Israel: Ende der Okkupation? Moshe Zuckermann

Ich danke Moshe Zuckermann für die Genehmigung der Zweitveröffentlichung, auf der Hochblauen Seite

Israel: Ende der Okkupation?

kann der Kampf gegen die Okkupation aufgegeben und der Protest auf die Gründung eines Staates all seiner Bürger ausgerichtet werden

Israel: Ende der Okkupation?

 

Der israelische Publizist Gideon Levy schlägt vor, den Kampf gegen die Okkupation aufzugeben und die Energie des Protests der Gründung eines Staates all seiner Bürger zuzuwenden. Geht das?

 

Gideon Levy veröffentlichte diese Woche in der Tageszeitung “Haaretz” einen Kolumnentext mit der Überschrift “Der Kampf gegen die Okkuption sollte aufhören”. Man traut zunächst seinen Augen nicht: Gideon Levy, einer der prominentesten Kämpfer gegen die israelische Besatzung, er, der allwöchentlich über die barbarischen Folgen der Okkuption berichtet; er, der den (für die allermeisten Israelis sich als solchen ausnehmenden) Tabubruch begangen hat, die den Gazastreifen im Jahr 2014 bomardierenden israelischen Kampfpiloten des Verbrechens zu beschuldigen – er spricht sich dafür aus, dem Kampf gegen die Okkupation Einhalt zu gebieten?

Levy erklärt sein frappierendes Postulat wie folgt: “Die besten Leute in Israel versammeln sich bei den Kaplan-Demonstrationen [Kaplan ist das Codewort für den Hauptversammlungsort der Protestbewegung] in der Ecke des ‘Blocks gegen die Okkupation’; das ist der Platz der Gewissensmenschen, die verstehen, dass es keine Demokratie mit einer Militärdiktatur im eigenen Hof gibt.

Das ist schön und ermutigend. Aber diese Ecke muss man räumen, die Fahnen zusammenfalten und die Parolen wechseln.“ Warum das? Weil, so Levy, “der Kampf gegen die Okkupation im Jahr 2023 dem Kampf gegen Naturgewalten” gleiche. Überschwemmungen und Erdbeben könne man nicht bezwingen. So wie sie sei auch die Okkupation nicht mehr zu bezwingen. “Sie ist da, um weiterhin zu bestehen; mit mehr als 700.000 Siedlern (einschließlich jener in den besetzten Teilen Jerusalems), die man nie evakuieren wird, und dem Riesenapparat zu ihrer Verewigung, kann man die Okkupation nicht besiegen.”

Die Okkupation sei im übrigen schon längst keine Okkupation mehr; eine militärische Okkupation sei per Definition ein temporäres Regime, aber “nach 56 Jahren und ohne ein sich abzeichnendes Ende, kann man das, was sich in den besetzten Gebieten abspielt, nicht als temporär bezeichnen. Und wenn es nicht zeitlich beschränkt ist, ist das keine Okkupation.” Daher sei das Reden über Okkupation im Rahmen der Demonstrationen anachronistisch, und der Kampf gegen sie im Rahmen des Kampfes um Demokratie irrelevant.

Und nachdem er nochmals hervorhebt, dass man den bisherigen Kampf gegen die Okkupation hinter sich lassen müsse, gelangt Levy zur politischen Schlussfolgerung aus alledem: “Kaplan ist der Ort, die Gelegenheit und die Zeit, die Diskette zu wechseln, die Tagesordnung zu ändern und etwas Neues, Hoffnungbringendes und ungleich Relevanteres zu beginnen. In Kaplan muss der Kampf um Gleichberechtigung zwischen dem Jordanfluss und dem Meer beginnen. […] Etwa 15 Millionen Menschen von Dan [im Norden] bis Eilat [im Süden], von Rafah [im südlichen Gaza] bis Jenin [im Westjordanland], die alle von Israel beherrscht werden, müssen gleiche Rechte haben.” Apartheid oder Demokratie, das sei die schicksalsträchtige Frage. Nicht gegen die Siedlungen müsse man demonstrieren, sondern für einen Staat all seiner Bürger. Es gehe bei dem Kampf um “Demokratie für alle, um einen demokratischen Staat, nicht jüdisch und nicht palästinensisch, sondern demokratisch”.

Man muss Gideon Levy zugestehen, dass er stets den Finger aufs Wesentliche, dabei aber auch realitätsbezogen zu legen pflegt. Er weiß, dass das okkupierende Israel keine Demokratie ist und als solches nicht sein kann. Aber er weiß auch, dass angesichts dessen, was Israel in den letzten 56 Jahren in den besetzten Gebieten praktiziert hat, der Kampf gegen die Okkupation keine Aussicht auf Erfolg mehr bietet. Zu massiv hat sie sich materiell verfestigt, zu erbittert ist sie ideologisiert worden – sie hat letztlich, von Israel gewollt und über Jahrzehnte orchestriert, die Zweistaatenlösung für den israelisch-palästinensischen Konflikt unterwandert und de facto verunmöglicht. Das ist die Sackgasse, in die sich der Zionismus hineinmanövriert und dabei Israel in einen Apartheidstaat verwandelt hat. Was also Levy schlussfolgernd postuliert, ist ein politisches Umdenken, das die Propagierung eines “Staates all seiner Bürger” zum Inhalt hat, wobei die Kategorie des Nationalen gegen die der Demokratie eingetauscht werden soll – “nicht jüdisch und nicht palästinensisch, sondern demokratisch”.

Das ist zweifellos honorig gedacht. Gleichwohl erhebt sich die Frage, was Gideon Levy in seiner Ansicht bestärkt, dass sein Postulat eine größere Aussicht auf Erfolg hat als die Forderung, die Okkupation zu beenden. Den Gedanken, Israel in einen Staat all seiner Bürger zu verwandeln, hat bereits in den 1990er Jahren der palästinensische Intellektuelle und Knesset-Abgeordnete Azmi Bishara in den israelischen Politdiskurs eingebracht. Was soll sich in den vergangenen 30 Jahren in Israel derart verändert haben, dass diese Forderung heute eine bessere Chance auf Verwirklichung hätte als damals? Schon damals war doch klar, dass diesem Gedanken die Auflösung des zionistischen Staates zugrunde liegt. Aber wer sollte dies im gesamten jüdisch-zionistischen Spektrum (damals wie heute) gewollt haben? Es war ja gerade der binationale Staat, den man auf jeden Fall zu verhindern trachtete.

Wollen etwa die heute gegen die Okkupation emphatisch Demonstrierenden die Auflösung des zionistischen Staates? Eine winzige Minorität unter ihnen vielleicht, aber die allermeisten von ihnen (und auch sie machen insgesamt keine große Gruppe aus) wollen mitnichten die Auflösung des Staates, gegen den sie aus aktuellem Anlass demonstrieren. So besehen rührt Gideon Levys Vorschlag letztlich von einem Wunschdenken her, das nicht minder utopisch ist als John Lennons Song “Imagine”.

Levy verankert zwar seine (emanzipative) Schlussfolgerung in der Realitätsanalyse besagter Sackgasse, aber die Realität entzieht sich ihm, wenn es darum geht, das Kollektivsubjekt zu bestimmen, das sein theoretisches Politbegehren zu verwirklichen hätte. Denn selbst, wenn man in Kategorien des binationalen Staates denkt (und nicht gleich in denen des übergreifend demokratischen), muss gefragt werden: Wollen ihn die zionistischen Juden? Wollen ihn die Palästinenser?

Die Idee der Zweistaatenlösung basierte auf der Annahme, dass es erst zwei souveräne Staaten (Israel und Palästina) geben müsse, ehe sie sich konföderativ, föderativ oder vielleicht auch als Staat all seiner Bürger zusammenschließen mögen. Die Phase der getrennten Staaten lässt sich schlechterdings nicht überspringen, wenn man die Souveränität der künftigen Beteiligung am Zusammenschluss wirklich garantieren möchte. Der spontane Sprung von der Verfahrenheit des real existierenden Apartheidstaates in die Gesamtdemokratie ist mitnichten relevanter als das, was die fortgeschrittenen Demonstranten gegenwärtig aus der realen Not betreiben.

So besehen muss die Demonstrationsemphase gegen die Okkupation mit aller Verve erhalten werden, so vergeblich sie auch sein mag. Bewusstseinswandel muss ein Prozess mit einer realen materiell-historischen Grundlage sein, wenn er nicht zur politischen Koketterie verkommen soll. Diese Grundlage ist in Israel noch lange nicht gegeben, schon gar nicht in einer Zeit, in der der jüdische Faschismus im zionistischen Staat Urständ feiert.

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