Anatomie einer Sackgasse Moshe Zuckermann

Benjamin Netanjahu auf den Golanhöhen. Bild: Kobi Gideon, GPO

Was befördert die Sackgasse, in die der Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern geraten ist? Es sind nicht mehr nur die bekannten materiellen Strukturbedingungen.

Seit über zwei Jahrzehnten rede ich von einer Sackgasse, in die der israelisch-palästinensische Konflikt geraten sei. Ohne zu wissen, wie der Konflikt dereinst ausgehen wird, gehe ich von der Grundannahme aus, dass die Zweistaatenlösung die Voraussetzung für seine friedliche Lösung zu bilden habe. Voraussetzung deshalb, weil damit nicht die endgültige Form der Lösung angezeigt sein muss.

Was immer die beiden verfeindeten Kollektive an Vorstellungen für ein friedliches Zusammenleben entwickeln mögen, die Basis für deren Entfaltung muss die Zweistaatenlösung abgeben – also die Errichtung eines souveränen palästinensischen Staates neben dem bereits existierenden israelischen. Diese Grundannahme fußt in der Überzeugung, dass die staatliche Selbstbestimmung erst erlangt werden müsse, ehe man sich möglicherweise auf konföderative bzw. föderative Strukturlösungen einlassen kann. So besehen muss die Einstaatenlösung bzw. der binationale Staat zunächst die historische Phase der Zweistaatenlösung durchlaufen. Diese Einsicht beruht darauf, dass der Nationalstaat derzeit noch immer für das gültige Paradigma zur Selbstbestimmung eines national sich konstitutierenden Kollektivs erachtet wird.

Die Verwirklichung dieser Voraussetzung hat Israel seit 1967 systematisch hintertrieben. Was immer die ideologischen Erwägungen auf der zionistischen wie der palästinensischen bis zu jenem Krieg gewesen sein mögen (sie waren komplexer, als man sie gemeinhin hinstellt), zeichnen sich die Jahrzehnte nach dem sogenannten Sechstagekrieg durch einen praktisch-aktivistischen Zugang in der Handhabung des Konflikts aus, mithin durch eine als “Okkupation” kodierte Praxis, die eine expansive Ausrichtung auf der israelischen Seite und eine des Widerstands auf der palästinensischen zur Folge hatte.

Die Besatzung der eroberten Territorien, die zunächst als “Faustpfand” der Zionisten bei künftigen Friedensgesprächen ausgegeben wurde, mutierte bald genug zum Garanten eines anvisierten Dauerzustands, den man gar nicht zu beenden gedachte. Zentraler Grund dafür war, dass die junge Generation nationalreligiöser Juden die politische Arena in Israel betrat und die eher moderaten Gründerväter der Nationalreligiösen Partei (Mafdal) mit ihrer enthusiasmierte Siedlungsemphase in den Schatten stellten. Anders als bei den anti- oder zumindest nichtzionistischen orthodox-religiösen Parteien, die sich aus dem politischen Tagesgeschäft des zionistischen Staates mehr oder minder heraushielten und sich fast ausschließlich um ihre sektorialen Interessen kümmerten, sahen sich die nationalreligiösen Siedler als Avantgarde der Verwirklichung eines (künftigen) jüdisch-religiösen Staates. Das Westjordanland (es war zunächst vor allem das) galt ihnen als Land der Urväter, das es nicht nur zu besetzen, mithin zu annektieren, sondern vor allem auch jüdisch zu besiedeln galt. Sie wähnten damit, die messianische Verheißung im Judentum zu verwirklichen. Der religiöse Faktor war somit unwiderruflich in die nationale Politik des ursprünglich eher säkular (mit wenigen Zugeständnissen an die Religion) ausgerichteten zionistischen Staates eingedrungen.

Damals, im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts, waren indes die Nationalreligiösen noch sowohl in der israelischen Parteienlandschaft als auch im Hinblick auf die Akzeptanz innerhalb der jüdischen Bevölkerung Israels eine randständige Minderheit. Das änderte sich allerdings nach und nach, nicht zuletzt, weil ihre religiös begründete Attitüde mit der Großisrael-Ideologie der an sich säkular eingestellten regierenden Likud-Partei korrespondierte.

Als aktives Triebwerk ihrer Unterstützung und Förderung fungierte der (wahrhaft nicht religiöse) Politiker Ariel Sharon, nachmals israelische Premierminister. Man geht nicht fehl, wenn man die jüdische Besiedlung des Westjordanlandes als sein Lebenswerk bezeichnet. Man lasse sich mithin nicht davon täuschen, dass es Sharon war, der im Jahr 2005 den Rückzug aus dem Gazastreifen beschlossen und durchgeführt hat (und somit für die nationalreligiösen Siedler zum “Verräter” mutierte) – ohne Ariel Sharon und sein politisch-ideologisches Umfeld in der Likud-Partei hätte der lange Siedlungsprozess wohl andere Züge angenommen. Durch sein unermüdliches Involvement wuchs die Expansion zu solchen Dimensionen heran, dass sie bereits Ende der 1990er Jahren für irreversibel erachtet wurde.

Schon damals wurde es klar, dass ein Rückzug aus den besetzten Gebieten im Rahmen einer politischen Lösung des Konflikts undenkbar war, wenn man den Ausbruch eines Bürgerkriegs nicht riskieren wollte. Das muss insofern hervorgehoben werden, als die inneren Konflikte in der israelischen Gesellschaft zum Zeitpunkt des auslaufenden Oslo-Prozesses immerhin noch auch in Bezug auf die Außenpolitik Israels bestanden. Denn obwohl die expansive Siedlungsaktivität seit Mitte der 1970er Jahre nie zur Ruhe gelangt war, gab es in Israel noch eine Opposition gegen sie, ja, eine Friedensbewegung war noch aktiv. Yitzhak Rabins Ermordung und die Militarisierung des zweiten palästinensischen Intifada dürfen als ein Wendepunkt in dieser Hinsicht angesehen werden.

Diese strukturelle Situation, die, wie gesagt, schon lange besteht, bildet die Sackgasse, in die sich der Zionismus hineinmanövriert hat, ohne zu wissen, wie er sich ihr wieder entwinden soll: Man hat durch die jüdische Besiedlung des Westjordanlandes die Zweistaatenlösung materiell verunmöglicht, da die Voraussetzung für ihre Verwirklichung nicht mehr da ist, nachdem man das Territorium, auf dem der palästinensische Staat zu errichten wäre, ohne es offiziell zu verkünden, gleichsam beschlagnahmt hat. Früher gebrauchte ich in diesem Kontext die Metapher, dass man am Apfel, den man gefressen hat, ohne ihn verschlingen zu können, erstickt. Aber es ist an der Zeit, diese Metapher zu revidieren.

Denn die Sackgassen-Analyse geht davon aus, dass man auf israelischer Seite überhaupt noch an einer friedlichen (also politischen) Lösung des Konflikts mit den Palästinensern interessiert sei. Ungeachtet aller Rhetorik und aller “Bestrebungen” gibt es aber keinen Anlass mehr, daran zu glauben. Dabei muss betont werden, dass der Grund für die Sackgasse primär bei Israel, nicht bei den Palästinensern zu suchen sei.

Ehud Barak hat seinerzeit viel politischen Schaden angerichtet, als er nach dem Scheitern der Camp David- und Taba-Gesprächen im Jahre 2000 verkündete, es habe sich erwiesen, dass es auf der Seite der Palästinensern keinen Partner für Friedenverhandlungen gebe: Es war schon für Arafat zu spät, den israelischen “Angeboten” zuzustimmen, aber auch für Barak selbst, diese “Angebote” zu machen – beide hatten ihre Bevölkerungen nicht mehr hinter sich. Barak verlor entsprechend bald genug die Herrschaft.

Weil Israel das beherrscht, worum es in diesem Konflikt geht – die palästinensischen Territorien –, obliegt es in erster Linie Israel, die realen Voraussetzungen für die nötigen Verhandlungen herzustellen. Aber Israel will diese Verhandlungen nicht; es will sie schon seit langen Jahren nicht. Es gibt in Israel heute keinen einzigen führenden Politiker, der den Frieden mit den Palästinensern als Programm anzubieten vermag. Rabin war womöglich der letzte, der es realiter versuchte. Sein tragisches Ende ist beredt.

Die Sackgasse verwalten

Was man in Israel in den letzten 15 Jahren unter Netanjahus Führung wollte, ist nicht den Konflikt lösen, sondern ihn verwalten, und zwar nicht nur ad hoc, sondern als einzig mögliche Perspektive für die Zukunft. Dabei erhebt sich die Frage, ob es lediglich darum geht, dass man strukturell nicht mehr eine Alternative zum Bestehenden anzubieten vermag, oder darum, dass man das Bestehende, so wie es ist, gerade will, mithin ebendiese Struktur letztlich angestrebt hat, um die Sackgasse zur Grundlage der israelischen Politik werden zu lassen. Die Entwicklungen sprechen in dieser Hinsicht für sich selbst. Denn was die Sackgasse an “schöpferischen” Möglichkeiten bietet, lässt sich am gegenwärtigen Stand der Dinge im Gazakrieg ablesen: Nicht nur die Verwüstung der Lebensgrundlagen im palästinensischen Landstreifen und die damit einhergehende Praxis der ethnischen Säuberung, nicht nur die monströse Massenvernichtung von Menschenleben (nebst israelischem Verrat an den Geiseln in Hamas-Gefangenschaft), nicht nur die aus heteronomen Gründen erfolgende Weigerung, den längst schon überflüssigen Krieg zu beenden, sondern auch – und das ist gravierender, als man bis vor kurzem vermuten mochte – die jüdische Neubesiedlung des Gazastreifens.

Was in diesem Zusammenhang die Schaffung einer Pufferzone auf syrischem Gebiet und das immer öfter zu hörende Reden von der Notwendigkeit einer (siedelnden) Besatzung in Südlibanon zu bedeuten hat, bleibe hier unerörtert – es ist hier schon vor Monaten angezeigt worden, dass nichts, was die Siedler bislang an noch so absurden Zukunftsbestrebungen formuliert haben, als prinzipiell unverwirklichbar ausgeschlossen werden kann. Wie schon vor Jahren festgestellt worden ist, sind sie in vielerlei Hinsicht tatsächlich die Herren des Landes geworden, mit Machtbefugnissen ausgestattet, die man bis vor einigen Jahren nicht für möglich gehalten hat. Es war ein großer Fehler der etablierten israelischen Medienwelt und der Öffentlichkeit, sie nicht ernstzunehmen. Denn es handelt sich um nichts anderes, als um eine weitere Etappe des Expansionismus, die dem Zionismus als Grundzug von Anbeginn anhaftete.

Und doch ist etwas Neues hinzugekommen. Denn insoweit man sich demokratische Dynamik als agonalen Kampf von Gesinnungen, parlamentarische Auseinandersetzungen von Parteien und gegebenenfalls Protest- und Demonstrationsaktivität im Konflikt zwischen etablierter politischer Herrschaft und kritischen BürgerInnen vorstellt, so hat eine solche Dynamik in Israel, zumindest im Hinblick auf den Konflikt Israels mit den Palästinensern, auf das aus ihm hervorgegangene Okkupationsregime und die in diesem Kontext periodisch aufflammenden Gewalteskalationen und Kriege, ihr Leben ausgehaucht.

Trotz aller parteilicher Empörung gegen Netanjahu und seine Regierungskoalition(en) erweist sich das Wahlvolk der israelischen Gesellschaft im Konflikt mit den Palästinensern, in Kriegszeiten zumal, als grosso modo affirmativ gegenüber der Regierung. Man mag Netanjahu, Smotrich und Ben-Gvir noch so hassen, die religiösen Parteien und ihre Verfechtung sektorialer Interessen noch so wütend verwerfen – mit Bezug auf den Nahostkonflikt insgesamt und erst recht auf die gegenwärtige Kriegsführung und die durch sie angehäuften Verbrechen ist man stumm, “patriotisch” loyal und durch servile Hinnahme aller begangenen Gräuel und Untaten gekennzeichnet.

Besonders auffällig ist dabei aber die Flut an sadistischen, von unbändigen Rachegelüsten gesteuerten und sich am Elend der Bevölkerung im Gazastreifen delektierenden Äußerungen in den sozialen Medien, durchaus aber auch aus dem Munde von Vertretern der politischen Klasse. Teile der israelischen Bevölkerung sind schon zu müde, einige vielleicht auch zu verzweifelt und abgestumpft, um sich gegen die in ihrem Namen begangenen Verbrechen von Regierung und Armee zu rühren; aber der allergrößte Teil denkt gar nicht daran, sich gegen sie zu empören, sondern goutiert sie ganz im Gegenteil bzw. zeigt sich indifferent, betont mithin demonstrativ seine Indifferenz. Der Verrohung im Schlachtfeld und der ideologischen Verwilderung der militärischen Eroberungspraxis entspricht im heutigen Israel eine um sich greifende Erbarmungslosigkeit und Hartherzigkeit seitens der zivilen Bevölkerung. Nicht nur ist derzeit (und auf lange Zeit hinaus) aus den beschriebenen materiellen Bedingungen nicht an einen Ausbruch aus der historisch generierten Sackgasse zu denken, sondern die Sackgasse selbst wird nicht mehr als etwas begriffen, das es zu überwinden gilt, sondern erfährt seitens der jüdischen Bevölkerung Israels eine so noch nie gekannte ideologische und sozialpsychologisch gestützte Zementierung. Die selbstgewollte Sackgasse ist in die freiwillige Barbarei gemündet.

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