Sind die Iran-Schläge der Rettungsring für Netanjahu? David Goeßmann

Dank an David Goeßmann für die Genehmigung seinen neuen Telepolis Artikel auf der Hochblauen Seite zu veröffentlichen . Evelyn Hecht-Galinski

Sind die Iran-Schläge der Rettungsring für Netanjahu?

Eskalation mit dem Iran hat die Weltaufmerksamkeit vom Gaza-Krieg weggelenkt. Westen stellt sich wieder eng hinter Israel. Was folgt daraus? Eine Einschätzung.

Der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu bei einem Treffen in Berlin. Bild: photocosmos1 / Shutterstock.com

Sind die Iran-Schläge der Rettungsring für Netanjahu?

Eskalation mit dem Iran hat die Weltaufmerksamkeit vom Gaza-Krieg weggelenkt. Westen stellt sich wieder eng hinter Israel. Was folgt daraus? Eine Einschätzung.

Nach Berichten von israelischen Drohnenschlägen in der Nähe des iranischen Flughafens in Isfahan, auf dem sich militärische Anlagen und Kampfjets befinden, ist noch unklar [1], ob sich damit der Konflikt ausweitet oder nicht.

US-Offizielle haben den Angriff bestätigt und erklärten, dass man vorher davon in Kenntnis gesetzt worden sei.

Spiel mit dem Feuer

Korrespondent Peter Beaumont vom britischen Guardian spricht [2] von einem „Spiel mit dem Feuer“, während alte Regeln der Konfrontationslogik zwischen Israel und Iran über Bord geworfen würden und eine neue, unkalkulierbare Dynamik einsetze.

Die iranische Führung hat die Angriffe bislang versucht, herunterzuspielen. Die Drohnen seien abgeschossen worden. Ein hochrangiger iranischer Vertreter sagte am Morgen wenige Stunden nach dem Angriff gegenüber Reuters [3], dass der Iran keine Pläne für unmittelbare Vergeltungsmaßnahmen gegen Israel habe.

Auch wenn bisher unklar ist, wie sich der Konflikt entwickeln wird, eines wird jetzt schon deutlich: Es spielt dem israelischen Premierminister Benjamin Netanjahu in die Karten.

Noch vor wenigen Tagen waren die Meldungen gefüllt mit der sich ausbreitenden Hungersnot im Gazastreifen. Netanjahu stand unter Druck auch von der Biden-Regierung in den USA, ausreichende humanitäre Hilfe [4] in das Gebiet zu lassen, einen Waffenstillstand zu verhandeln, die Geiseln auf diesem Weg zu befreien und Neuwahlen zuzulassen.

Kritik an Netanjahu wie weggeblasen

All die Kritik, die Missbilligung für das israelische Vorgehen sind nun wie weggeblasen.

Vor wenigen Wochen forderte der Mehrheitsführer des US-Senats, Chuck Schumer, Netanjahu zum Rücktritt auf [5]. Demokratische Senatoren hatten begonnen, Biden aufzufordern [6], die Hilfe für Israel an Bedingungen zu knüpfen [7]. Der Redaktionsausschuss der New York Times forderte [8] das ebenfalls.

International gab es eine Resolution des UN-Sicherheitsrats über einen Waffenstillstand, den die Biden-Regierung mit ihrer Stimmenthaltung zum ersten Mal passieren ließ [9], auch wenn man klarstellte, dass man nichts gegen Israel unternehmen werde, um die Forderung umzusetzen.

Der UN-Weltgerichtshof in Den Haag kam nach der Klage Südafrikas zu dem Schluss [10], dass Israel plausibel Völkermord in Gaza betreibe und forderte die Regierung auf, Maßnahmen zum Schutz der Gaza-Bevölkerung umzusetzen, woran sich Israel nicht hielt [11], während die Kämpfe sogar noch verschärft wurden.

Westen wieder geschlossen hinter israelischer Regierung

International isolierte sich die Netanjahu-Regierung zunehmend, und mit ihr die Biden-Regierung, die sie bedingungslos unterstützt. Die EU erhöhte gleichzeitig den Druck auf Tel Aviv. Es hat, zum Teil erfolgreiche, Klagen gegen Waffenlieferungen in Unterstützerstaaten von Israel gegeben, auch in Deutschland laufen eine Reihe von ihnen [12].

Die Kriegsziele der israelischen Führung nach sechs Monaten unerbittlichen Bombens und Kämpfens, die Hamas auszulöschen, erweisen sich als gescheitert, menschlich katastrophal [13] und irreal. Die Hamas zeigt sich als widerstandsfähig und die palästinensische Bevölkerung in Gaza hat sich keineswegs gegen sie aufgelehnt oder ist aus dem Streifen geflüchtet.

Es stand also vor dem Angriff Israels auf das iranische Konsulat in Syrien am 1. und der iranischen Vergeltung am 13. April schlecht um Netanjahu. Er befand sich zunehmend mit dem Rücken zur Wand, auch im eigenen Land [14].

Mit der Eskalation und dem Vergeltungsschlag Irans auf Israel, mit 300 Raketen und Drohnen im Einsatz, die jedoch sehr bewusst kaum Schäden erzeugten, rückte der Westen wieder geschlossen hinter Netanjahu. Die Eskalation lenkte die Aufmerksamkeit von Gaza und dem israelischen Debakel dort auf den Iran und die Bedrohung Israels durch Teheran.

Gaza-Krieg rückt aus dem Blickfeld

Die diplomatische Isolation war danach wie weggewischt, zumindest bei Israels Partnern in den USA und in Europa.

Die Vereinigten Staaten, Großbritannien, Frankreich, Jordanien und sogar Saudi-Arabien kamen Israel während des iranischen Vergeltungsschlags zu Hilfe. Im Westen erklärten die Staats- und Regierungschefs Israels Unterstützung und verurteilten den Iran [15].

Nun ging es nicht mehr um einen Waffenstillstand in Gaza. Der UN-Sicherheitsrat debattierte [16] vielmehr über eine Verurteilung Irans (während man den provozierenden Angriff Israels auf das iranische Konsulat inklusive der Tötung von ranghohen iranischen Militärs in Europa und den USA nicht in gleicher Weise verurteilte).

Der Gaza-Krieg und das Elend dort rückte mit der Eskalation gegenüber dem Iran aus dem Blickfeld. Zwar berichteten Gaza-Bewohner, dass sie während des iranischen Angriffs die ruhigste Nacht seit sechs Monaten Krieg gehabt hätten. Doch gleichzeitig wurde die Katastrophe, in der sie zu überleben versuchen, dadurch auch an den Rand geschoben.

Zwei Szenarien

Es gibt im Grunde im Moment zwei Szenarien, wie es weitergehen könnte. Das eine besteht darin, dass die Eskalation mit dem Iran, wie immer sie sich entwickelt, dazu führt, dass insbesondere die US-Regierung stärker gewillt ist, nach einer Beendigung des Gaza-Kriegs zu suchen, im Angesicht der Gefahr einer regionalen Ausweitung, in die die USA hineingezogen werden würden.

Doch dieses Szenario hängt davon ab, wie der Druck auf die Biden-Regierung, diesen Weg zu wählen, sich gestaltet. Und der ist im Moment geschwächt worden durch die Iran-Ablenkung und regionale Agenda-Verschiebung.

Ein anderes, wahrscheinlicheres Szenario besteht darin, dass Netanjahu und sein Kriegskabinett die günstige Gelegenheit nutzen wollen, um den Krieg in Gaza zu eskalieren.

Der israelische Premierminister mag die Stunde gekommen sehen, um in den Süden von Gaza in Rafah einzumarschieren [17], Pläne, für die schon ein Datum gesetzt [18] worden sei, wie es Anfang des Monats von israelischer Seite bereits hieß.

Rafah-Einmarsch: Ein fatales Tauschgeschäft?

Die USA und europäischen Hauptstädte hatten sich bisher dagegen gestellt [19], da es nach einhelliger Meinung zu einem humanitären Desaster führen würde, weil die dorthin geflohenen mehr als eine Million Menschen in einer Falle sitzen [20].

Doch vielleicht könnten die USA eine Art „Trade-Off“ mit Israel eingehen: Mäßigung in Sachen Iran, mehr Freiheiten in Sachen Rafah.

Nicht zufällig hielten die USA und Israel gestern ein hochrangiges virtuelles Treffen [21] über eine mögliche israelische Invasion in Rafah ab. Vom Weißen Haus hieß es, dass die Biden-Regierung nach wie vor besorgt ist, dass ein israelischer Einmarsch zu massiven Opfern unter der Zivilbevölkerung führen wird.

Aber diese Sorge könnte nun weniger Gewicht haben als zuvor. Es wäre ein fataler Handel, weil er zugleich die Gefahr einer regionalen Kriegsausweitung [22] mit dem Iran hochhält, letztlich weiter verschärft.

Die Lunte zur Bombe „Iran-Krieg“ würde dann weiter brennen, in Gaza, mit allen Folgen, die das nach sich zieht.


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https://www.heise.de/-9691136

Links in diesem Artikel:
[1] https://www.theguardian.com/world/2024/apr/19/israel-iran-airtstrikes-ifsahan-tabriz-drones-explosions
[2] https://www.theguardian.com/world/2024/apr/19/iran-israel-playing-with-fire-rules-of-confrontation
[3] https://www.theguardian.com/world/live/2024/apr/19/middle-east-crisis-live-updates-iran-israel-today-explosions-isfahan
[4] https://www.telepolis.de/features/Gaza-Krieg-US-Regierung-spricht-erstmals-von-Hungersnot-und-liefert-Israel-weiter-Waffen-9683161.html
[5] https://apnews.com/article/schumer-netanyahu-israel-poland-hamas-3c86e541396fda36b0ef05b2d36c28e5
[6] https://www.telepolis.de/features/Warum-die-USA-ihre-Aussenpolitik-fundamental-ueberdenken-muessen-9660476.html
[7] https://ny1.com/nyc/all-boroughs/news/2024/04/04/chris-coons-biden-israel-conditioning-aid-gaza#:~:text=Sen.%20Chris%20Coons%2C%20D%2DDel.%2C%20called%20for,continue%20to%20mount%20in%20Gaza.
[8] https://www.nytimes.com/2024/04/13/opinion/israel-military-aid.html
[9] https://www.telepolis.de/features/Von-Gaza-bis-Assange-Kann-Joe-Biden-sich-aus-der-Wahlschlinge-befreien-9661601.html
[10] https://www.telepolis.de/features/UN-Weltgericht-versetzt-Israel-einen-schweren-Schlag-USA-und-Europa-muessen-jetzt-handeln-9610575.html
[11] https://www.amnesty.org/en/latest/news/2024/02/israel-defying-icj-ruling-to-prevent-genocide-by-failing-to-allow-adequate-humanitarian-aid-to-reach-gaza/
[12] https://www.telepolis.de/features/Klagewelle-Muss-die-Scholz-Regierung-Waffenexporte-nach-Israel-stoppen-9677891.html
[13] https://www.telepolis.de/features/Killeralgorithmen-Wie-Israel-im-Gaza-Krieg-eine-AI-Toetungsmaschine-einsetzt-9676712.html
[14] https://www.timesofisrael.com/negotiators-say-netanyahu-has-cold-indifference-to-the-fate-of-the-hostages/
[15] https://www.whitehouse.gov/briefing-room/statements-releases/2024/04/14/g7-leaders-statement-on-irans-attack-against-israel/#:~:text=We%2C%20the%20Leaders%20of%20the,its%20partners%2C%20defeated%20the%20attack.
[16] https://www.reuters.com/world/middle-east/un-security-council-aims-meet-sunday-iran-attack-after-israel-request-diplomat-2024-04-14/
[17] https://foreignpolicy.com/2024/02/09/rafah-netanyahu-israel-gaza-biden-pakistan-election-results/
[18] https://www.aljazeera.com/news/2024/4/9/israel-says-date-set-for-rafah-invasion-amid-ongoing-gaza-truce-talks
[19] https://apnews.com/article/rafah-hamas-gaza-israel-war-541e91c0f09196944a4dabeded94596f
[20] https://www.telepolis.de/features/Vor-Rafah-Invasion-Es-droht-Panik-Exodus-von-1-5-Millionen-Palaestinensern-9625716.html
[21] https://www.axios.com/2024/04/18/us-israel-gaza-rafah-offensive
[22] https://www.telepolis.de/features/Netanjahus-Rafah-Invasion-waere-der-perfekte-Sturm-fuer-den-Nahen-Osten-9679063.html

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