Antisemitismus in Amsterdam? Von Moshe Zuckermann

Ich danke Moshe Zuckermann für die Genehmigung seinen heute bei overton-magazin veröffentlichten Artikel auf meiner Hochblauen Seite zu übernehmen. Evelyn Hecht-Galinski

 

https://overton-magazin.de/top-story/antisemitismus-in-amsterdam/

Antisemitismus in Amsterdam?

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Israelische Hooligans griffen nach dem Spiel Passanten an. Die Szenen wurden in Medien erst so beschrieben, dass propalästinensische Aktivisten Israelis gejagt hätten. Screenshot aus YouTube-Video

Israelische Anhänger von Maccabi-Tel Aviv sind nach einem Fußballspiel in Amsterdam von Palästinensern tätlich angegriffen worden. Benjamin Netanjahu hat dazu eine Brandrede gehalten.

Die Attacken von Palästinensern und Palästina-solidarischen Moslems gegen Anhänger der israelischen Fußballmannschaft Maccabi Tel Aviv in Amsterdam diese Woche entfachte in den israelischen Medien und bei Politikern sogleich eine (orchestrierte) Entsetzenskampagne, bei der das Repertoire der im Land gängigen Shoah-Allusionen und Selbstviktimisierungsrhetorik durchbuchstabiert wurde: Von Pogrom war die Rede, der Vergleich zur “Kristallnacht” von 1938 wurde gezogen, der ewige europäische Antisemitismus wurde heraufbeschworen, für Momente sah es aus, als habe es israelische “Entführte” gegeben (der Kontakt zu drei Personen war abhanden gekommen), und sogleich kamen Vorschläge auf, eine Rettungskommando der IDF nach Holland zu entsenden. Diese Schnappsidee gab man allerdings dann doch auf – Holland ist ja nicht Idi Amins Uganda.

Benjamin Netanjahus in diesem Zusammenhang gehaltene Rede an die Nation brachte den manipulativen Stuss meisterhaft auf den Punkt. Seine Rede kodiert alle Bestandteile der ideologischen Blendung und Selbstverblendung im heutigen israelischen Politdiskurs. “Gestern”, hob er an, “haben wir der Kristallnacht gedacht, die sich vor 86 Jahren auf europäischem Boden ereignet hat. Das war eine grausame, gewalttätige Attacke gegen Juden – nur weil sie Juden waren. Zu unserem Leidwesen haben wir in den letzten Tagen Bilder gesehen, die an jene Nacht gemahnten. Auf Amsterdams Straßen haben antisemitische Krawallschläger Juden, israelische Bürger, angegriffen, nur weil sie Juden sind.”

Es gebe aber einen Unterschied zwischen jener historischen Nacht und der Gegenwart: “Heute haben wir einen eigenen Staat, eine eigene Regierung, eine eigene Armee. Wir haben das Vermögen, die Bereitschaft und die Entschlossenheit, uns selbst zu verteidigen, und auch von anderen zu verlangen, das ihnen Auferlegte zu tun. Und das ist genau, was wir getan haben. Gleich nach dem verbrecherischen Angriff habe ich Hollands Premierminister angerufen. Er sagte mir, dass er sich schämt – so sagte er ‘schämt’ –, dass auf holländischem Boden eine solche hässliche antisemitische Attacke stattgefunden habe. Ich verlangte von ihm, die Gewalttäter gesetzlich zu belangen und auch die jüdische Gemeinde in Holland zu schützen.”

Aber nicht nur das hat der israelische Premier unternommen, wie er bekundete: “Auf meine Anweisung hat Verkehrsministerin Miri Regev eine Luftbrücke organisiert, die alle Israelis, die nach Israel zurück wollten, zurückbrachte, mehr als 2000 waren es. Ich habe die Sicherheitskörper beordert, besondere Anweisungen für Israelis im Ausland angesichts der infolge des Krieges entstandenen neuen Situation vorzubereiten.”

Netanjahu beschloss seine Rede mit gesteigertem Pathos: “Attacken dieser Art sind nicht nur eine Bedrohung für Israel, sie gefährden die ganze Welt. Wir haben etwas aus der Geschichte gelernt: Ungezügelte Attacken gegen Juden enden nie bei Juden. Sie verbreiten sich über die gesamte Gesellschaft, überziehen ein Land nach dem anderen, bis sie die gesamte Menschheit in Brand setzen. Daher fordere ich jede verantwortungsvolle Regierung auf, diese Attacken im Keim zu ersticken. Jede verantwortungsvolle Regierung ist gefordert, kraftvoll, energisch und fest entschlossen zu handeln. Wir werden auf jeden Fall das Notwendige tun, um uns selbst und unsere Bürger zu beschützen. Niemals werden wir zulassen, dass sich die Schrecken der Geschichte wiederholen. Wir werden nie kapitulieren – weder vor dem Antisemitismus noch vor dem Terror. Wir werden weiterhin unseren Staat und unsere Bürger überall verteidigen, vor jeder Bedrohung – allen voran vor der iranischen Bedrohung.”

Man weiß nicht, ob man bei diesen Ausführungen des israelischen Staatsoberhaupts lachen oder weinen soll. Vor allem weiß man nicht, ob er seiner eigenen perfiden Unverfrorenheit und verlogenen Verdrehung von Tatsachen und Kausalzusammenhängen selber glaubt. Auf zentrale Punkte dieses Meisterwerks der Manipulationsrhetorik sei hier eingegangen.

So verwerflich der Gewaltausbruch gegen die Maccabi-Anhänger in Amsterdam war, war er doch kein Pogrom, schon gar nicht ein der Reichspogromnacht von November 1938 vergleichbares Ereignis. Dass Netanjahu ihn in den Vergleich mit der “Kristallnacht” rückte, bezweckte die implizite Assoziierung der “Shoah”, die bei vielen seiner ZuhörerInnen den erwünschten Knalleffekt erzeugt. Denn wenn schon der 7. Oktober in Teilen von Israels Medienwelt mit der “Shoah” assoziiert wurde, mussten die Amsterdamer Ereignisse mindestens mit der “Kristallnacht” verglichen werden. Diese banalisierende Instrumentalisierung der Shoah zu fremdbestimmten Zwecken hat in Israels politischer Kultur bekanntlich eine lange Tradition. Nur nebenbei sei angemerkt, dass man in Israel (im Gegensatz zu Deutschland) den 9. November nicht zum Gedenkdatum erhoben hat und entsprechend auch nicht zeremoniell zu erinnern pflegt.

Aber wenn man schon die Kategorie des Pogroms heranzieht, sollte man es im reflektierten Bewusstsein tun, dass wer im Glashaus sitzt, nicht mit Steinen werfen soll. Gerade Israel ist es, das seit vielen Monaten von nationalreligiösen Siedlern an Palästinensern im Westjordanland nahezu allwöchentlich verübte Pogrome zu verzeichnen hat. Diese Pogrome werden von der Okkupationsarmee stillschweigend hingenommen und von den Siedlern nahestehenden Politikern goutiert – niemand aus der Regierung ließe sich in diesem Zusammenhang einfallen, zu verlautbaren: “Zu unserem Leidwesen haben wir in den letzten Tagen Bilder gesehen, die an jene Nacht gemahnten.”

Die Ausfälle in Amsterdam gegen die Maccabi-Anhänger fanden nicht statt, “nur weil sie Juden sind”, wie Netanjahu im Brustton der Überzeugung proklamierte. Die Angegriffenen wurden als Israelis attackiert. Ohne die ausgebrochene Gewalt rechtfertigen zu wollen, kann sie sich gleichwohl aus dem Kontext dessen erklären, was Palästinensern im Gazastreifen in den letzten 13 Monaten durch Israels Armee widerfahren ist. So besehen, handelte es sich nicht um eine “antisemitische Attacke” (es wurden ja nicht holländische Juden angegriffen), sondern um eine Attacke gegen Israelis.

Und was sich ein Teil dieser Israelis auf den Straßen Amsterdams vor dem Fußballspiel leistete, muss als bewusste Provokation gewertet werden. Dessen, dass sie sich auf holländischem Boden ereignen konnte, hätte sich der holländische Premierminister nicht minder “schämen” sollen. Man weiß ja, durch welche rabiate Rhetorik und brutale Gewaltbereitschaft gegen gegnerische Mannschaften sich die Subkultur von Hooligans und Ultras überall auf der Welt auszeichnen. Aber was die Maccabi-Hooligans nicht etwa gegen die Ajax Amsterdam, sondern gegen Palästinenser auf Amsterdams Straßen skandierten, bleibe hier lieber unzitiert.

Dass sich Netanjahu rühmte, die Verkehrsministerin angewiesen zu haben, eine Luftbrücke zu organisieren, die mehr als 2000 Israelis nach Israel zurückbrachte, und gleich dazu auch eine Instruktion an die Sicherheitskörper geleitet zu haben, “besondere Anweisungen für Israelis im Ausland angesichts der infolge des Krieges entstandenen neuen Situation vorzubereiten”, zeugt von zweierlei. Zum einen handelt es sich um einen typischen Versuch Netanjahus, Panik zu erzeugen, die allen Israelis suggerieren soll, dass die ganze Welt “gegen uns” und man nur in Israel sicher sei (was im gegenwärtigen Zustand des Landes ein makabrer Witz für sich ist). Zum anderen geht es Netanjahu darum, zu demonstrieren, dass er die Kontrolle über die Handhabung der Krise wahre und verantwortungsbewusst “Anweisungen” zu erteilen wisse.

Gerade, weil er und seine gesamte Koalition am 7. Oktober so kläglich versagt haben, die Hauptverantwortung für das Desaster mithin auf ihn lastet (eine Verantwortung, die er bis zum heutigen Tag nicht übernommen hat; unentwegt tut er alles, was er an Manipulation in petto hat, um die Schuld für die Katastrophe von sich auf die Sicherheitskräfte und Geheimdienste abzuwälzen), spielt er sich als beherzter Initiator einer “Luftbrücke” auf, die arme Juden in der antisemitischen Diaspora aus ihrer Not erretten soll.

Zum Abschluss seiner vor Zynismus strotzenden Rede gebärdet sich Netanjahu, der sich selbst gern mit Churchill vergleicht, als ein global denkender Staatsmann, der weiß, dass die Bedrohung Israels “die ganze Welt” gefährde, und “Attacken gegen Juden” die “gesamte Menschheit in Brand zu setzen” vermögen. Großschnäuzig proklamiert er, niemals zuzulassen, dass “sich die Schrecken der Geschichte wiederholen”; auch nie kapitulieren zu wollen, “weder vor dem Antisemitismus noch vor dem Terror”; und nicht zuletzt, “weiterhin unseren Staat und unsere Bürger überall zu verteidigen, vor jeder Bedrohung”.

Diese Mischung aus aufgeblasener Selbstherrlichkeit und pathetischer Selbstviktimisierung lässt in gekonnter Demagogie bewusst alles außer Acht, was den hier relevanten Kausalzusammenhang zu beleuchten vermöchte: Israel hat den Antisemitismus “in der Welt” nie bekämpft; der Antisemitismus kommt dem Zionismus im Gegenteil zupass. Den Grund für den Hass auf Israel in der Okkupation der Palästinenser und deren systematischen Knechtung zu suchen, käme einem Netanjahu (und seinen Anhängern) nie in den Sinn. Nicht zuletzt die Besatzungsbarbarei speist aber auch den realen Antisemitismus in der Welt.

Und was das Verteidigen und Beschützen der israelischen Bürger anbelangt: Diese leeren Floskeln aus dem Munde dessen zu hören, der die Versuche, die israelischen Geiseln in der Hamas-Gefangenschaft durch einen Deal zu befreien, regelmäßig vereitelt hat (weil sie die Beendigung des Krieges bedeutet hätten), und der sich über lange Monate um die Evakuierten aus ihren Wohnorten im Süden und Norden Israels (aus nämlichem Grund) kaum gekümmert hat, müsste jeden halbwegs vernünftigen israelischen Bürger aus der Fassung bringen. Hat es aber nicht, im Gegenteil. Hat doch die von ihm angewiesene Luftbrücke alle Israelis in diasporischer Not nach Hause gebracht, sie mithin aus einem an die Kristallnacht gemahnenden Pogrom auf holländischem Boden errettet.

Von Moshe Zuckermann ist im Verlag AphorismA das Buch “… aus gegebenem Anlaß. Politische Reflexionen zur Zeit” (240 Seiten, 25 Euro) erschienen.

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