Die Erzählung vom „imperialistischen Aggressor“ Russland – Was ist da dran?
Die NATO rüstet auf. Der Grünen-Politiker und frühere Jugoslawien-Krieg-Befürworter Joschka Fischer forderte jüngst sogar noch mehr Atomraketen, um sich gegen Russlands „Imperialismus“ zu wehren. Diese Begründung ist blanker Unfug und soll vom realen westlichen Imperialismus ablenken.
Die Erzählung vom „imperialistischen Aggressor“ Russland – Was ist da dran?
Von Susan Bonath
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Die NATO rüstet auf. Der Grünen-Politiker und frühere Jugoslawien-Krieg-Befürworter Joschka Fischer forderte jüngst sogar noch mehr Atomraketen, um sich gegen Russlands „Imperialismus“ zu wehren. Diese Begründung ist blanker Unfug und soll vom realen westlichen Imperialismus ablenken.
Der Westen rüstet auf. Immer lauter tönt das Kriegsgeschrei der Herrschenden auch in Deutschland durch die Kanäle der Leitmedien: Mehr und noch mehr Kriegsgerät für die Bundeswehr, die Ukraine, Israel – die Rüstungskonzerne kassieren ab wie nie, bezahlen müssen die kleinen Leute mit immer mehr Sozialabbau. Ganz vorn mit dabei: der Grünen-Veteran Joschka Fischer. In der Zeit plädierte er sogar dafür, Europa möge sein Atomwaffenarsenal aufstocken – als gebe es davon nicht schon genug.
Seine Begründung dafür hat einen sprichwörtlichen langen Bart, denn deutsche Politiker und Medien beten diese Geschichte seit Langem rauf und runter: Man müsse aufrüsten, um allseits lauernde böse Feinde des „friedlichen“ NATO-Wertewestens, als schlimmsten Gegner vorneweg das „imperialistische Russland“, abzuschrecken. Und manch Leser mag bangen: Imperialisten wollen bekanntlich die halbe Welt erobern.
Doch der Imperialismus-Vorwurf ist reine Kriegspropaganda, eine Lüge oder besser: Eine Projektion vom eigenen „Dreck am Stecken“ auf ein Land, über dessen Bodenschätze der NATO-Westen nur allzu gern verfügen würde. Um das zu belegen, soll hier der allgegenwärtige Imperialismus-Begriff beleuchtet werden.
Fischer auf Linie mit Union, AfD, FDP und SPD
Zunächst: Fischer ist schon seit Ende der 1990er-Jahre als fanatischer Kriegstreiber bekannt. Damals stimmte er als Außenminister dem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg der NATO auf Jugoslawien zu. An vorderster Front wandelte er die Grünen von einer Antiatom- und Friedens- in eine rechte Kriegspartei um.
Damit liegt Grünen-Politiker Fischer auf einer Linie mit dem politischen Establishment. Für noch mehr Aufrüstung plädierten in der jüngeren Vergangenheit auch die CDU und CSU, die AfD, die FDP und sogar die ehemalige Arbeiterpartei SPD zunehmend vehementer. Fischers Forderung nach mehr Atomraketen ist dabei nur das „Sahnehäubchen“ des Wahnsinns obendrauf. Offiziell stehen bereits weltweit immerhin schon mehr als 12.500 Atomsprengköpfe zur planetaren Vernichtung bereit, wahrscheinlich sind es noch viel mehr.
Mehr 11.000 davon sollen alleine die USA und Russland besitzen, was eine Folge des „Kalten Krieges“ ist. Frankreich verfügt demnach über knapp 300, das Vereinigte Königreich über gut 200. Der Rest befindet sich demnach in China, Pakistan, Indien, Israel und Nordkorea. Das ist Wahnsinn: Laut einer Studie genügen bereits 100 Atombomben, um die Menschheit auszulöschen. Russland – ein „imperialistischer Aggressor“?
Auch Joschka Fischer begründete seine Forderung mit der bekannten Propaganda-Erzählung. Wörtlich sagte er der Zeitung:
„Wir müssen unsere Abschreckungsfähigkeit wiederherstellen. Solange wir einen Nachbarn Russland haben, der der imperialen Ideologie Putins folgt, können wir nicht darauf verzichten, dieses Russland abzuschrecken. Nur werden wir das nicht mit Schuldenbremse und ausgeglichenen Haushalten erreichen können.“
Mit anderen Worten: Russland agiere als einziges Land imperialistisch gegen den guten Westen, der demnach nicht imperialistisch sei. Deshalb müsse man Russland also bekämpfen, sonst erobere es womöglich noch ganz Europa, wird damit impliziert. Ein Blick auf die Definitionen des Begriffs und die Realität zeigt aber deutlich, wer tatsächlich imperialistisch agiert. Hier findet sich ganz vorn die NATO.
Der bürgerliche Imperialismus-Begriff
Zur Klärung sollen die bürgerliche und die marxistische Erklärung des Begriffs „Imperialismus“ beleuchtet werden. Die bürgerliche Definition, etwa geliefert von der Bundeszentrale für politische Bildung, ist so beschränkt wie banal: Imperialismus sei demnach nur eine kurze Epoche zwischen 1880 und 1918 gewesen, als vor allem europäische Kolonialmächte Asien und Afrika unter sich aufteilten.
Merkwürdigerweise beinhaltet diese Erklärung weder ökonomische Aspekte noch bezieht sie die Eroberung Amerikas durch weiße Europäer ein, inklusive Genozid an den Ureinwohnern und die später folgende brutale Versklavung afrikanischer Menschen. Aber bekanntlich war die herrschende Klasse schon immer sehr bestrebt, sich von ihren Untaten reinzuwaschen.
Bleibt man dennoch bei der bürgerlichen Definition, gilt es zu bewerten: Wer erobert heute Territorien und unterdrückt die Bevölkerungen? So offen wie zur Zeit der Kolonialherrschaft passiert das längst nicht mehr. Heute werden Kriegsbündnisse geschmiedet, die wirtschaftlichen und politischen Druck auf schwächere Länder ausüben, Regimewechsel vorantreiben, um letztlich die Kontrolle und Macht über Märkte auszuüben. Schließlich ist das Elixier des Kapitalismus der Profit für das obere eine Prozent, salopp gesagt.
Dazu fällt einem nun nicht etwa zuerst Russland, sondern die NATO unter Vorherrschaft der USA mit Militärbasen in aller Welt ein. Seit Jahrzehnten rückt sie in Europa stramm nach Osten vor und verleibte sich ein Land nach dem anderen ein. So ein Beitritt erfolgte nicht immer ganz so freiwillig wie es scheint, steht dahinter doch der Druck: Wenn ihr euch eingliedert, bezahlt und tut, was wir euch sagen, dann werden wir euch jedenfalls nicht überfallen. In Mafia-Kreisen nennt man so ein Vorgehen Schutzgelderpressung.
Somit kommt man selbst nach bürgerlicher Interpretation auf die Idee: Das NATO-Bündnis betreibt seit Jahrzehnten ganz klassischen Imperialismus, und das weit rabiater als möglicherweise Russland. Letzteres zog sich zum Beispiel immerhin 1991 freiwillig vom Gebiet der ehemaligen DDR zurück und entließ seine Ex-Sowjetrepubliken auf Wunsch in die Unabhängigkeit.
Darüber hinaus konzentrierte sich Russland nach der Ära Jelzin, die zunächst den Ausverkauf der Wirtschaft des Riesenlandes an den Westen vorangetrieben hatte, weitgehend auf nationale Interessen ohne größere Eroberungsambitionen. Sein Einschreiten in den Ukrainekonflikt, der nicht erst, aber besonders heftig seit 2014 brodelte und vor allem gegen russischsprachige und linke Ukrainer zielte, ist nicht nur, aber eben auch, eine Intervention gegen das NATO-Bestreben, sich noch die Ukraine einzuverleiben und dort gegen Russland in Stellung zu gehen. Es ist im Grunde also eine Intervention gegen den NATO-Imperialismus.
Der marxistische Imperialismus-Begriff
Der marxistische Imperialismus-Begriff ist umfassender und bezieht konkrete ökonomische Machtverhältnisse und -bestrebungen mit ein. Marxisten definieren Imperialismus als „höchstes Stadium des Kapitalismus“, wie es Lenin formulierte. Grundvoraussetzung für Imperialismus ist demnach Kapitalismus und die fortschreitende Monopolisierung des Kapitals: Die Vermögen konzentrieren sich zunehmend bei den mächtigsten Kapitalfraktionen, das Industriekapital verschmilzt mit dem Geldkapital, das daraus hervorgehende Finanzkapital verbündet sich zunehmend mit den Staatsapparaten und ihrer Politik.
Durch das Zusammenwachsen von Monopolkapital und Staatsführungen entstehen dieser Theorie zufolge imperialistische Staaten, die zu konkurrierenden Machtblöcken heranwachsen. Die Konkurrenz findet fortan vor allem zwischen diesen Staaten und Blöcken statt, immer weniger beziehungsweise nur noch sekundär zwischen einzelnen Unternehmen. Die Konkurrenz verschiebt sich demnach, angetrieben durch sich selbst, immer mehr auf diese höhere Ebene.
Kapitalexport, Krieg und Markteroberung
Das vorrangige Merkmal imperialistischer Staaten ist nach Auffassung von Marxisten der sogenannte Kapitalexport in arme Länder, um diese ökonomisch auszubeuten. Denn das Elend in diesen Ländern sorgt für billige Arbeitskräfte, die unter teils erbärmlichen Arbeitsbedingungen für billigen Import von Rohstoffen in die Industrienationen sorgen. Die imperialistischen Akteure eignen sich praktisch die Märkte dieser armen Länder an und schalten sie als Konkurrenz aus.
Diese Entwicklung, so heißt es, trete automatisch ein im Kapitalismus. Und sie schreite stets voran, sofern nicht eine politische Klasse dies entschieden verhindert, etwa durch striktes Reglementieren der Oligarchen und Monopolisten, zum Beispiel über Steuern und Abgaben, um die zunehmende Kapital-, Vermögens- und Machtkonzentration zu bremsen und ausufernde Wirtschaftskriege einzudämmen.
Die Triebkraft für die Entwicklung hin zu Monopolen und Imperialismus ist demzufolge der sogenannte tendenzielle Fall der Profitrate. Vereinfacht gesagt, beschreibt es folgende These: Durch die technologische Entwicklung kann das Kapital mit immer weniger Arbeitern immer billiger immer mehr produzieren, sich also schneller und günstiger verwerten. Dabei verarmen aber immer mehr Menschen durch wachsende Arbeitslosigkeit. Die Kaufkraft sinkt, es kommt zur Überproduktion, der Wert der Einzelware sinkt.
Dem versucht das Kapital entgegenzuwirken, zum Beispiel durch geplante Obsoleszenz (bewusste Verkürzung der „Lebensdauer“ von technischen Geräten, um mehr verkaufen zu können) oder eben Vernichtung riesiger Mengen überproduzierter Waren, darunter Lebensmittel, wie Getreide. Dennoch führe dies unweigerlich und unabhängig von Inflation, kurzen Aufschwungphasen und zuweilen hohen Einzelprofiten dazu, dass die erzielbaren Profitraten für das Kapital im Laufe der Zeit abnehmen.
Die Folgen: Investitionen werden unrentabler, Wirtschaftskrisen rollen immer heftiger über den globalen Markt, der Mittelstand wird in die Pleite getrieben und schrumpft und die Vermögen konzentrieren sich noch schneller ganz oben. Die Monopole wachsen und werden mächtiger. Das ist tatsächlich ein sichtbarer Trend.
Die bislang praktizierten imperialistischen Gegenstrategien sind ebenfalls bekannt: Überausbeutung des Globalen Südens, Wirtschaftskriege und letztlich Kriege mit Waffengewalt, die für Kapitalzerstörung und anschließende Wiederaufbauphasen sorgen, welche die Profitraten kurzzeitig ankurbeln können. Doch diese Strategien haben nicht nur für die Lohnabhängigen in der „Dritten Welt“ ihren Preis: Die Armut wächst auch in den westlichen Industrienationen rasant, die Imperien reagieren darauf mit noch mehr Sozialabbau.
Wie imperialistisch agieren die kapitalistischen Akteure?
Nun lässt sich die Welt nicht einfach in Gut und Böse aufteilen, wie es westliche Propagandisten meist tun. Kein Staat existiert im luftleeren Raum, es bestehen ökonomische Abhängigkeiten, jeder Akteur muss mit den globalen Machtverhältnissen umgehen. Man findet sowohl im kapitalistischen Russland als auch im teilweise kapitalistischen China einzelne imperialistische Elemente, vor allem in Form eines gewissen Kapitalexports.
Allerdings ist auch ersichtlich, dass in beiden Staaten die politischen Führungen das Großkapital stärker kontrollieren, als dies in den westlichen und vielen weiteren Ländern der Fall ist. Beide Mächte agieren weit weniger aggressiv als NATO-Staaten im Umgang mit dem Globalen Süden. Ihre Bestrebungen – siehe etwa BRICS – zielen offenkundig vor allem darauf ab, wirtschaftliche und politische Bündnisse zu schmieden mit Entwicklungsstaaten, um der NATO unter Führung der USA eine ökonomische Macht entgegenzusetzen.
Im globalen Kapitalismus ist eigene wirtschaftliche und politische Stärke eine zentrale Notwendigkeit, um nicht brutaler wirtschaftlicher Erpressung oder gar einem organisierten Regimewechsel zum Opfer zu fallen, den die USA bekanntermaßen bereits notorisch – mal mehr, mal weniger erfolgreich – zu betreiben versuchen, und als Vasall der stärksten imperialistischen Supermächte zu enden.
Verharmlosung imperialistischer Unterdrückung
Die NATO-Staaten verkleiden ihre imperialistischen Ambitionen freilich mit verharmlosenden Floskeln: Ihre Kriege nennen sie „Militärinterventionen“, mit der angeblichen Absicht, den Überfallenen Demokratie zu bringen – was selten gelang und – man blicke etwa nach Libyen oder Afghanistan – regelmäßig in Chaos, Zerrüttung und Verelendung mündete. Ihren massenhaften Kapitalexport, der in Wahrheit dem fortgesetzten Ausplündern der armen Länder dient, verniedlichen sie als „Investitionen“.
So berichtete etwa die Industrie- und Handelskammer (IHK) Mittlerer Niederrhein 2017, dass US-Konzerne ihr „Investment“ in Afrika „deutlich verstärkt“ hätten und fabulierte metaphorisch vom „Investorenland“ USA und „Engagements“ ihrer „Privatwirtschaft“. Das heißt nichts anderes, als dass die USA die Ausbeutung des afrikanischen Kontinents verschärfen.
Deutschland ist auf demselben Trip: Ende letzten Jahres meldete zum Beispiel das Handelsblatt ähnlich irreführend: „Deutsche Unternehmen wollen mehr in Afrika investieren“. Im Text heißt es: „Vor allem rohstoff- und sonnenreiche Länder sind dabei interessant.“ Das sagt alles: Natürlich geht es darum, noch mehr billige Ressourcen aus dem unter Armut, Elend und politischer Destabilisierung leidenden Süden zu pressen.
Verdrehte Wirklichkeiten
Wie nun Joschka Fischer auf die Implikation kommt, Russland sei ein imperialistischer Aggressor gegen den „guten“ (also nicht imperialistischen?) Westen, bleibt sein Geheimnis. Bei seinen früheren Aktivitäten in einer selbsterklärt linksradikalen militanten Gruppe kann er wohl kaum zu einer solchen, die Realität verkehrenden Auffassung gekommen sein.
Vielleicht hat Joschka Fischer seine Floskeln ja einfach nur beim politischen Establishment abgekupfert, um Pluspunkte für seine Partei bei der kriegswilligen herrschenden Klasse zu sammeln. Man weiß es nicht. Mitregieren ist bekanntlich angesagt, Opposition ist, bis auf hin und wieder ein paar zornige Reden, weitgehend out – von der Linken bis hin zur AfD. Der Weg der Assimilation, den die Grünen nahmen, ist klassisch für aufstrebende deutsche Parteien.
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