„Deutschland zehrt immer noch von seinem Ruf als einstiger Gegner der Kolonialmächte“: ein Gespräch mit Stefan Weidner

Stefan Weidner: 1001 Buch. Die Literaturen des Orients

Durchgesehene und korrigierte Neuauflage

432 S.

35,00 € [D], 36,00 € [A]

ISBN 978-3-949558-09-2

Dank an Stefan Weidner für seine klaren Worte. Hier auch nochmals die Buchempfehlung seines Buchs „10001“ Die Literaturen des Orients, Converso. Empfohlen unter Bücher und Rezensionen auf meiner Seite.

Evelyn Hecht-Galinski

„Deutschland zehrt immer noch von seinem Ruf als einstiger Gegner der

Kolonialmächte“: ein Gespräch mit Stefan Weidner, Autor von „1001

Buch. Die Literaturen des Orients“

Stefan Weidners Hausbuch über die Literaturen der arabisch-islamischen Welt spannt einen großen Bogen von vorislamischer Zeit bis heute – und wirft dabei einen befreiten Blick auf Religion, Geschichte und Politik. Soeben ist die durchgesehene Neuauflage erschienen, was wir als Anlass genommen haben, mit dem Autor einen weiteren Bogen zu spannen: von der Doppeldeutigkeit des Orient-Begriffs über das utopische Potenzial der Literatur als Archiv, die wachsende Bedeutung des arabischen Buchmarkts als wenig zensiertes Terrain, die Situation in Afghanistan und die Frauenbefreiung als Klassenfrage bis hin zu Deutschlands ungeklärtem Selbstbild.

„Die Frage nach dem Orient“ ist der Provokationsgestus, der der Rede vom Orient innewohnt, wie Sie in Ihrem Einleitungsessays ansprechen, noch ein solcher oder hat sich die Rede vom „Orient“ nicht verflacht aufgrund alltäglicher Bedeutungsträger wie Speisen oder Mode? Neulich habe ich in einem Gespräch gehört, wie eine weiße, westliche Frau sich zur Wehr setzte mit „Nee, da bin ich ganz orientalische Frau“, in einer Diskussion über Männer, die mit Handykameras die Ultraschalluntersuchungen ihrer schwangeren Frau begleiten, auch die Geburt, und das Ganze ins Netz stellen.

Stefan Weidner: Ja, es gibt, wenn wir vom „Orient“ reden, zwei Ebenen. In meiner Einleitung beziehe ich mich auf die erste, sozusagen die seriöse, fachliche Ebene: da ist der Begriff des Orients seit langem in Verruf geraten; er steht unter dem politischen Verdacht, dass die islamische Welt dadurch auf Klischees reduziert und abgewertet werden soll. Ich bin mit dieser Sicht nicht ganz einverstanden. Klar gab und gibt es Klischees und Abwertung unter dem Label Orient, aber in dem Wort klingen auch viele positive Aspekte an, es gibt eine lange Geschichte der westlichen Orientsehnsucht, des Interesses, der Neugier, und nicht alles, was aus „dem Orient“ – oder der islamischen Welt – kommt, ist schlecht. Deshalb lohnt es sich, dieses Wort beizubehalten, mit seiner Doppeldeutigkeit spielerisch umzugehen.

Die andere Ebene ist die des Alltags. Auch da ist das Klischee vom Orient mal positiv, mal negativ. Das sollte man einfach so stehen lassen, allerdings versuche ich mit meinem Orientbegriff auch, den verwirrenden Unterschied zwischen dem Alltagsgebrauch und dem wissenschaftlichen, akademischen zu überbrücken. Und zwar indem ich nicht einfach jeden Gebrauch des Worts sprachpolizeilich kritisiere, wie es aktuell in allen Bereichen so gern gemacht wird, sondern vom faktischen Alltagsgebrauch ausgehe und ihn für mein Buch nutze. Etwa, indem ich darauf hinweise, dass es hilfreich sein kann, Unterschiede zu verstehen und zu benennen, ohne sie gleich zu bewerten oder die Diskussion darüber zu verbieten. Nehmen wir Ihr Beispiel: Eine deutsche Frau kann sich in bestimmten Kontexten durchaus positiv mit dem Orient identifizieren, und sie soll das auch dürfen. Dasselbe gilt natürlich auch umgekehrt: Jede Muslimin soll sich als Deutsche fühlen und verhalten dürfen, wenn sie das möchte. Die Kategorien und Klischees sind durchlässig geworden, und das ist gut so. Wenn sie aber in Wirklichkeit durchlässig sind, sollen sie es auch in der Sprache sein dürfen.

Hat sich seit Erscheinen der 1. Auflage Ihres Buchs das „utopische Potenzial in der Vorstellung vom ‚Orient“ erhalten oder verändert?

Das entscheidende Ereignis mit Bezug auf die islamische Welt in den letzten drei Jahren war natürlich der westliche Abzug, oder sagen wir Rausschmiss, aus Afghanistan. Damit ist der letzte große Versuch gescheitert, den „Orient“ von außen zu verwestlichen. Einen direkten Bezug zum Buch sehe ich nicht; allerdings könnte man sagen, dass wir es versäumt haben, den Afghanen, aber auch den Irakern, Syrern und vielen anderen zuzuhören und sie ernst zu nehmen. Hätten wir ihre Literatur gelesen – und ernst genommen, wie ich es im Buch versuche – wären Fehler wie in Afghanistan und Irak nicht passiert. Insofern hat die Literatur ein friedensstiftendes, Verständigung stiftendes, utopisches Potenzial. Aber nur, wenn wir sie ernst nehmen, nicht einfach nur als Unterhaltung, Vergnügen, Eskapismus begreifen, wie es allzu oft der Fall ist. Die Literatur, und die orientalische zumal, ist ein Archiv. Wenn wir es zu nutzen wissen, verstehen wir die Welt und durchbrechen unsere einseitige Sicht. Aber leider gefällt vielen diese Einseitigkeit. Sie haben Angst, ohne sie die Orientierung zu verlieren – oder sogar ihre heilige Identität –, wenn sie sich zu weit auf andere Sichtweisen einlassen. Genau das aber zu ermöglichen, will das Buch leisten, und darin ist es vielleicht tatsächlich utopisch. Aber ein bisschen Utopie erfrischt wie ein kühles Bad, gerade wenn der Sommer so heiß ist und die Realität so runterzieht, wie es aktuell der Fall ist.

Sie waren kürzlich in der „orientalischen“ Kulturmetropole Abu Dhabi … was ist Ihnen da aufgefallen?

Während bei uns der Buchmarkt und die Zahl der Leserinnen und Leser schrumpfen, handelt es sich in der arabischen Welt um einen Wachstumsmarkt. Natürlich wird bei uns aktuell mehr gelesen als in der arabischen Welt; aber eben: noch, und womöglich nicht mehr lange. Der Nachholbedarf an Literatur und Information in der arabischen Welt ist riesig, das Leser/innenpotenzial enorm: Bald könnten 300 Millionen Menschen zu möglichen Lesenden werden. Wenn nur 10 Prozent davon wirklich lesen und Bücher kaufen, sind das mehr als die, die das auf dem deutschsprachigen Markt tun, und der deutsche gilt als einer der lesefreudigsten der Welt. Entsprechend wird auch die arabische Literatur selbst wachsen. Ihre große Zeit steht womöglich erst noch bevor. Auch das Buch als Medium (und sei es als E-Book oder Pdf) ist dort wichtiger als bei uns, und zwar schon heute, einfach deshalb, weil die üblichen Massenmedien staatlich kontrolliert sind. Der Buchmarkt hingegen entzieht sich der Kontrolle, auch wenn immer mal wieder einzelne Bücher verboten oder zensiert werden, meist solche, die als besonders provokant empfunden werden. Aber diese Bücher sind oft gar nicht wichtig oder literarisch hochwertig. Wichtiger sind der Denkprozess und der Perspektivwechsel, den Literatur als solche anstoßen kann. Und das ist unzensierbar.

Erliegen die traditionellen Familienstrukturen – als Gesellschaftsmodell – nicht mehr und mehr dem westlichen Hyperindividualismus, der uns immer als Teil der „westlichen Werte“ verkauft wird?

Ich halte Familienstrukturen weniger für eine Frage der Werte als für eine der Gewohnheit und der wirtschaftlichen Möglichkeiten. Wenn wir die muslimischen Frauen „befreien“ wollen, müssen wir ihnen die Möglichkeit geben, eine bezahlte Arbeit zu haben, die ihnen ein ausreichendes Einkommen garantiert, um sich unabhängig zu machen, eine eigene Wohnung zu finden etc. Und das ist selbst in unseren Breitengraden immer noch schwierig. Es ist eine Frage der gerechten Verteilung des Wohlstands – aber wie wir wissen, werden die Reichen immer reicher, der Kuchen wird immer ungleicher verteilt, wie soll man sich da von den alten Strukturen, die immerhin materielle Sicherheit gewähren, unabhängig machen? Frauenbefreiung ist eine Klassenfrage. Pakistan hatte schon eine Ministerpräsidentin, als wir von einer Kanzlerin nur träumen konnten. Aber Benazir Bhutto kam (wie in Indien Indira Gandhi) aus einer der besten Familien des Landes. Da kann man es auch als Frau zu etwas bringen. Das ist keine Frage der Werte, sondern der Klasse. Aber ich gehe davon aus, dass jetzt, wo alles teurer wird und gleichzeitig nur die Reichen reicher, auch bei uns die Familienstrukturen wieder straffer werden, leider. Der Wertediskurs dient hier vor allem dazu, die wirtschaftliche Grundsituation zu verschleiern. Bloß keine Umverteilung, das wäre ja Sozialismus. Aber wie wir wissen, standen die Frauen im Sozialismus wesentlich emanzipierter da – übrigens auch in der arabischen Welt.

Wer hat wirklich Interesse daran, Afghanistan auszubluten?

Ich glaube, praktisch alle Nachbarländer Afghanistans, vor allem aber Iran und Pakistan, haben kein Interesse daran, dass es in dem Land aufwärts geht. Das ist wie mit Russland und der Ukraine. Eine prosperierende, demokratische, freie Ukraine würde zu einem Sehnsuchtsort für alle Russen werden, zumal sie ja dort ihre Sprache sprechen können. Genau dasselbe gilt für Afghanistan. Es könnte ein Zufluchtsort für alle frustrierten Iraner oder Pakistanis werden – und deren Sprachen werden dort bekanntlich ebenfalls gesprochen. Das aber wäre eine Gefahr für die autoritären Nachbarregime. Außerdem wollte man dort natürlich keine westlichen Truppen, westlichen Ideen. Die Taliban hingegen sind schwach und leicht zu kontrollieren. Ausbaden müssen das alles die Afghan-en selbst. Das ist tragisch.

Wie ist der orientalische Blick auf Deutschland im Gegensatz beispielsweise zu Italien oder Frankreich?

Deutschland zehrt immer noch von seinem Ruf als einstiger Gegner der Kolonialmächte England und Frankreich. Es gilt daher als ein Land, das nicht einfach mit dem imperialen, kolonialen Westen – verstanden als England, Frankreich, USA – gleichzusetzen ist. Mit anderen Worten: Das arabisch-islamische Deutschlandbild entspricht ganz sicher nicht unserem eigenen deutschen Nachkriegs-Selbstbild als Teil genau dieses Westens. Deutschland wird im Orient für das gemocht, was anders ist als das, wofür es heute selbst zu stehen glaubt. Dieses fremde Image Deutschlands, nämlich eine Art anderer, besserer, nicht imperialer Westen zu sein, wurde während der Flüchtlingskrise geschickt bespielt, auch von unserer Politik, von den Goethe-Instituten usw. Aber dieses Image ist ein gutes Stück Fake News, die wir dulden, weil sie uns nutzen. Nur gelegentlich platzt das Bild und die Wahrheit kommt zum Vorschein, etwa wenn Habermas sich zu fein ist, einen Preis aus Abu Dhabi anzunehmen wie 2021, und die ganze Presse ihm applaudiert, während unsere Wirtschaft aber beste Geschäfte dort macht, oder die Buchmesse einen aufwendigen Gastlandauftritt feiert wie in diesem Jahr zum Beispiel.

Der arabische Blick auf Frankreich und Italien ist dagegen ausgenüchtert und realistisch, entsprechend geringer die Gefahr von Missverständnissen. Das Missverständnis liegt aber nicht nur an einem falschen fremden Blick auf Deutschland, es ist tatsächlich auch Deutschlands unklares, ungeklärtes Selbstbild, das sich hier im Blick der anderen spiegelt — fast als verständen diese uns besser als wir selbst. Wir erleben ja dasselbe im Ukraine-Konflikt. Dabei hätte diese deutsche Gespaltenheit, die ja zugleich eine Offenheit und Mehrdeutigkeit ist, ein interessantes Potenzial für den Umgang mit der Welt. Das Problem ist nur, dass die Deutschen diese Offenheit und Unentschiedenheit verdrängen, sie nicht sehen wollen, Angst davor haben, nicht frei und unverfänglich damit umgehen.

Genau das erleben wir im Umgang mit der arabischen Welt derzeit ebenso wie mit der Ukraine. Sobald man sich gegen Waffenlieferungen oder gegen Israel äußert, bricht ein Sturm los. Was mich betrifft, ich bin gar nicht gegen Waffenlieferungen, und auch nicht pauschal gegen Israel. Aber ich bin gegen den Sturm, ich bin dagegen, dass man das nicht offen diskutiert, diskutieren will, ich bin gegen das mediale Mainstreaming und die unübersehbare Reduktion der Meinungsvielfalt bezüglich dieser Fragen — nicht in der Öffentlichkeit insgesamt, aber doch in den großen öffentlichen Foren, dem Fernsehen, den wenigen wichtigen Zeitungen etc.

In solchen Fragen wird die Literatur womöglich eines Tages zum Korrektiv, sie untersteht nicht derselben ideologischen Kontrolle und Selbstzensur wie diese großen Medien. Mit anderen Worten: so viel unterscheidet uns vielleicht gar nicht von den Literaturen des Orients, wo dieselbe Dynamik wirksam ist. Aber um das zu begreifen, müssen wir die Literaturen des Orients lesen. Unser „1001 Buch“ will dafür der Startschuss sein.

 

Stefan Weidner, geb. 1967 in Köln, studierte Islamwissenschaften, Germanistik, Philosophie in Göttingen, Damaskus, Berkeley. Er gilt als einer der maßgeblichen deutschen Islamwissenschaftler. Die einzigartige Gesamtdarstellung 1001 Buch. Die Literaturen des Orients, eine echte Schatzkammer, ist soeben in durchgesehener und korrigierter Neuauflage erschienen.

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