
Thersites zum Gruß
Augstein vom Thron gestoßen
Weit über die Hälfte seines Lebens hat sich Otto Köhler an Rudolf Augstein abgearbeitet. Als der damals 31jährige im Jahr 1966 in die Spiegel-Redaktion eintrat, konnte er nicht ahnen, dass ihn seine Tätigkeit für das damalige Nachrichtenmagazin und dessen so selbstbewussten wie einflussreichen Chef bis ins hohe Alter verfolgen und beschäftigen würde. Während der Spiegel heute beispielhaft für Desinformation und Propaganda steht, gegen Russland und seinen angeblich so aggressiven wie unberechenbaren Präsidenten Wladimir Putin hetzt oder Kritiker der Sprengung der Nord-Stream-Pipelines als Verschwörungstheoretiker diffamiert, galt das Blatt seinerzeit auch bei investigativen Journalisten wie Köhler als kritische und seriöse Zeitschrift.
Köhler wurde in seiner rund sechsjährigen Tätigkeit für Augstein unter anderem als Spiegel-Medienkolumnist eines Besseren belehrt. Die Verleihung des von der Jüdischen Gemeinde Frankfurt am Main gestifteten Ludwig-Börne-Preises an Augstein im Jahr 2001 (auf Anregung des damaligen FAZ-Herausgebers Frank Schirrmacher) gab den Anstoß für Köhlers im Jahr darauf erschienene Augstein-Biographie, mit der er das erklärte Ziel verfolgte, Augstein vom Thron zu stoßen.
Köhlers Biographie war das Erscheinen der vom Autor dieser Zeilen verfassten Dokumentation »Der Reichstagsbrand. Wie Geschichte gemacht wird« (zusammen mit Wilfried Kugel, Berlin 2001) sowie ein dreiseitiger offener Brief der Autoren vorausgegangen, betitelt »Herr Augstein, die Vergangenheit holt Sie ein …«. Darin konfrontierten die Autoren Augstein mit den in ihrem Buch ausführlich dokumentierten und belegten Vorwürfen gegen den Spiegel: die Beschäftigung ehemaliger SS-Führer in der Redaktion sowie die vehemente Parteinahme des Spiegels für die These von der Unschuld der Nazis am Reichstagsbrand.
Bis in die 1960er Jahre hinein hatte Augstein in der Spiegel-Redaktion hohe Führer von SS und SD, darunter Kriegsverbrecher, beschäftigt und sich für die Wiederverwendung alter Nazikriminalbeamter im Polizeiapparat der Bundesrepublik eingesetzt. Den Brand des Reichstagsgebäudes in Berlin am 27. Februar 1933 wollte das Nachrichtenmagazin als bösen Zufall gedeutet wissen und nicht als Teil des perfiden Plans der Naziführung zur Machteroberung. In einer mehrteiligen Serie, an welcher der ehemalige Pressechef von Ribbentrop und SS-Verbrecher Paul Karl Schmidt als Mitautor beteiligt war, hatte der Spiegel bereits 1959/60 unter Verdrehung bzw. Unterschlagung wichtiger historischer Fakten die Naziführung von jeder Verantwortung für dieses folgenreiche politische Verbrechen freigesprochen und den am Brandort festgenommenen, stark sehbehinderten niederländischen Rätekommunisten Marinus van der Lubbe kurzerhand zum Alleintäter erklärt. Eine offenkundige Geschichtsfälschung, die auch Otto Köhler immer wieder angeprangert hat.
Der offene Brief, der noch vor der offiziellen Preisverleihung in der Frankfurter Paulskirche erschien, endete mit dem dringenden Rat an Augstein: »Bitte verzichten Sie freiwillig auf den Ludwig-Börne-Preis, denn Sie haben ihn nicht verdient!« Der Spiegel-Chef hat diesen Rat bekanntlich nicht befolgt.
(Alexander Bahar, Historiker und Publizist)
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