„Kündige doch einfach!“ – Alternativmedium „The Daily Wire“ fetzt sich wegen Israel Von Elem Chintsky

„Kündige doch einfach!“ – Alternativmedium „The Daily Wire“ fetzt sich wegen Israel

Die Causa um Israel und Palästina hat in Ländern, Redaktionen, Familien und Köpfen für hitzige Emotionen gesorgt. Nun ist auch Ben Shapiros Medium auf dem Prüfstand: Nicht alle dort sind Zionisten. Müssen aber alle dort Zionisten sein, um weiter Bericht erstatten zu können?

„Kündige doch einfach!“ – Alternativmedium „The Daily Wire“ fetzt sich wegen Israel

Von Elem Chintsky

Die Causa um Israel und Palästina hat in Ländern, Redaktionen, Familien und Köpfen für hitzige Emotionen gesorgt. Nun ist auch Ben Shapiros Medium auf dem Prüfstand: Nicht alle dort sind Zionisten. Müssen aber alle dort Zionisten sein, um weiter Bericht erstatten zu können?
Denjenigen, die sich auch im US-amerikanischen Medienspektrum informieren, ist das wertkonservative Medienportal The Daily Wire sicherlich ein Begriff. Und genau dort ist jetzt eine weltanschauliche Spaltung epischer Größenordnung im Gang.

Eines der populärsten Gesichter auf Shapiros Plattform, Candace Owens, hat mit ihrer wiederholten Kritik gegenüber Israel – wegen des Genozids an den Palästinensern im Gazastreifen – gegen bisher ungeschriebene Redaktionslinien verstoßen.

Alles begann mit der Veröffentlichung eines TikTok-Videos, das Shapiro auf einer Privatveranstaltung zeigt, wo man ihn dabei sieht, wie er die bisherige Kommentierung des Israel-Hamas-Krieges durch seine Angestellte Owens kommentiert. Unter anderem fallen Begriffe wie „absolut schändlich“ und sprach davon, dass „ihre falsche Sachkenntnis in diesen speziellen Fragen lächerlich“ sei.

Einer der Kommentare von Owens, auf die sich wohl der Chefredakteur von The Daily Wire bezog, ist dieser Tweet von Anfang November:

„Keine Regierung, wo auch immer, hat das Recht, einen Völkermord zu begehen, niemals.

Es gibt keine Rechtfertigung für einen Völkermord.

Ich kann nicht glauben, dass dies überhaupt gesagt werden muss oder auch nur als ein kleines bisschen kontrovers angesehen wird.“

Als Owens von dem geleakten Video Shapiros erfuhr, zitierte sie auf Twitter aus dem Matthäus-Evangelium des Neuen Testaments, Kapitel 5, Verse 9–11, und Kapitel 6, Vers 24:

„Selig sind die Friedfertigen; denn sie werden Gottes Kinder heißen! Selig sind, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden; denn ihrer ist das Himmelreich! Selig seid ihr, wenn sie euch schmähen und verfolgen und lügnerisch allerlei Arges wider euch reden um meinetwillen!

Niemand kann zwei Herren dienen, denn entweder wird er den einen hassen und den anderen lieben, oder er wird dem einen anhängen und den anderen verachten.

Ihr könnt nicht Gott dienen und dem Mammon [Geld]!”

Der orthodoxe Jude und überzeugte Zionist Ben Shapiro bezog richtigerweise diesen Tweet auf sich, als er daraufhin auf derselben Plattform irritiert erwiderte:

„Candace, wenn du das Gefühl hast, dass das Geld, das du von The Daily Wire nimmst, irgendwie zwischen dich und Gott gerät, dann kündige doch einfach.“

Der Schlagabtausch ging aber noch weiter. Owens behauptete, dass die Bibelzitate gar nichts mit Shapiro zu tun gehabt hätten, was aber selbst Beobachter, die ihre Position teilen, nur schwer glauben können. Der Kontext ist klar, dass sie sich als ein Mensch sieht, der einen Waffenstillstand unterstützt und das Gemetzel von palästinensischen Zivilisten durch die israelischen Streitkräfte beendet sehen möchte – also sich in der Kategorie der „Friedfertigen“ beziehungsweise der „Friedensstifter“ sieht, die Jesus zwar segnet, aber auch davor warnt, dass sie dafür verfolgt werden.

Wichtig ist, dass die rechtskonservative Christin und Moderatorin daraufhin in die Show von Tucker Carlson eingeladen wurde, in der sie das erste Mal vor der Kamera die Aussagen Shapiros über ihre Person kommentierte:

„Ich kann nicht über das hinausgehen, was er sagt, denn es sind nur Angriffe ad hominem. Ich kann nicht auf intellektueller Ebene darauf reagieren, weil es nichts gibt, was er zum Ausdruck gebracht hat – zumindest in diesem kurzen Clip –, mit dem er in Bezug auf das, was ich gesagt habe, grundsätzlich nicht einverstanden ist.“

Die gesamte Einschätzung von Owens lautete in Kürze so:

„Wenn ich das wäre und auf einem Video erwischt würde, wie ich so etwas über Kollegen sage, mit denen ich zusammenarbeite, wäre mir das peinlich. Ich denke daher, dass das Video mehr über Bens Charakter aussagt als über meinen.“

Schließlich richtete Owens einen vorerst letzten Appell an ihren Vorgesetzten:

„Du verhältst dich nun schon seit Wochen unprofessionell und bist emotional aus dem Gleichgewicht geraten. Und wir alle mussten uns zurücklehnen und es hinnehmen und haben versucht, mehr als nur Verständnis für deine rohen Emotionen aufzubringen.

Aber du überschreitest eine gewisse Grenze, wenn du dich auf die Schrift berufst und dich in sie hineinliest.

Ich werde das nicht dulden.“

Sofern keine rechtzeitige Mediation eingeleitet wird, droht die Fehde zwischen Shapiro und Owens zu eskalieren. Der jüngste Programmschritt von Owens, den US-Historiker und Experten zum israelisch-palästinensischen Konflikt, Norman Finkelstein, in ihre jüngste Freitagssendung live auf YouTube einzuladen, könnte ein weiterer riesiger Tropfen in das mittlerweile fast übervolle Fass sein. Owens gibt ihrem Gast die für sie typische, ausschweifende Äußerungsfreiheit und merkt an, dass sie selbst bemüht ist, beiden Sichtweisen auf den Konflikt auf ihrer Plattform Raum zu geben, denn sie selber habe großen Nachholbedarf und Wissenslücken im Hinblick auf den Nahost-Konflikt.

Eine ehrliche Vogelperspektive auf The Daily Wire

In fast allem sind sich die wichtigsten Mitarbeiter Ben Shapiros – also Michael Knowles, Matt Walsh, Andrew Klavan, Jordan B. Peterson und Candace Owens – einig: in der scharfen Kritik an der Übergriffigkeit des Staates (zum Beispiel gegen den Impfzwang in der COVID-19-Zeit), in einem geerdeten Theismus in der abrahamitisch-monotheistischen Tradition sowie in der Befürwortung eines radikalen Maßes an Selbstverantwortung des Individuums gegenüber einem kollektiv-etatistischen Solidaritätsgefühl, das auf falschen Prämissen fußen könnte und dieselben nicht in Frage stellen darf, da sie vom Staat selbst kuratiert werden.

Grob erinnert die philosophisch-ökonomische Ausrichtung des Daily Wire an Denker und Philosophen wie Russell Kirk, Roger Scruton, aber auch Murray Rothbard – natürlich in moderner, konsumfreundlicher Ausführung. Im deutschen Sprachraum würden diese Positionen denen eines Norbert Bolz oder Erik von Kuehnelt-Leddihn ähneln. Im Klartext heißt das, dass in deren Analysen und Polemiken die linksprogressive Programmatik, der Globalismus und der damit einhergehende Souveränitätsabbau von Nationalstaaten (wie durch die Europäische Union versinnbildlicht), linksliberaler Werteimperialismus und somit selektive Werterelativität (also konservative Werte als veraltet und faschistisch darzustellen, gleichzeitig die unbewiesenen neuen, progressiven Werte als erhaben zu deklarieren), die einen lediglich geheuchelten, neoliberalen Pluralismus demaskieren, alle Facetten der „Wokeness“ sowie die Hysterie um die Klimarettung aufs Schärfste verurteilt werden.

Zum Programm von Shapiros Plattform gehört demnach auch die Kritik an einer naturalistisch-reduktiven Ethik, welche sowohl die massenhafte Abtreibung als vermeintlich herkömmliches Verhütungsmittel (andere Arten der camouflierten Eugenik wie staatlich schmackhaft gemachte Euthanasie), die Auflösung der klassischen Familie als ältester Institution der Menschheit, die Propagierung der LGBT-Doktrin, als auch die immer aufdringlichere, zentral vom Staat veranlasste Frühsexualisierung von Kindern regelmäßig umfasst.

Es gibt natürlich auch verschiedene Grade der Abwechslung bei den einzelnen Daily Wire-Kommentatoren. Ben Shapiro zum Beispiel lässt, bei all seiner scharfen Verurteilung der US-amerikanischen Innenpolitik, oft die zivilisatorische Überlegenheit der USA in seinen geopolitischen Kommentaren durchscheinen, besonders wenn er Russland und China mit deren wachsender Autonomie anprangert und sich plötzlich – wenn auch nur kurzzeitig – inmitten der westlichen Mainstream-Medien wiederfindet. Bereits hier grenzte sich Candace Owens ideologisch ab, in dem sie zum Ukrainekrieg eine viel gemäßigtere und ausgeglichenere Position vertrat. Grundsätzlich ist aber das ganze Kollektiv des Daily Wire wirtschaftspolitisch kritisch gegenüber all dem vergeudeten Steuergeld, das die USA spätestens seit Februar 2022 in die Ukraine gepumpt haben.

Die Moderatoren Knowles und Walsh dagegen sind praktizierende Katholiken, die aber nicht als nominale Mitglieder der römisch-katholischen Kirche bezeichnet werden können – sie sind, wie ihre Kollegen Klavan und Owens, beide bewusste Christen, die an Jesus Christus als Sohn Gottes und fleischgewordenes Wort Gottes glauben und diesen Fakt regelmäßig in ihrem Programm benennen. Das allein ist aber beileibe kein Anlass für Konflikte, da Ben Shapiro selbst in seiner TV-Show in der Vergangenheit christliche Philosophen und Theologen wie William Lane Craig einlud und diesen ziemlich weitreichend Redefreiheit gab, die christliche Frohe Botschaft unzensiert zu artikulieren, woraufhin der neugierige Shapiro die jüdisch-orthodoxe Messias-Forschung und Exegese in der talmudischen Tradition als Gegengewicht im Gespräch anbot. Und zwar in einem Umfang und einer medialen Reichweite, die in einem deutschen Kontext seit vielen Jahren schon völlig unerhört und unvorstellbar wäre.

Der preisgekrönte US-Schriftsteller Klavan ist ein ethnischer Jude, der Jesus Christus im Rahmen der Anglikanischen Kirche Nordamerikas als seinen Messias angenommen hat und somit dem Christentum beigetreten ist. Auch hier: keinerlei offene Konflikte mit Shapiro. Owens ist die einzige Protestantin in der Gruppe, wobei ihr Ehemann Katholik ist. Alle von ihnen – sowie auch ihr Chef, Ben Shapiro – haben ihre eigenen Kanäle auf YouTube, gehören aber vertraglich dem The Daily Wire-Netzwerk an.

Einerseits hat Shapiros kleines Medienimperium sich vor einiger Zeit das Credo „Redefreiheit über alles“ und „Den Fakten sind deine Gefühle egal“ auf die Fahne geschrieben – andererseits muss man einsehen, dass jede Plattform notgedrungen irgendwann an ihre Grenzen stößt. Tatsache bleibt aber, dass das Œuvre des Teams selbst für eine proaktive Mühe spricht, Stimmen und Meinungen zu Wort kommen zu lassen, die bei CNN, BBC, PBS, MSNBC oder auch ARD und ZDF niemals auftauchen würden.

Ist Candace Owens der einzige „faule Apfel“ bei The Daily Wire?

Der Kollege Matt Walsh ist zwar bisher nicht so transparent und konsequent wie Owens, hat aber von einer etwas anderen Perspektive die israeldominierten Narrative in den USA bemängelt. Walsh – als einer der Macher des Dokumentarfilms „What is a Woman?“ („Was ist eine Frau?“) – ist mit dem derzeit zugespitzten „Israel first“-Framing („Israel zuerst“) der US-Massenmedien, wie es auch US-Politikerinnen wie Nikki Haley durch und durch internalisiert haben, nicht einverstanden. Womöglich ist er auch deswegen noch nicht offen auf Kriegsfuß mit Shapiro, obwohl angenommen werden kann, dass der zionistische Chefredakteur mit seinem Co-Gründer Jeremy Boreing bereits auch hier seine Notizen erstellt.

Es gibt sogar einen vernünftigen israelkritischen Blog-Post von Walsh von vor zehn Jahren namens „Bow Before Israel (unless you’re an anti-Semite)!“ („Verneigt euch vor Israel (es sei denn, ihr seid Antisemiten)!“). Die HTML-Information gibt das Publikationsdatum des 1. Juli 2013 an. Darin polemisiert er den Umstand, dass es nicht ausreiche, wenn der damals neu von Barack Obama ernannte Verteidigungsminister Chuck Hagel darauf besteht, dass riesige Haushaltsgelder den US-Bürgern zukommen sollten statt dem Staat Israel (und dass die politische US-Regierungssphäre von einer Israel-Lobby beeinflusst wird), um Leute öffentlich als „Antisemiten“ zu denunzieren. Im Jahr 2017, also knapp vier Jahre nach dem Post, trat Walsh trotzdem dem Team von Shapiros Content-Machern von The Daily Wire bei. Grundsätzlich spräche dieses Detail dafür, dass es keine explizite Klausel in den Arbeitsverträgen gab, Israel bei politischen Einschätzungen um jeden Preis stets den unmissverständlichen Vortritt zu überlassen. Da dieser Krieg aber alle Normen des Diskurses gesprengt hat, zieht sich eine Linie im Sand und das Kommen einer solchen Klausel scheint nicht mehr so abwegig.

Einen Streber hat Ben Shapiro in seinem Kollektiv dann doch

Ganz anders verhält es sich wiederum mit dem öffentlichen intellektuellen und klinischen Psychiater und Psychoanalytiker Jordan B. Peterson, der Ende Oktober erstmals gründlich seine Position zum Krieg erläuterte. Darin ist zu erkennen, dass er weitestgehend die Kausalkette des israelischen Narrativs wiederholt und vertritt. Der Angriff der Hamas auf Israel vom 7. Oktober sei hauptsächlich eine Aktion Irans gewesen – als „verzweifelte“ Reaktion auf die von Donald Trump im Herbst 2020 eingeleitete „Abraham Accords Declaration“.

In den Jahrzehnten vor dem 7. Oktober 2023 gab es laut Peterson keinerlei Probleme: keine Okkupation oder Blockade des Gazastreifens durch Israel, keine Okkupation von Ost-Jerusalem seit 1967 durch Israel, keine illegale Siedlungspolitik Israels in den palästinensischen Gebieten. Die Hamas und die Palästinenser als Volk hätten sich unnötigerweise von Iran instrumentalisieren lassen, so der bekannteste Mitarbeiter von The Daily Wire. Den Ausführungen Petersons ist fast zu entnehmen, dass dieser „Frieden“ auf Basis von Trumps „Abraham Accords Declaration“ so allumfassend gewesen wäre, dass dieser auch das palästinensische Volk mit „gesegnet“ hätte. Wie man das aber vorwegnehmen kann (ohne die Zwei-Staaten-Lösung auch nur einmal in den Mund genommen zu haben) bleibt schleierhaft.

Zumal derselbe Donald Trump als Staatsoberhaupt der USA stolz die gesamte Stadt Jerusalem (mitsamt Ost-Jerusalem als Hauptstadt Palästinas) schon im Dezember 2017 als Hauptstadt Israels anerkannte. Dieser singuläre Akt hat Trump zum größten Zionisten der letzten 100 Jahre gemacht – also seit Arthur Balfour, der als britischer Außenminister den Rothschilds als damals führenden Zionisten das Land Palästina in kolonialistischer Manier für die europäischen und nordamerikanischen Juden reservierte. Auch bedient sich Peterson plötzlich der Narrative von klar „autoritären Regimen“ in der muslimischen Welt (besonders in Iran) und „freiheitlicher, liberaler Gesellschaften im Westen und in Israel“, um eine vereinfachte und teils falsche Gegenüberstellung zu skizzieren. Ist es doch gerade Peterson, der seit 2017 eine präzedenzlose Medien-Karriere damit macht, totalitäre und unfreiheitliche Entwicklungen, wie zum Beispiel die Hoheitsstellung der LGBT-Doktrin, im Innern des Westens anzufechten und zur Umkehr und Aufklärung aufruft.

Wären nicht Iran und Joe Bidens Regierung, dann wären Länder wie Saudi-Arabien auch bereits längst Unterzeichner der „Abraham Accords Declaration“ und ein genereller Nahost-Frieden zum Greifen nah, spekuliert der Autor von „12 Rules For Life: Ordnung und Struktur in einer chaotischen Welt“ (2018) weiter. Mit seinem Gesprächspartner, dem britischen TV-Moderator Piers Morgan, reden sie über die Bildergewalt der „Gräuelpropaganda“, welche angeblich unfairerweise der palästinensischen Sache dient und so viele Menschen im Westen gegen Israel aufhetzt – verpassen aber die Tatsache zu erwähnen, dass es Israel ist, welches in diesem Bilderkrieg weitaus unaufrichtiger und opportunistischer vorgeht. Ben Shapiro selbst gab ein gutes Beispiel dafür ab, indem er wenige Tage nach dem 7. Oktober ein KI-generiertes Bild als Fotobeweis für ein von der Hamas verkohltes jüdisches Baby veröffentlichte.

Peterson hat schon in seinem bekannten Interview mit dem Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu bewiesen, dass er den historischen und religiösen Kontext der Geschichte des israelisch-palästinensischen Konfliktes seit mindestens 1917 ausgesprochen einseitig auslegt – zugunsten des Zionismus und ohne die Existenz einer legitimen palästinensischen Perspektive anzuerkennen. Er baut falsche Dichotomien auf, in dem er behauptet, dass all die jetzige Israel-Kritik im Westen grob auf „eine dogmatische, internationale Linke“ zurückzuführen ist – und verschweigt dabei, dass sich relevante Gelehrte und Historiker, wie der gerade erst bei Candace Owens aufgetretene Norman Finkelstein, aber auch Ilan Pappé oder Shlomo Sand in solch populistische Schubladen nicht stecken lassen.

Man kann von keinem öffentlichen Intellektuellen fordernd erwarten, dass dieser „die volle Wahrheit“ zu einem komplexen Thema ausspricht – gleich, ob intellektueller oder opportunistisch-moralischer Vorbehalte wegen. Es wäre zwar möglich, aber sehr selten und bedarf gleichzeitig gründlicher Prüfung des einzelnen Forschenden, der die Arbeit der Person akribisch prüft. Wie oft passiert so etwas aber? Peterson hat unzählige Male allzu gerne Alexander Solschenizyns „Der Archipel Gulag“ öffentlich erwähnt, um die Gräueltaten der Sowjetunion überschwänglich hervorzuheben – oft, um die moralische Überlegenheit der klassischen westlichen Zivilisation, die er derzeit als im freien Fall versteht, zu bestätigen.

Zwar ist das Werk aus literarischer Sicht für eine Mehrheit auch heute hohe Kunst, aber als historiographisches oder geschichtliches Dokument hat es eine sehr fragliche Quellenbasis – besonders was die absoluten Zahlen der sowjetischen Repressionsopfer während der Zeit Josef Stalins betrifft. Obwohl Peterson so ein großer Liebhaber der Bücher Solschenizyns ist, ist ihm das letzte Werk in zwei Teilen, „200 Jahre zusammen“ und seine historischen sowie politisch nicht korrekten Implikationen, gänzlich unbekannt gewesen. Im heute angeblich „neostalinistischen“ Russland, wo die Rede-, Meinungs- und Forschungsfreiheit der westlichen Propaganda zufolge nicht existiert, ist dieses Werk des sowjetischen Dissidenten in jeder russischen Dorf-Buchhandlung und Buchhandlungskette (zum Beispiel „Читай-город“ oder „Буквоед“) ungekürzt erhältlich – genauso wie einige Bücher des antagonistischen US-Russophoben Timothy Snyder wohlgemerkt.

Dessen polemisch-russlandfeindliche Schrift „Bloodlands“ wurde jedoch erst 2015, und zwar in Kiew, verlegt. Die dort ansässige US-Botschaft finanzierte die Übersetzung ins Russische. In Anbetracht der damaligen politischen Entwicklungen reichte es dem Kreml spätestens an diesem Punkt verständlicherweise mit der Zuvorkommenheit gegenüber allzu dreister, westlicher Propaganda.

Dass sich aber die renommiertesten und periphersten englischsprachigen Verlagshäuser seit den Jahren 2001–2002 gleichgeschaltet geeinigt haben, die letzte große Arbeit des 2008 verstorbenen Literatur-Nobelpreisträgers zur russisch-jüdischen Geschichte nicht ins Englische zu übersetzen und zu verlegen, könnte das Unwissen eines international so hoch gepriesenen Denkers wie Peterson etwas rechtfertigen – aber eben nur etwas.

Dass Peterson eine ausgesprochen ausgeprägte Voreingenommenheit gegenüber dem hegt, was man „die jüdische Frage“ (oder zumindest „die zionistische Frage“) nennen könnte – und sich deshalb mit aufrichtiger Neutralität in dieser Causa schwertut –, zeigt eben auch sein überaus gutmütiges, bereits erwähntes Fernseh-Interview mit Benjamin Netanjahu. Dieses Gespräch fand letztes Jahr bereits unter dem medialen Banner von The Daily Wire statt. Viele der Zuschauer Petersons haben ihm in der Kommentarspalte mangelnde Ausgewogenheit und eine unangemessene Anbiederung in der Befragung des hohen Staatsdieners Israels sowie mutmaßliches Unwissen zum relevanten Konflikt in der Region vorgeworfen.

Direkt nach dem Angriff der Hamas tweetete Peterson am 7. Oktober 2023 sogar Folgendes:

„Mach ihnen die Hölle heiß

@netanyahu

Genug ist genug“

Zwar bereute er, dass er zu dem Zeitpunkt keine „längere, ausgewogenere und weniger emotionale Art“, seine Gedanken zu äußern, gewählt hatte. Aber die Aussagekraft des Tweets selbst ließ er ungehindert stehen. Mit der in Ungnade gefallenen Candace Owens kann man sich also kaum einen Mitarbeiter vorstellen, mit dem Ben Shapiro zufriedener sein könnte, als mit Jordan B. Peterson.

Elem Chintsky ist ein deutsch-polnischer Journalist, der zu geopolitischen, historischen, finanziellen und kulturellen Themen schreibt. Die fruchtbare Zusammenarbeit mit RT DE besteht seit 2017. Seit Anfang 2020 lebt und arbeitet der freischaffende Autor im russischen Sankt Petersburg. Der ursprünglich als Filmregisseur und Drehbuchautor ausgebildete Chintsky betreibt außerdem einen eigenen Kanal auf Telegram, auf dem man noch mehr von ihm lesen kann.

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