Nachtrag zur Geiselfrage Moshe Zuckermann

Dank an Moshe Zuckermann für die Genehmigung der Veröffentlichung seines auf Overton veröffentlichten Artikel

Nachtrag zur Geiselfrage

Die Geiselfrage erweist sich nicht nur als Tragödie der Betroffenen, sondern auch als Zeichen der Verkommenheit der israelischen Politik

Nachtrag zur Geiselfrage


Sharon Alony Cunio spricht am Mittwoch, den 28.2., zu Beginn eines Protestmarsches der Geiselangehörigen vom Kibbutz Reim nach Jerusalem. Bild: Hostages and Missing Families Forum

Die Geiselfrage erweist sich inzwischen nicht nur als Tragödie der Betroffenen, sondern nicht minder auch als Zeichen der Verkommenheit der israelischen Politik im Jahr 2024.

 

Wie der Gazakrieg ausgehen soll, ist noch ungewiss. Man redet von einer möglichen politischen Lösung, aber es schaut um sie nicht vielversprechend aus (wie hier schon mehrfach dargelegt wurde). Daran sind derzeit sowohl die Hamas als auch Israel gleichermaßen schuld.

Die Hamas versucht noch das Wenige, was von ihrer Herrschaft geblieben ist, zu retten. Ein “Sieg” im jetztigen Waffengang wäre für sie, nicht untergegangen zu sein, also “standgehalten” zu haben. Das Unglück, das sie dabei über die Gaza-Bewohner gebracht hat, scheint sie nicht sonderlich zu berühren. Aus palästinensischer Perspektive darf sie sich gar rühmen, im Gegensatz zur PLO militarisierten Widerstand gegen Israel geleistet zu haben, mithin die Jerusalemer Al-Aqsa-Moschee vor zionistischem Übergriff “verteidigt” zu haben.

Spiegelbildlich geht es auch der israelischen Regierungskoalition primär darum, ihre Herrschaft zu bewahren. Aus diesem Grund versucht auch sie, einen “Sieg” über die Hamas einzufahren, um ihr totales Versagen am 7. Oktober wettzumachen. Dafür muss sie sowohl die Hamas zerschlagen als auch die entführten Geiseln aus der Hamas-Gefangenschaft befreien. Jedes Kriegsziel für sich ist schon schwer genug zu erringen, beide zusammen nachgerade unmöglich: Je mehr Israel seine brutalen Kampfhandlungen steigert, um den “absoluten Sieg” zu erlangen, desto unwahrscheinlicher ist es, dass ein Großteil der Geiseln lebend aus der Gefangenschaft kommen wird, wenn überhaupt…

Nicht durch den Waffengang, sondern durch einen Deal mit der Hamas hat man bisher (auch das liegt schon Monate zurück) die erste Gruppe der Geiseln freibekommen. Die Armee hält sich zugute, dass dieser Deal nur aufgrund des ausgeübten militärischen Druckes zustande gekommen ist, aber das darf bezweifelt werden: Die Hamas ist zwar unter schwerem Druck geraten, aber, Expertenmeinungen zufolge, noch weit davon entfernt zu kapitulieren. Das Problem besteht aber darin, dass mit jedem vergehenden Tag die Überlebenschancen der Geiseln schwinden.

Was sich hier wie buchhalterische Aufrechnung anhört (und für viele außerhalb Israels, die das Geschehen aus unbeteiligter Ferne betrachten, wohl auch so ausnimmt), ist im inneren Diskurs der israelischen Gesellschaft von explosiver Bedeutung. Seit Monaten tun die organisierten Angehörigen der Geiseln alles ihnen Mögliche, um die Befreiung der Gefangenen zu fördern. Dabei erfahren sie große Solidaritätsbekundungen seitens der Bevölkerung. Da aber, wie gesagt, die Steigerung der Militäraktionen und die Geiselbefreiung in strukturellem Widerspruch zueinander stehen, hat inzwischen die höchst heikle Geiselfrage eine ungeahnte Metamorphose erfahren.

Netanjahu-Regierung bemüht sich, die Geiselbefreiung als zweitrangig darzustellen

Zu Beginn, unmittelbar nach dem 7. Oktober, als der heftige israelische Waffengang erst begann, war die “Vernichtung der Hamas” als Kriegsziel deklariert, ohne dass man genau definierte, wann dieses als erreicht gelten würde. Die Geiseln in Hamas-Gefangenschaft wurden zwar stark thematisiert, aber vor allem als mediale Vermittlungspraxis des Horrors am 7. Oktober. Nach einiger Zeit begannen sich die Angehörigen der Entführten öffentlich zu artikulieren, der Druck auf die Regierung nahm zu, und so wurde die Geiselbefreiung zum zusätzlichen Kriegsziel offiziell erhoben.

Aber je mehr die Regierung und ihre Anhängerschaft begriffen, dass dies der Fortsetzung der Militäroperation im Wege stehen könnte, begann man in den rechten Medien und im ministeriellen Umfeld Netanjahus, die Geiselbefreiung abwertend als zweitrangig darzustellen. Letzte Woche gab Israels Finanzminister Bezalel Smotrich dieser Tendenz regierungsmäßigen Anstrich, als er – gefragt, ob die Geiselbefreiung das Wichtigste an diesem Krieg nun sei – mehrfach sagte: “Nein, sie ist nicht das Wichtigste.” Immer häufiger spüren die Angehörigen der Entführten, dass sich eine (von der Regierung gesteuerte?) Gegenbewegung zu ihnen regt. Man politisiert, indem man ideologische Rationalisierungen für diese negative Haltung konstruiert.

So sagte neulich der Likud-Abgeordnete Yuli Edelstein, Vorsitzender des Knesset-Ausschusses für Außenpolitik und Sicherheit, dem Bruder eines Entführten während einer Sitzung des Ausschusses, bei der es um Schritte zur Forcierung der Regierungsaktivität um die Geiselbefreiung ging: “Im Jahr 2005 war ich einer der Führer des Widerstands gegen den Abzug Israels aus dem Gazastreifen. Wer weiß, wenn wir Erfolg gehabt hätten, würdet ihr heute nicht hier sitzen.” Vor einigen Tagen ist es gar – unvorstellbar! – zum gewalttätigen Polizeieinsatz mit Wasserwerfern und berittenen Polizisten gegen demonstrierende Angehörigen der Entführten gekommen. Einige von ihnen sind verletzt worden. Polizeiminister ist in Israel der Kahane-Zögling Itamar Ben-Gvir.

In der Tat ist es vor allem die polemische Agitation der Rechten, die der politischen Bestrebung der Regierungskoalition, den Krieg nicht zu beenden und den Rang des Geiselthemas in der Dringlichkeitshierarchie entsprechend herunterzuschrauben, das Wort redet. Es ist ein heikles Unterfangen, denn die Solidarität mit den Gefangenen und ihren Angehörigen ist noch immer weit verbreitet. Aber man kommt nicht umhin festzustellen, dass das für israelische Juden vermeintlich Unberührbare dieser Frage mittlerweile enttabuisiert worden ist. Die Äußerungen vieler Politiker in diesem Zusammenhang sind längst schon zum Lippenbekenntnis geronnen.

Auch religiöse Glaubenssätze sind der ideologischen Perfidie zum Opfer gefallen

Aber gerade das verwundert auch. Denn alle Politiker in der Regierungskoalition sind zwar rechts, sehr viele unter ihnen aber auch religiös, fungieren mithin als Führer religiöser Parteien. Wie ist also ihre Haltung möglich? Gefangenenauslösung (Pidjon Schwujim) gilt nämlich im Judentum als ein besonders wichtiges Gebot; im Gesetzeskodex des Moses Maimonides heißt es gar: ”Es gibt kein größeres Gebot als die Gefangenenauslösung.” Mehr noch: Wer die Erfüllung dieser Gebotspflicht versäumt, vergieße in jedem Augenblick des Zuwartens das Blut des Gefangenen. Das genau werfen auch die Angehörigen der Geiseln den religiösen Politikern vor.

Man erwidert ihnen jedoch – wiederum buchhalterisch rationalisierend –, sie nähmen nicht in kauf, dass eine Auslösung der Entführten im Rahmen eines Deals zwangläufig mit der Freigabe einer großer Zahl in Israels gefangener Palästinenser einhergehen werde. Und da für Politiker wie Ben-Gvir oder Smotrich alle Palästinenser Terroristen sind, bedeutet das (so in den Medien mehrfach verlautbart), dass man die Befreiung der jetzigen Geiseln mit ungleich mehr jüdischen Terroropfern in der Zukunft bezahlen werde.

Dass dies überhaupt so ohne weiteres geäußert werden kann, ja überhaupt gedacht wird, indiziert, welchen traumatischen Bruch im israelischen Ethos die Abläufe seit dem 7. Oktober bewirkt haben. Nicht nur ist der Vertrag zwischen dem Staat und seinen Bürgern gebrochen worden (das Militär, der Geheimdienst, vor allem aber die Politik waren am Katastrophentag funktionsunfähig und haben die Rettungsbedürftigen in einem fundamentalen Sinne verraten), sondern auch religiöse Glaubenssätze sind der ideologischen Perfidie zum Opfer gefallen.

Allerdings darf man auch in dieser Hinsicht nicht allzu überrascht sein: Mit religiösem Gedankengut rechtfertigt man seit über einem halben Jahrhundert das Besatzungsregime und die sich in ihm manifestierende Knechtung der Palästinenser. Und man macht auch vor den leidenden Mitbürgern des Landes nicht halt: Die Opfer am 7. Oktober seien feiernde Partygänger, vor allem aber die Bewohner “linker Kibbutzim” an der Grenze zum Gazastreifen gewesen. Offenbar lassen sich diese Art von Opfern leichter verschmerzen. Bei den zerstörten, verlassenen Kibbutzim hieß es gar, die Siedlerbewegung im Westjordanland sei bereit, diese Ortschaften “zu übernehmen”.

Wie heißt es im biblischen “Buch der Könige”? Du hast gemordet und auch (fremdes Gut) geraubt? Gemordet haben die rechten Nationalreligiösen die linken Kibbutzbewohner zwar nicht, aber gerade von ihnen womöglich “beerbt” zu werden, kann lebens- wie ideologiegeschichtlich an Schmach nur schwerlich übertroffen werden. Israel im Jahr 2024.

Ähnliche Beiträge:

Hinterlasse jetzt einen Kommentar

Kommentar hinterlassen

Entdecke mehr von Sicht vom Hochblauen

Jetzt abonnieren, um weiterzulesen und auf das gesamte Archiv zuzugreifen.

Weiterlesen