Die EU darf nicht länger tatenlos zusehen, wie sich in Gaza ein Horror abspielt und das Westjordanland „gazaisiert“ wird Josep Borrell Fontelles

Josep Borrell: „Semana de pasión en Gaza“

Dieser Text von Josep Borrell, ehemaliger Hoher Vertreter der Europäischen Union für Außen- und Sicherheitspolitik und ehemaliger Vizepräsident der Europäischen Kommission, erschien am Ostersonntag, 20. April 2025, in der spanischen Zeitung El Pais unter dem Titel „Semana de pasión en Gaza“

Der deutsche Text basiert auf der französischen Übersetzung, die Claude Gregoire vom ‚Comité pour une Paix Juste au Proche-Orient‘, Luxemburg, angefertigt hat.

https://www.pressreader.com/spain/el-pais-1a-edicion-1244/20250420/281685440693306

Die EU darf nicht länger tatenlos zusehen, wie sich in Gaza ein Horror abspielt und das Westjordanland „gazafiziert“ wird.

Am 18. März brach Netanjahu wenige Tage vor der Amtseinführung Trumps die vereinbarte Waffenruhe.

Eine Welle von Bombardierungen forderte innerhalb weniger Stunden mehr als 400 Tote. Damit sicherte Netanjahu sich sein politisches Überleben, weil die Fortsetzung des Krieges Bedingung seines rechtsextremen Verbündeten Smotrich zum Erhalt der Regierungskoalition war.

Seitdem sind Tausende weitere palästinensische Zivilisten ums Leben gekommen, darunter überwiegend Frauen und Kinder, auch das Leben der noch lebenden Geiseln wird durch solche Angriffe gefährdet.

Eine totale Blockade und eine allgemeine Hungersnot in einem apokalyptischen Kontext, in dem die Mehrheit der Gebäude und Infrastrukturen zerstört wurden, haben eine bereits dramatische Situation katastrophal verschlimmert.

Alle sind sich über diese schreckliche Diagnose einig. Die Vereinten Nationen warnen, dass die Situation in Gaza den kritischsten Stand seit Kriegsbeginn erreicht hat.

Zwei Tage später erklärte der israelische Verteidigungsminister Israel Katz erneut: „Keine humanitäre Hilfe wird nach Gaza gelangen“, wo die letzte Entsalzungsanlage nicht mehr funktioniert.

Die NGO ‚Ärzte ohne Grenzen‘ hat Gaza als Massengrab für Tausende von Gazanern bezeichnet sowie „auch für diejenigen, die versuchen, ihnen zur Hilfe zu kommen.“

Zwölf der größten internationalen humanitären Nichtregierungsorganisationen haben gerade gemeinsam einen Alarmruf veröffentlicht. Niemand scheint ihn  zu hören.

Smotrich bekräftigte die Worte von Katz und erklärte, dass jeglicher Druck ausgeübt werde, um „die Menschen in den Süden Gazas zu evakuieren und den Plan von Präsident Trump zur freiwilligen Migration für die Bewohner Gazas umzusetzen“.

Ein Plan, von dem Katz, als damaliger Außenminister, uns bereits Anfang 2024 in der EU erzählt hatte. Die Armee hat die Hälfte des Territoriums eingenommen und zwei Drittel Gazas unter Evakuierungsbefehl gestellt, die in „verbotene Zonen“ umgewandelt wurden, ebenso wie die Grenzstadt Rafah.

Ziel ist es, die Voraussetzungen für die größte ethnische Säuberungsaktion seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs zu schaffen.

Der Satz „Kein einziges Korn Weizen wird nach Gaza gelangen“ ist ein offensichtlicher und vollständiger Verstoß gegen das humanitäre Völkerrecht, denn die Vernichtungsabsicht ist unübersehbar, was der Internationale Strafgerichtshof mit der Ausstellung des Haftbefehls gegen Netanjahu und seinen ehemaligen Verteidigungsminister bereits als solche anerkannte. Dieser Völkermord ist nicht weniger schwerwiegend als die Genozide von Srebrenica und Uganda.

Gleichzeitig führt die Armee im Westjordanland ihre größte Offensive seit Jahrzehnten durch. Mehr als 40.000 Palästinenser wurden im Norden des Gebiets gewaltsam vertrieben. Damit werden die Pläne der rechtsextremen Abgeordneten offensichtlich, die die Ausweitung der nach internationalem Recht illegalen Siedlungen vorantreiben.

Am 23. März hat die Regierung dreizehn dieser gegründeten Siedlungen legalisiert. Die fundamentalistische extreme Rechte hofft, dass Trump ihre Pläne zur teilweisen oder vollständigen Annexion des Westjordanlandes unterstützen wird, was die Tür zur Gründung eines palästinensischen Staates endgültig verschließen würde.

In Spanien und fast ganz Europa sind wir im Urlaub und beschäftigen uns mit Trumps Zollandrohungen. Von Gaza spricht man nicht mehr.

Doch plötzlich weckt das Foto eines Kindes aus Gaza mit beiden amputierten Armen, das einen internationalen Preis gewonnen hat, erneut die Emotionen. Ja, deshalb hindern sie uns daran, die Fotos zu sehen. Aus den Augen, aus dem Sinn. Genauso wie der Tod der Fotografin Fatima Hassouna, die die Protagonistin eines Films war, der für die nächsten Filmfestspiele von Cannes ausgewählt worden war. Aber, mein Gott, es ist nicht ein Kind, nicht hundert, nicht tausend Kinder, die unter grausamen Umständen in Gaza gestorben oder verstümmelt worden sind, sondern Tausende.

Gaza ist Krieg gegen Kinder. Das Foto eines dieser Kinder bringt uns zu Krokodilstränen, aber das Ausmaß der Tragödie scheint uns nicht zu berühren. Währenddessen wird Netanjahu in Washington und Budapest – einem europäischen Land, das bis gestern noch Unterzeichner des Internationalen Strafgerichtshofs war – mit allen Ehren empfangen.

Trotz der zahlreichen Resolutionen der Vereinten Nationen und den Entscheidungen des Internationalen Strafgerichtshofs ist es mir als Hoher Vertreter der EU für Außenpolitik nicht gelungen, den Rat oder die Kommission dazu zu bewegen, auf die massiven und wiederholten Verstöße gegen das Völkerrecht und das humanitäre Recht durch die Regierung Netanjahu zu reagieren, im Gegensatz zu unserem Vorgehen angesichts der Aggression Putins gegen die Ukraine.

Bis zum Ende meiner Amtszeit konnte ich feststellen, wie sehr diese Politik der Doppelmoral die Position der EU in der Welt geschwächt hat, nicht nur in der muslimischen Welt, sondern auch in Afrika, Lateinamerika und Asien…

Spanien und einige wenige andere europäische Länder haben ihre Stimme erhoben und die Kommission aufgefordert, zu prüfen, ob dieses Verhalten mit den Verpflichtungen aus dem Assoziierungsabkommen vereinbar ist.

Als Antwort erhielten sie nur Schweigen. Das schlechte Gewissen einiger europäischer Länder in Bezug auf den Holocaust, das zu einer „Staatsräson“ geworden ist, um die bedingungslose Unterstützung Israels zu rechtfertigen, könnte uns zu Komplizen von Verbrechen gegen die Menschlichkeit machen.

Ein Grauen rechtfertigt kein anderes. Und wenn wir nicht wollen, dass die Werte, die wir zu verteidigen vorgeben, jegliche Glaubwürdigkeit verlieren, kann die EU nicht weiterhin dem Grauen in Gaza und der „Gazafizierung“ des Westjordanlands tatenlos zusehen.

Entgegen der öffentlichen Debatte und trotz des völligen Mangels an Empathie einiger ihrer Verantwortlichen verfügt die EU über zahlreiche Hebel gegenüber der israelischen Regierung: Wir sind ihr wichtigster Handelspartner in Bezug auf Investitionen und den Austausch von Personen. Wir liefern mindestens ein Drittel der Waffen, die sie einsetzt, und haben mit Israel das umfassendste Assoziierungsabkommen geschlossen. Aber auch dieses ist, wie alle anderen, an die Einhaltung des Völkerrechts und insbesondere des Humanitären Rechts gebunden.

Wenn wir wollen, können wir handeln. Und wir haben schon zu lange gewartet. Viele Israelis, die sich bewusst sind, dass Netanjahus Flucht nach vorn langfristig die Sicherheit und das Überleben des Staates Israel gefährdet, wären uns dafür dankbar.

Josep Borrell Fontelles ist ehemaliger Hoher Vertreter der Europäischen Union für Außen- und Sicherheitspolitik und ehemaliger Vizepräsident der Europäischen Kommission

 

 

 

 

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