Das düstere Gemälde einer Epoche David Goeßmann

Dank an David Goeßmann für die Genehmigung seine heutige, Daniela Dahn- Buch-Rezension erschienen bei Telepolis auf der Hochblauen Seite zu übernehmen. Evelyn Hecht-Galinski

Das düstere Gemälde einer Epoche

Daniela Dahn zeigt in „Der Schlaf der Vernunft“, wie die Welt aus den Fugen geraten ist. Und sie stellt die bange Frage, ob wir noch fähig sind, aufzuwachen. Eine Rezension.

Das düstere Gemälde einer Epoche

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Die Quadriga mit der Siegesgöttin auf dem Brandenburger Tor in Berlin. Bild: Shutterstock.com

Daniela Dahn zeigt in „Der Schlaf der Vernunft“, wie die Welt aus den Fugen geraten ist. Und sie stellt die bange Frage, ob wir noch fähig sind, aufzuwachen. Eine Rezension.

Wer das neue Buch der Publizistin und Mitbegründerin der DDR-Oppositionsgruppe Demokratischer Aufbruch, Daniela Dahn, liest, versteht, warum die Zeiten hin- und herschwanken, der Irrationalismus Siege einfährt und die politischen Wirren zunehmen.

Eine Warnung an uns alle

Es ist eine inspirierende und investigative Analyse unserer Zeit, die aus verschiedenen Perspektiven die Krisen der Gegenwart beleuchtet, wobei die Autorin immer den richtigen Ton trifft. „Der Schlaf der Vernunft“ entfaltet dabei ein großes Panorama. Denn allzu leicht verliert man sich im Kleinklein, schnell gehen die weit gespannteren Fragebögen verloren. Dahn erinnert die Leserinnen und Leser zudem daran, dass Geschichte nicht vergangen ist, sondern wirkt.

Das Buch enthält dabei eine These, die als Warnung an uns alle verstanden werden sollte: Die Vernunft schläft in der Politik, und das hat fatale, lebensbedrohliche Auswirkungen.

Dahn bezieht sich dabei auf die berühmte Radierung des spanischen Malers Francisco de Goya „Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer“. Die Napoleonischen Kriege wüteten damals, um die Wende zum 19. Jahrhundert, als Goya das Werk schuf, heute bedrohen die Stellvertreterkriege in der Ukraine und im Nahen Osten die Weltordnung.

Daniela Dahn: „Der Schlaf der Vernunft“ [1], 192 Seiten

Es ist eine düstere Metapher, die auch an den Spruch des italienischen Philosophen und Kommunisten Antonio Gramsci aus dem Jahr 1930 erinnert. Während er den Faschismus in Europa aufziehen sah, schrieb Gramsci im Gefängnis: „Das Alte stirbt und das Neue kann nicht zur Welt kommen: Es ist die Zeit der Monster.“

Die Möglichkeit eines Dritten Weltkriegs

Bei Dahns Buch geht es ebenfalls um, wie Gramsci sich ausdrückte, „morbide Erscheinungen“ vor dem Hintergrund eines drohenden Desasters. Heute hat die Bedrohung globale Ausmaße angenommen, wie schon im ersten Satz klargemacht wird:

Da sitze ich an einem Buch über Vernunft und kann mir nicht sicher sein, ob bei seinem Erscheinen nicht schon der dritte Weltkrieg ausgebrochen ist.

Das erinnert an Walter Benjamins „Engel der Geschichte“ in seinen geschichtsphilosophischen Thesen – geschrieben 1940 unter dem Eindruck des Siegeszugs des Nationalsozialismus und des Hitler-Stalin-Pakts –, der zurückschaut und „eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft“, vor sich sieht.

Nun gehe es am Ende einer Kette von Fehlentscheidungen der letzten Jahrzehnte um das Überleben der Menschheit, so Dahn. Die Welt sei immer mehr zu einer globalen Gefahrenzone transformiert worden, mit Kriegen, Krisen und Seuchen, weil die politisch Verantwortlichen unverantwortlich handelten:

Sie halten nicht hinreichend Schaden von ihrem Volk ab. Wozu sie sich verpflichtet haben. Sie versagen darin, eine Friedensordnung zu gewährleisten, den irreparablen Kipppunkt des Klimas zu verhindern, Fluchtursachen zu bekämpfen.

Die Regierungen sind der Rechtsruck

Die Regierungen gingen dabei ein Weltkriegsrisiko ein, „um ihre Werte, also ihre Herrschaft, durchzusetzen. Sie selbst sind der Rechtsruck.“ Die einzige Rettung, den Ungeheuern der Gegenwart zu begegnen, sei es, so Dahn, sich ihnen mit Vernunft zu widersetzen.

Natürlich weiß Dahn, dass die Vernunft auch in der Vergangenheit keinesfalls die Entscheidungshoheit in der Berliner Republik (wie in der Politik generell) innehatte, sondern Interessengruppen, Lobbys und militärische Allianzen den politischen Kurs bestimmten. Das gilt für die Unterstützung der US- und Nato-Kriege in Jugoslawien, Afghanistan und Irak, das neoliberale Aushöhlen der Gesellschaft und die kapitalistischen Schädigungen von Konzernen, insbesondere im Globalen Süden.

Aber viele der Krisen hätten sich immer mehr zu existenziellen Bedrohungen hochgeschraubt: zur atomaren Kriegsgefahr, zu einem Klimanotstand, einem zerstörerischen Kapitalismus und zu einer demokratischen „Repräsentationslücke“, die den Nährboden für politischen Extremismus bietet.

Diese Bestandsaufnahme ist leider allzu berechtigt. So stellte die Wissenschaftsorganisation „Bulletin of the Atomic Scientists“, gegründet 1947 u.a. von Albert Einstein, die sogenannte Weltuntergangsuhr („Doomsday Clock“) in den letzten beiden Jahren auf 90 Sekunden vor Mitternacht [2], so nah wie nie zuvor. Mitternacht bedeutet „Game Over“ für die Menschheit.

Wie konnte es so weit kommen?

Ein zentraler Grund für den Katastrophenkurs besteht für die Forschergruppe in der steigenden Atomkriegsgefahr im Zuge des Kriegs in der Ukraine. Der zweite sei die eskalierende Klimakrise.

Demgemäß warnt UN-Generalsekretär António Guterres [3] seit Jahren, dass sich die Erde „in der Notaufnahme“ befinde und die Welt auf einer „Highway Richtung Klimahölle“ steuere. Zugleich kritisiert der Papst [4] mit scharfen Worten den ungezügelten Kapitalismus als „neue Tyrannei“ und prangert dessen tödliche Ökonomie der Ungleichheit an.

Dahn erkundet im Buch einige Gründe dafür, wie es so weit kommen konnte. Sie schildert und analysiert den seit Ausbruch des Ukraine-Konflikts 2014 sich hochschaukelnden Schatten- und Stellvertreterkrieg zwischen der US-geführten Nato und Russland. Mit dem Versuch, die Militärallianz auf die Ukraine auszuweiten, hätte Washington Moskau in die Enge getrieben und rote Linien überschritten, wohl wissend, welche Gefahren und Reaktionen die hegemoniale Expansion auslöse.

Das rechtfertige den russischen Angriff nicht, aber entlasse den Westen nicht aus der Verantwortung für das Desaster. Vor allem gäbe es einen möglichen Ausweg: Verhandeln. Doch das werde als Appeasement gegenüber dem vermeintlichen russischen Imperialismus denunziert.

Feindbilder und Propaganda

Der „lange Marsch ins Kriegsklima“, in die militarisierte Zeitenwende, sei dabei von geistigen Mobilmachern eskortiert worden, die mit Feindbildern und Propaganda eine Gesellschaft von der Friedens- in die Kriegstüchtigkeit manövrierten. Statt Wege zur Diplomatie zu suchen, dominiere nun ein moralischer Absolutismus, der blind für die Folgen sei.

Nicht alles, was legal und legitim ist, ist auch sinnvoll. Wenn eine berechtigte Verteidigung unverhältnismäßig viele Opfer und Zerstörung kostet, dann macht sie keinen Sinn mehr. Dann muss man eher von „gesinnungsethischem Verteidigungsbellizismus“ sprechen. Von einem Schlaf der Vernunft, der sich verheerend auswirkt.

Auch ökonomisch und sozial werde Politik im Schlafwandler-Modus betrieben, mit den absehbaren Auswirkungen. Die Kluft zwischen Arm und Reich, die nicht nur in Deutschland auf Rekordniveau liegt, werde immer obszöner.

Eine aktuelle Erhebung, so Dahn, zeige z.B., dass „die Zahl derjenigen, die über 100 Millionen Dollar besitzen, um 10 Prozent gestiegen ist, auf 3300 Superreiche. Relativ auf die Bevölkerung bezogen liege Deutschland damit hinter den USA auf dem zweiten Reichtumsplatz.“

Die Überrumpelung der Ostdeutschen

Die Konsequenz davon sei, dass Demokratie de facto ausgehebelt werde und zu einer Fassade verkommt, wie Politikwissenschaftler und Kritiker seit Jahren warnen. Denn wo „kein Haben ist, da ist kein Sagen“, schließt Dahn an Ludwig Erhard an. Die Klassen-Ordnung der marktkonformen bzw. kapitalistischen Demokratie nehme den Menschen das Selbstwertgefühl und bereite zugleich die Bühne für rechtsextreme Parteien, die den Frust und die Abstiegsängste für sich verwerten könnten.

Dahn hat auch einen persönlichen Grund, auf Goyas Denkbild über den Schlaf der Vernunft zurückzugreifen. Vor 35 Jahren organisierte sie mit dem Lyriker Jürgen Rennert in der Berliner Erlöserkirche eine Protestveranstaltung aller wichtigen DDR-Schriftsteller unter dem Motto „Wider den Schlaf der Vernunft“.

Damals ging es um die „schläfrigen Gerontokraten im Politbüro“. Das Buch verbindet dann auch diese beiden „ungeheuerlichen“ Krisenzeiten in einem Spannungsbogen. Es ist zugleich eine Bilanz, die aufzeigt, wie mit dem Fall der Mauer Chancen verpasst, Möglichkeiten in den letzten 35 Jahren in Frust verkehrt und Erwartungen enttäuscht wurden.

Denn weder wurde nach dem Ende der Ost-West-Konfrontation die Friedensdividende in eine europäische Sicherheitsordnung umgemünzt, noch ein gemeinsames besseres Deutschland kreiert. Vielmehr wurden die Ostdeutschen politisch überrumpelt bei der Wiedervereinigung, vom westlichen Markt überrannt, von Investoren enteignet, von Historikern als Diktaturopfer verzwergt und schließlich persönlich entwertet, indem die Westeliten in zentralen Institutionen das Ruder übernahmen.

Kann die Vernunft wieder erwachen?

Dabei sendeten Polizei, Verfassungsschutz, Justiz und Bundeswehr, so Dahn, seit 1989 beständig rechtslastige Signale in die Bevölkerung, die als Ermutigung für Neonazis dienten. Vermischt mit dem strukturell eingepflügten Frust ging diese Saat später auf. Und das nicht nur im Osten, sondern überall in der Republik.

Wenn die Vernunft nur schläft, kann sie dann nicht wieder aufwachen? Dahn will am Ende des Buchs die Leserinnen und Leser nicht beruhigen angesichts der Ungeheuer – und sie damit wieder einschläfern.

Sie ist Realistin und weiß aus eigener Erfahrung, wie die friedliche Revolution in der DDR in Restauration versandete. Sie ist sich zudem über die Schwierigkeiten bewusst, unter den real-existierenden Machtverhältnissen den Kapitalismus zu bändigen, wenn nicht zu überwinden, und die Gesellschaft demokratietüchtig zu machen.

Aber sie sieht in dem unterirdischen Rumoren heute nicht nur eine Gefahr, sondern auch eine Chance – wenn denn die Menschen für eine bessere Ordnung eintreten und die Kräfteverhältnisse ändern. Es ist eine zarte, von den Ungeheuern der Gegenwart belagerte Hoffnung.

Unter den gegebenen Umständen bleibe ich skeptisch, ob menschliche „Vernunft“ das, was sie angerichtet hat, auch richten kann. Nichts wünsche ich mir mehr, als mich zu irren.


URL dieses Artikels:
https://www.heise.de/-10223322

Links in diesem Artikel:
[1] https://www.rowohlt.de/buch/daniela-dahn-der-schlaf-der-vernunft-9783499016585
[2] https://thebulletin.org/doomsday-clock/#nav_menu
[3] https://www.theguardian.com/environment/2022/nov/07/cop27-climate-summit-un-secretary-general-antonio-guterres
[4] https://www.cnbc.com/2013/11/26/pope-francis-attacks-tyranny-of-unfettered-capitalism-idolatory-of-money.html

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