Zwischen Polen und der Ukraine geht nichts mehr von Thierry Meyssan

Zwischen Polen und der Ukraine geht nichts mehr, von Thierry Meyssan

Polen, das bisher ein treuer Verbündeter der Ukraine war, erkennt plötzlich, wer die Führer dieses Landes wirklich sind. Die Jaroslav Hunk-Affäre im kanadischen Parlament hat ein Feuer entfacht. Die gesamte politische Klasse verurteilt die ukrainischen integralen Nationalisten. Mehrere Streitigkeiten kommen auf.

Der ehemalige Ministerpräsident Jaroslaw Kaczyński, Vorsitzender der PiS, zieht immer noch die Fäden des polnischen politischen Lebens.

Zwischen Polen und der Ukraine geht nichts mehr

3. Oktober 2023

Polen wird von der konservativen Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) regiert. Diese politische Formation steht in tiefem Gegensatz zur Europäischen Union, nicht nur als supranationales Projekt, sondern auch als Einheit des Kontinents. In der Tat ist Polen im Laufe seiner Geschichte viermal völlig verschwunden. Seine mächtigen russischen und deutschen Nachbarn haben sich sein Territorium oft aufgeteilt. Die Polen wollen daher keine kontinentale Einheit, die sie schon mehrmals unterjocht hat. Im Gegenteil, sie erinnern sich mit Nostalgie an die Zeit, als sie sich im Bündnis mit Litauen behaupteten. Sie werben daher für einen dritten Weg zwischen Moskau und Berlin: den „Prometheismus“. Es geht darum, sich von russischen und deutschen Einflüssen zu befreien und sich mit den mitteleuropäischen Nachbarn zu entwickeln. Dies ist das Projekt des „Intermarium“, das seit 2016 „Drei-Meere-Initiative“ heißt: alle Staaten von der Ostsee, über das Mittelmeer bis zum Schwarzen Meer zu vereinen. In dem Wissen, dass die Drei-Meere-Initiative für Warschau langfristig die Europäische Union ersetzen sollte, kann Polen nicht auf Brüssel zählen. Es hat mit den Vereinigten Staaten einen neuen Verbündeten gefunden, eine weit entfernte Großmacht und daher auch vorerst, eine nicht gefährliche.

Dieses Bündnis ist besonders während des Krieges gegen den Irak in Erscheinung getreten. Polen hat sich dort ohne Zurückhaltung, aus Loyalität zu seinem neuen Verbündeten engagiert. Es hat die Mittel, die ihm von der Europäischen Union zur Verfügung gestellt wurden, für die Modernisierung seiner Wirtschaft, für den Kauf von… US-Kampfjets benutzt.

Polens Misstrauen gegenüber den Russen darf nicht über sein Misstrauen gegenüber den Deutschen hinwegtäuschen. Vergangene Woche versuchte Bundeskanzler Olaf Scholz sich in den polnischen Wahlkampf einzumischen, indem er sagte, der Visa-Skandal gehe weiter. Der stellvertretende Außenminister Piotr Wawryk ist bereits zurückgetreten, nachdem bekannt wurde, dass seine Regierung polnische Visa für 5000 Euro verkaufte. Dieser neue Vorwurf beruht jedoch auf nichts, sollte aber das Management der PiS in Frage stellen. Zbigniew Rau, der polnische Außenminister, hat es ihm sehr übelgenommen. Er hat Deutschland unverblümt an das Prinzip der Achtung der Souveränität erinnert.

Während die Mehrheit der Polen den PiS-Nationalismus unterstützt, ist die Opposition um die Bürgerplattform des ehemaligen Präsidenten des Europäischen Rates (2014-19), Donald Tusk, organisiert. Als Kind spielte dieser schon mit der ehemaligen deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel. Die beiden Familien kannten sich und hatten das Privileg, innerhalb des Ostblocks reisen zu können. Donald Tusk hoffte diesmal auf einen Sieg über die PiS-Partei. Er übernahm die Vorwürfe Brüssels gegen die Regierung von Mateusz Morawiecki und das Freiheitsverständnis der PiS. Er berief sich auf die Tatsache, dass Brüssel die im Rahmen des Aufbau- und Resilienz Fonds (RWCF) gewährten Zuschüsse immer noch nicht ausgezahlt hat. Die aktuellen Ereignisse sind jedoch weder für ihn noch für die EU vorteilhaft.

Zu Beginn der russischen militärischen Spezialoperation in der Ukraine erklärte Warschau seine Solidarität mit Kiew, weil Washington zur Mobilmachung gegen Moskau aufrief. Es schien für Polen normal, 1,5 Millionen Ukrainern Asyl zu gewähren und dieses ehemalige Sowjetland in die „Drei-Meere-Initiative“ zu integrieren. Die Polen wussten jedoch nicht mehr als die anderen, was wirklich in der Ukraine geschah. Historisch erinnerten sie sich, dass ukrainische „integrale Nationalisten“ die Nazis unterstützt und unter ihrem Befehl 120 000 Polen massakriert hatten. Seit dem Zerfall der Sowjetunion haben sie jedoch viele Ukrainer als Gastarbeiter akzeptiert. So nahmen sie es auf sich, die Frauen und Kinder ihrer armen Nachbarn wohltätig aufzunehmen.

Die PiS-Regierung verbot daraufhin jegliche Kritik an Wolodymyr Selenskyjs Ukraine, die sie als „russische Propaganda“ interpretierte. So verbot der Polnische Verteidigungsrat den Internetbetreibern von Beginn des Krieges an, die Website „Voltairenet.org“ und die Artikel des Voltaire-Netzwerks im Land zugänglich zu machen. Diese militärische Zensur verhinderte, dass die polnische herrschende Klasse verstand, was die Selenskyj-Regierung wirklich war. Polen ist nach den Vereinigten Staaten zum wichtigsten militärischen Verbündeten der Ukraine geworden.

Am 22. September 2023 empfing das kanadische Unterhaus Präsident Wolodymyr Selenskyj zu einer feierlichen Rede. Im Anschluss an seine Ausführungen stellte der Vorsitzende, Anthony Rota, einen Zuhörer als „einen ukrainisch-kanadischen Veteranen des Zweiten Weltkriegs, der für die Unabhängigkeit der Ukraine von den Russen gekämpft hat“ und als „einen ukrainischen Helden und einen kanadischen Helden“, ein Mitglied der „ukrainischen 1. Division“, vor. Premierminister Justin Trudeau, die Parlamentarier und die Öffentlichkeit zollten ihm rauschenden Applaus. Doch sofort protestierten empörte jüdische Verbände: Die „1. Ukrainische Division“ ist die SS-Division Galizien! Nach drei Tagen voller Kontroverse entschuldigte sich Anthony Rota bei den Juden und trat schließlich zurück. Aber der polnische Botschafter, Witold Dzielski, hatte etwas dagegen. Er forderte eine Entschuldigung für die Beleidigung, die 120 000 Polen erlitten hatten, die damals von ukrainischen integralen Nationalisten massakriert wurden. Der polnische Bildungsminister Przemyslaw Czarnek hat darauf ein Auslieferungsverfahren gegen den ehemaligen SS-Angehörigen eingeleitet.

In einem Augenblick verschwand der ukrainische Bluff in den Augen der Polen. Wie Beata Szydło, ehemalige PiS-Ministerpräsidentin und jetzige Europaabgeordnete, betonte, liegt das Problem nicht in der Ignoranz von Anthony Rota, sondern in der Haltung des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj und der stellvertretenden kanadischen Premierministerin Chrystia Freeland (Mitherausgeberin der Enzyklopädie der Ukraine). Keine dieser Persönlichkeiten kann behaupten, nicht gewusst zu haben, was die „ukrainische 1. Division“, mit ihrem unseligen Angedenken, wirklich war. Keine zeigte jedoch auch nur die geringste Verlegenheit und warnte Premierminister Justin Trudeau vor dem was in dem Moment geschah. Im Gegenteil, sie applaudierten mit Stolz.

Der ukrainische Held war übrigens kein Angehöriger der SS-Kampftruppen. Er gehörte einer Vergeltungseinheit an, die für die Ermordung von Bevölkerungsgruppen verantwortlich war, die sich dem Dritten Reich widersetzten.

Wie kann man also jetzt die beiden wichtigsten Schlachten des ukrainischen Krieges in Mariupol und Bachmut vergessen? Beide wurden unter dem Kommando des militärischen Führers der Integralen Nationalisten, Andrij Bilezki, auch bekannt als der „Weiße Führer“, ausgetragen, mit dem Präsident Selenskyj erst einen Monat zuvor gefilmt wurde.

Die Polen erkennen infolgedessen, übereilt gehandelt zu haben, indem sie der Ukraine einen Beobachterstatus im Rahmen der „Drei-Meere-Initiative“ gewährt haben. Es ist offensichtlich, dass Wolodymyr Selenskyj, obwohl er Jude ist, sich auf die „Judenmassakrierer“ stützt, wie es der israelische General Benny Gantz ausdrückte.

Der kanadische Vorfall kommt zu einer Zeit, in der sich polnische Landwirte gegen den unfairen Wettbewerb der ukrainisch-amerikanischen Lebensmittelindustrie wehren. Drei US-amerikanische Lebensmittelmultis, Cargill, Dupont und Monsanto, haben ein Viertel des ukrainischen Territoriums gekauft. Sie importieren ihr Getreide und ihre Hühner zu unschlagbaren Preisen in die Europäische Union. Sie zahlen nicht für ihr GVO-Saatgut, das vom US-Außenministerium geschenkt wird. Die Europäische Kommission hatte die Getreide-Einfuhr zunächst verboten, da sie wusste, dass diese Produkte nicht den Standards der Union entsprechen, später aber dem Druck der USA nachgegeben. Drei Staaten, darunter Polen, haben Gesetze erlassen, die die Einfuhr verbieten. Präsident Selenskyj kündigte jedoch an, dass er diese Staaten, Mitglieder der EU, vor der Welthandelsorganisation (WTO) anklagen werde.

Die Landwirtschaft ist die Haupteinnahmequelle Polens. Mitten im Wahlkampf steht die Frage der ukrainischen Importe jetzt im Mittelpunkt der Debatten. Die rechte Partei, Konföderation, ging gestärkt daraus hervor. Die PiS wäre dann gezwungen, ein Bündnis mit ihr einzugehen, um an der Macht zu bleiben. Der Landwirtschaftsminister wandte sich an die Ukrainer. Er sagte ihnen, dass eine Klage gegen Polen vor der WTO die Beziehungen zwischen den beiden Ländern ernsthaft beschädigen würde. Aber es bewirkte nichts.

Zur gleichen Zeit beginnt die ganze polnische Bevölkerung sich über den anhaltenden Zustrom ukrainischer Flüchtlinge zu ärgern. Der polnische Präsident Andrzej Duda hat angesichts des Widerstands, dem er in der öffentlichen Meinung ausgesetzt ist, von einem möglichen Stopp der Hilfe für ukrainische Flüchtlinge gesprochen. Er verglich die Ukraine mit einem ertrinkenden Land, das eine Gefahr für seinen Retter darstelle: Manchmal kämpft ein Ertrunkener ungeordnet und zieht seinen Retter mit sich in die Tiefe.

Schließlich ist der einzige Staat, vor dem Polen eine Ehrfurcht hat, der Heilige Stuhl. Die Ukraine hat jedoch gerade ihre scharfe Ablehnung des Heiligen Vaters zum Ausdruck gebracht, indem sie ihm vorwirft, die russische Kultur nicht zutiefst abzulehnen. Damit entbindet sie Polen von seinen Verpflichtungen ihr gegenüber.

Die PiS-Regierung beschloss daraufhin, die Przewodów-Affäre wiederzubeleben. Am 15. November 2022 fielen Raketen auf dieses polnische Dorf unweit der ukrainischen Grenze, töteten zwei Menschen und zerstörten landwirtschaftliche Einrichtungen. Ursprünglich wurden die Raketen Russland zugeschrieben, aber aus Angst, dass Polen einen Weltkrieg provozieren würde, gaben die Vereinigten Staaten bekannt, dass es sich um ukrainische handelte. Die Affäre wurde totgeschwiegen. Die ukrainische Justiz hat gerade ihren Untersuchungsbericht geschickter Weise veröffentlicht. Er bestätigt, was Washington gesagt hat. Deshalb sollte Polen Reparationen von der Ukraine fordern.

Der kanadische Vorfall ist noch nicht vorbei. Bisher haben weder die Slowaken noch die Slowenen, die Opfer der SS-Division Galizien wurden, eine Entschuldigung erhalten. Zudem wird der polnisch-ukrainische Streit nicht ohne Folgen bleiben. Erstens, weil das polnische Territorium heute die wichtigste Transitroute westlicher Hilfe für die Ukraine ist. Zweitens, weil der Streit Auswirkungen auf die baltischen Staaten, insbesondere auf Litauen, haben wird.

Übersetzung
Horst Frohlich
Korrekturlesen : Werner Leuthäusser

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