.un.org/en/261242-gazans-%E2%80%98hanging-thread%E2%80%99-warns-wfp
[18] https://www.telepolis.de/features/Vor-Rafah-Invasion-Es-droht-Panik-Exodus-von-1-5-Millionen-Palaestinensern-9625716.html
[19] https://www.dw.com/en/cease-fire-in-gaza-why-germany-abstained-in-un-votes/a-67772509
[20] https://www.aljazeera.com/podcasts/2024/1/19/the-take-why-is-germany-supporting-israel-at-the-icj
[21] https://theconversation.com/israel-isnt-complying-with-the-international-court-of-justice-ruling-what-happens-next-222350
[22] https://www.thenation.com/article/world/gaza-medical-crisis/
[23] https://www.spiegel.de/ausland/israels-vorgehen-im-gazastreifen-eine-neue-strasse-trennt-den-norden-vom-sueden-a-9c7b31f4-d328-4a16-b780-11f5be401553
[24] https://www.tagesschau.de/inland/afghanistan-einsatz-bundestag-100.html
[25] https://www.telepolis.de/features/Lieber-Bundestag-Afghanistankrieg-war-kein-strategischer-Fehler-sondern-Aggressionsakt-9632259.html
[26] https://www.telepolis.de/features/Lieber-Bundestag-Afghanistankrieg-war-kein-strategischer-Fehler-sondern-Aggressionsakt-9632259.html

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