Dank an Moshe Zuckermann für die Genehmigung seinen heute auf Overton- Magazin erschienen Artikel auf der Hochblauen Seite zu übernehmen
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Israel 2024 – Jahresrückblick
Das Jahr 2024 hat in Israel politisch am 7. Oktober 2023 begonnen. Das von der Hamas verbrochene Pogrom hat den Krieg zur Folge gehabt, der das gesamte Jahr 2024 durchgehend geprägt hat und sich aller Voraussicht nach auch auf 2025 auswirken wird. Der 7. Oktober bedeutet zweifellos einen Einschnitt in der israelischen Geschichte, ist aber als solcher nicht zu verstehen, ohne die neun Monate, die diesem Datum vorausgingen, mit in Betracht zu ziehen. Denn am 4. Januar 2023 wurde von der jüngst gewählten Regierungskoalition die “Justizreform” proklamiert, welche sich jedoch sehr bald als versuchter Staatsstreich erweisen sollte. Auf diesen Versuch hat ein Großteil der israelischen Bevölkerung mit Massendemonstrationen reagiert, die mit solcher Emphase und Verve ausgetragen wurden, dass sie der “Justizreform” (vorerst) Einhalt geboten.
Die Regierung machte einen (taktischen) Rückzieher, der seinen Kulminationspunkt in Benjamin Netanjahus Plan, Verteidigungsminister Yoav Gallant aus seinem Amt zu entlassen, erreichte: Nach Ankündigung der Entlassung brach spontan eine dermaßen empörte, Tel Avivs Straßen nächtens überflutende Protestaktion aus, dass Netanjahu sich gezwungen sah, den Entlassungsakt aufzuschieben. Aufgeschoben war allerdings nicht aufgehoben; die Entlassung Gallants sollte im folgenden Jahr doch noch vollzogen werden. Man darf also mit Bezug auf Israels Politik von einem “kurzen Jahr” 2023 und einem “langen Jahr” 2024 sprechen.
Die Schockwirkung des 7. Oktober drückte sich nicht zuletzt darin aus, daß die Regierung über Wochen wie gelähmt schien, unfähig ihre Ämter und Institutionen funktionierend in Betrieb zu halten. Es waren freiwillig sich bildende Gruppen und Bewegungen aus der israelischen Zivilgesellschaft, die in dieser Zeit governmentaler Dysfunktionalität den Obligationen der versagenden Ministerien nachkamen und für die Versorgung der Bevölkerung mit Nötigstem die Verantwortung übernahmen. Dies erwies sich teilweise als doppelbödig. Eine Gruppe etwa wie die sogenannten “Waffenbrüder”, die ihre Raison aus der gemeinsamen militärischen Erfahrung bezog, war eine der lautstärksten unter den Protestgruppen während der großen Demonstrationen gegen den geplanten Staatsstreich der Regierung im Jahr 2023 gewesen; indem sie sich nun aber nach dem 7. Oktober “zur Rettung der israelischen Gesellschaft” tatkräftig engagierten, bedienten sie objektiv die sich von ihrem Schock erholende Regierung insofern, als sie den Fortbestand dieser Regierung, die nun einen Krieg zu führen hatte, affirmativ bestätigte; in Kriegszeiten wechselt man keine Regierung.
Die perfide Netanjahu-Regierung sollte es ihnen nicht danken: Denn sehr bald begann sie die Schuld am Desaster des 7. Oktober von sich auf das Militär und die Geheimdienste abzuwälzen; hinzu kam, daß sie die Demonstrationen gegen die Regierung dafür mitverantwortlich machte, dass es zum 7. Oktober hatte überhaupt kommen können; alle Demonstranten wurden als “Linke” gelabelt, die “Waffenbrüder” propagandistisch mithin zu “Feinden” (der Regierung) erklärt. Linke waren (und sind) die “Waffenbrüder” aber mitnichten: Als sich während der Anti-Staatsstreich-Demonstrationen unter den Protestmassen auch eine kleine Gruppe bildete, die gegen die Okkupation demonstrieren wollte, wurde sie immer wieder von den “Waffenbrüdern” verjagt – mit solchen Elementen wollten sie sich nun auch wieder nicht verbrüdern.
Man muss das allgemeiner verstehen. Der nach dem 7. Oktober notwendig gewordene Krieg entlud sich recht bald als ein Rache- und Vergeltungskrieg, der sich dann zu einem barbarischen Vernichtungskrieg steigerte. Unzählige Kriegsverbrechen sind dabei begangen worden. Der Krieg konnte diese Züge ohne nennenswerte Kritik seitens der israelischen Bevölkerung annehmen, weil er letztlich die Bedürfnisse der allermeisten Israelis bediente; angesichts der Gräueltaten während des von der Hamas verursachten Pogroms machte man sich in Israel blind für jegliche Leiderfahrung der Bevölkerung im Gazastreifen; die unfassbare Menge an getöteten und verletzten Kindern, Frauen, alten und kranken Menschen sowie die bewusst praktizierte Zerstörung und Verwüstung der gesamten Infrastruktur des palästinensischen Landstreifens berührte dabei die wenigsten in Israel.
Dass dem so war, kam vor allem Netanjahu zugute. Denn nach dem Desaster des 7. Oktober schien der israelische Premier politisch erledigt zu sein. Zu gravierend war die Katastrophe, die während seiner Amtsperiode der israelischen Gesellschaft widerfuhr. Aber trotz der Lähmung unmittelbar nach dem Fiasko wusste Netanjahu genau, was er zu tun hatte, um an der Macht zu bleiben: Er musste einen schonungslosen, mit besonderer Gewalt ausgetragenen Krieg vom Zaun brechen, denn der würde die Rachebedürfnisse der Bevölkerung befriedigen, mithin die Behauptung “legitimieren”, dass man während eines Krieges kein Staatsoberhaupt wechselt. Er musste darüber hinaus aber auch den angezettelten Krieg möglichst lang dehnen, um eine drohende staatliche Untersuchungskommission zu “vertagen”, vor allem aber, um den gegen ihn wegen Korruption, Betrugs und Veruntreuung geführten Prozess hinauszuzögern. Zugleich begann er, wie gesagt, die Schuld am Fiasko von sich auf die Armee und die Geheimdienste abzuwälzen, was die im Jahr 2023 aufgeschobene Entlassung des Verteidigungsministers Yoav Gallant im Jahr 2024 dann doch ermöglichte, diesmal, ohne eine dem ersten Mal vergleichbare Protestwelle auszulösen.
Man muss allerdings verstehen, daß der Krieg die Demonstrationsemphase des Jahres 2023 allgemein zum Erlahmen gebracht hat. Es gibt dafür mehrere Gründe, nicht zuletzt den, dass sehr viele in der israelischen Gesellschaft ermüdet sind, aufgerieben von einem bald 15 Monate währenden Krieg, dem längsten, den Israel (mit Ausnahme des Krieges von 1948) kannte, einem Krieg, bei dem auch die Zivilbevölkerung Herausforderungen ausgesetzt war, die man bisher in diesem Umfang und dieser Intensität nicht kannte: Vonseiten der israelischen Feinden handelt es sich primär um einen Raketenkrieg, der es geschafft hat, nicht nur die israelische Bevölkerung in ständige Alarmbereitschaft zu versetzen, sondern auch ganze Landstriche auf israelischer Seite so zu bedrohen, dass Hunderttausende evakuiert werden mussten und großteils bis zum heutigen Tag nicht zu ihren Wohnorten zurückkehren können.
Die Lähmung hat aber auch einen anderen, möglicherweise gravierenderen Grund: Netanjahu wird zwar von großen Teilen der Bevölkerung zutiefst gehasst (so auch seine Frau und sein älterer Sohn), man ersehnt seinen Abgang herbei (viele wünschen ihm auch ein schmachvolles politisches Ende im Gefängnis). Und doch, trotz aller Verfehlungen, trotz des Unglücks, das er über Israel mit seiner Politik gebracht hat, und trotz des Widerwillens, ja Ekels, den seine Person bei vielen Israelis auslöst (nicht bei allen – seine Anhänger himmeln ihn an), erlangt er bei Umfragen über die Befähigung zum Amt des Premierministers immer noch den ersten Platz unter allen möglichen Kandidaten. Da spielt wohl ein Halo-Effekt mit hinein. Netanjahu hat den Posten des Ministerpräsidenten schon so lange bekleidet, er hat also Erfahrung, “weiß Bescheid”, ist ein politischer “Magier” und dergleichen mehr.
Gewichtiger mag aber der Grund sein, daß Netanjahu keine ernstzunehmenden Konkurrenten hat. Es ist kaum zu fassen, aber keiner der infrage kommenden Rivalen hat sich in einer Weise profiliert, dass er als wirkliche Alternative zum amtierenden Premier gesehen wird. Manchen wird Führungsschwäche vorgeworfen, andere sieht man lediglich als Abklatsch des Likud-Führers an, wieder andere werden als “zu wenig charismatisch” verworfen. Vor allem aber muss man eines hervorheben: Niemand unter allen konkurrierenden Anwärtern vertritt einen alternative Einstellung zum Elefanten im Raum der israelischen Politik: der Okkupation und dem Konflikt mit den Palästinensern. Ob Benny Gantz oder Yair Lapid, selbst Yair Golan, von Avigdor Lieberman schon ganz zu schweigen – keiner von ihnen ließe sich auch nur einfallen, einen Vorstoß in Richtung einer politischen Beilegung des Konflikts als Parteiprogramm anzubieten. Als “Linker” aufgefasst zu werden, scheint diesen Führungsgestalten als das größte Karriereunglück zu sein.
Und sie wissen, warum dem so ist. Denn es ist nicht ausgemacht, wer wessen ideologisches Spiegelbild abgibt: sie das ihres Wahlvolkes oder ihre Wähler das ihrer “Führer”. Die Politiker wollen ja gewählt werden. Aber wo wären im heutigen Israel die Wähler zu rekrutieren, die für eine politische Lösung des Nahostkonflikts plädieren (und in einem Wahlkampf entsprechend emphatisch um eine solche ringen würden)? So besehen, waren auch die Anti-Netanjahu-Proteste eine optische Täuschung. Sie haben zu keinem Zeitpunkt eine wirkliche Positionierung gegen die Okkupation und die an den Palästinensern seit Jahrzehnten begangenen Verbrechen bedeutet. Nach dem 7. Oktober ist die Aussicht, daß sich daran etwas Wesentliches ändern könnte, so gering wie noch nie.
Aber selbst dort, wo es um Grundwerte des Zionismus zu gehen hätte (Israel als sicheren Ort für Juden zu erhalten und Juden in Not stets und überall zu Hilfe zu kommen), erweist sich die Öffentlichkeit Israels im Jahr 2024 als weitgehend blutarm und von selbstgewählter Ohnmacht gezeichnet. Die seit dem 7. Oktober in Hamas-Gefangenschaft gehaltenen Geiseln sind längst zum perfiden Politikum entartet. Statt der zu erwartenden Hunderttausenden, die auf die Straße gehen, um massiven Druck auf die Regierung zu üben, die zugrunde gehenden Geiseln durch einen Deal mit der Hamas zu befreien, sind es nur einige spärliche Tausende, die sich ernsthaft engagieren.
Netanjahu hat es geschafft, den Slogan vom “totalen Sieg” so zu manipulieren, dass er die (überflüssige) Verlängerung des Krieges gegen die Geiseln auszuspielen vermag. Er weiß sich darin mit seinen faschistischen Koalitionspartnern verbündet (allen voran Bezalel Smotrich und Itamar Ben-Gvir), deren Priorität darin liegt, den Krieg so lange fortzuführen, bis der Gazastreifen ganz erobert ist und die Bedingungen für die Errichtung von jüdischen Siedlungen auf dem eroberten Territorium durch dezidierte ethnische Säuberung geschaffen worden sind. Man hat es in der Tat fertiggebracht, die Geiseln als Bürde und die Demonstranten für ihre Befreiung als Feinde der Regierungskoalition darzustellen. Die Motivation Netanjahus für die Fortführung des Krieges ist bekannt. Sein Privatinteresse und die ideologischen Bestrebungen der Faschisten verzahnen sich dabei zu dem, was man als unfassbaren Verrat, den der zionistische Staat an seinen BürgerInnen begeht, erkennen muss.
Und so erweist sich das Jahr 2024 in Israel als eine weitere Station auf dem Weg zur Sackgasse, den der zionistische Staat seit langem beschreitet. Israel ist heute schon für viele in der Welt zum Pariastaat verkommen. Regiert wird dieser Staat von einer Koalition, die ungezügelt horrende Kriegsverbrechen verübt, welche von der eigenen Bevölkerung mit amoralischer Indifferenz, wenn nicht gar mit zustimmendem Verständnis registriert werden. Eine Koalition ist es, die sich zudem des demokratischen Selbstbildes des von ihr regierten Staates zunehmend entledigt, die formale Gewaltenteilung erschüttert, Kulturinstitutionen zerstört, jegliche massenmediale und akademische Kritik an ihrem Tun und Walten bekämpft und am Wohlergehen der BürgerInnen kaum noch interessiert ist. Sie regiert einen Staat, der sich in Auflösung befindet, ohne wirklich unterzugehen, dabei aber seinen Bewohnern keine andere Zukunft zu bieten vermag, als ewigen Krieg und Zermalmung der Freiheit. Beherrscht ist er vom Gemüt der Herzlosigkeit wie vom Geist geistloser Zustände.
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