Ist eine Mandatsmitnahme ein „höchst unmoralischer Diebstahl“? Ein Artikel von: Jens Berger

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Ist eine Mandatsmitnahme ein „höchst unmoralischer Diebstahl“?

Ein Artikel von: Jens Berger

Dass der Parteiaustritt der zehn Abgeordneten rund um Sahra Wagenknecht bei der Linkspartei die Emotionen hochkochen lässt, ist verständlich. In einer gemeinsamen Erklärung sprachen die drei direkt gewählten Linken-Abgeordneten Lötzsch, Pellmann und Gysi gestern von einem „höchst unmoralischen Diebstahl“ der Mandate. Subjektiv mögen die drei dies so sehen. Anders sieht das bei den Journalisten auf der gestrigen Pressekonferenz aus, für die die Frage der Mandatsmit- oder -übernahme ebenfalls das wichtigste Thema war. Das Grundgesetz und das Parteiengesetz sehen dies jedoch diametral anders. Fraktionsaustritte und Fraktionswechsel hat es im Bundestag schon immer gegeben – teils mit historischen Folgen. Der Ruf nach einen Mandatsverzicht ist jedoch neu und zeigt einmal mehr, wie weit diejenigen, die dies fordern, sich bereits innerlich von den demokratischen Vorstellungen des Grundgesetzes verabschiedet haben. Von Jens Berger.

Artikel 38 Grundgesetz
Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages werden in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl gewählt. Sie sind Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen.

In Deutschland werden nicht Parteien, sondern Personen gewählt. Das gilt für die Direktkandidaten, aber genauso für die über die Zweitstimme gewählten Kandidaten, die auf den Landeslisten stehen. Diese Listen werden zwar von den Parteien zusammengestellt und dabei geht es nicht immer demokratisch zu. Am Ende macht der Wähler jedoch sein Kreuz nicht bei einer Partei, sondern bei einer Liste von Kandidaten. Diese Unterscheidung ist wichtig; wäre es anders, wäre dies ein klarer Verstoß gegen Artikel 38 des Grundgesetzes. Richtig ist jedoch, dass die Parteien diese Trennung in der Praxis nicht immer klar kommunizieren und schon gar nicht klar danach handeln und „ihre“ Abgeordnete gerne als Verfügungsmasse betrachten.

Dabei würde ein kurzer Blick auf die Geschichte des Bundestages schon reichen, um diese Vorstellungen geradezurücken. Vor allem in den ersten beiden Bundestagen, die sich 1949 und 1953 konstituiert haben, waren Ein- und Austritte sowie Wechsel innerhalb der Fraktionen eine Normalität. Später verfestigte sich die Einheit von Partei- und Fraktionszugehörigkeit zwar, aber spätestens im Vorfeld der vorgezogenen Bundestagswahl 1972 wurden derartige Wechsel zu einem brisanten Politikum. Seit 1969 regierte Willy Brandts SPD mit einer relativ knappen Mehrheit zusammen mit der FDP. Im Laufe der Legislaturperiode verließen jedoch jeweils vier Abgeordnete der SPD und der FDP ihre Fraktionen aus Protest gegen die neue Ostpolitik, schlossen sich der CDU/CSU-Fraktion an und brachten so die Mehrheit der regierenden Koalition ins Wanken. Dies führte später nach einem gescheiterten Misstrauensvotum gegen Willy Brandt zu den vorgezogenen Neuwahlen 1972, in denen die SPD ihr historisch bestes Ergebnis erzielte.

Zu den Hintergründen ist Albrecht Müllers Buch „Willy wählen ´72“ zu empfehlen, in dem er (Seite 19ff) auch auf die Fraktionswechsel eingeht. Weiterlesen in den nachdenkseiten.de

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