Der Bankeinbruch Moshe Zuckermann

Dank an Moshe Zuckermann für die Genehmigung seinen neuen, heute auf dem Overton-Magazin veröffentlichten Artikel, auf der Hochblauen Seite zu übernehmen. Evelyn Hecht-Galinski

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Der Bankeinbruch

Mavi MarmaraBild: Free Gaza Movement/CC BY-SA-2.0

Israel feiert in dieser Woche seinen 77. Unabhängigkeitstag. Diese faktuelle Feststellung ist in zweifacher Hinsicht falsch. Denn nach Feiern ist zur Zeit einem sehr großen Teil der israelischen Bevölkerung ganz und gar nicht zumute. Und was es mit Israels Unabhängigkeit auf sich habe, muss heute mehr denn je kritisch hinterfragt werden.

Der diesjährige nationale Feiertag findet im zweiten Jahr des Krieges statt, der nach dem monströsen Pogrommassaker des 7. Oktober ausgebrochen ist. Ein Krieg, bei dem die IDF mehr als 50 000 Menschen, unter ihnen unzählige Frauen, Kinder und alte Menschen, getötet, den Gazastreifen weitgehend verwüstet hat und die palästinensische Bevölkerung fortwährend einer barbarischen humanitären Krise aussetzt.

Ein Krieg ist es (nicht der erste in Gaza), der Israel politisch in gesteigerte Isolation in der Welt geführt hat; ein Krieg zudem, der trotz aller militärischen Anstrengungen es nicht vermocht hat, die Hamas “total” zu besiegen und in Hamas-Gefangenschaft verbliebene israelische Geiseln zu befreien. Und da die israelische Regierung sich interessengeleitet weigert, den Krieg zu beenden, sind viele BürgerInnen des zionistischen Staates vom Gefühl umtrieben, die Geiseln sollen gar nicht befreit, sondern aufgegeben, einem “höheren Interesse” geopfert werden.

Das ist die Bescherung, die die gegenwärtige Regierung am 77. Unabhängigkeitstag ihrer Bevölkerung bereitet hat – einen Verrat an dem, was man immer für einen der höchsten Werte des Zionismus erachtet hat. Was man sich aber hierzulande nicht eingestehen will, ist, dass alles, was sich als eine aktuelle Misere ausnimmt, strukturell schon vor Jahrzehnten hätte begriffen werden können. Zur Lektüre sei daher an diesem zionistischen Festtag ein Text angeboten, der kurze Zeit nach dem tödlichen Vorfall auf der Gaza-Flottille im Mai 2010 geschrieben und ein Jahr später publiziert worden ist. Er wird hier ohne Veränderungen wiedergegeben. Bestürzend ist, dass auch keine nötig sind.

 

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Die im Epilog von Brechts „Dreigroschenoper“ rigoros gestellte Frage, was schon der Einbruch in eine Bank sei, gemessen an der schieren Gründung der Bank, zeichnet sich durch ihren paradigmatischen Charakter aus. Aufgrund einer gewohnt instrumentellen Mentalität der „Problemlösung“ – die dem amerikanischen Begriff trouble shooting innewohnende Aggression indiziert die vorbewusst-ohnmächtig gespeicherte Gewissheit, dass letztlich kein Problem wirklich gelöst werde – beschäftigt man sich, den verlorenen Groschen im Laternenlicht suchend, mit dem Offensichtlichen und Selbstverständlichen. Um herauszufinden, was das „Problem“ – mehr noch: das gesellschaftliche bzw. politische Problem – sei, muss man (zuweilen) bei „Adam und Eva“ ansetzen. Ein Leichtes ist es freilich nicht. Wer hat schon die Lust, Kraft und Ausdauer, bis auf „Adam und Eva“ zurückzugehen, wenn die Probleme „brandaktuell“ sind? Die Tragikomik aktueller Praxis: Was ist schon das „Brandneue“ am partikularen Problem, gemessen an der historisch-übergreifenden Brandstiftung?

Die Darstellung des Ereignisses, welches mittlerweile als „Gaza-Flottille“ kodiert worden ist, sieht sich, seinem kontroversen Charakter entsprechend, vor dem Problem der rashomonartigen Rezeption des Geschehenen gestellt. Was war da im Mai 2010 passiert? Es kommt ganz darauf an, wem man sein Gehör schenken möchte. Den Initiatoren der Flottille zufolge wollte man die von Israel gegen den von der Hamas beherrschten Gazastreifen verhängte Blockade durchbrechen, die Aufmerksamkeit der Welt auf die humanitären Auswirkungen dieser Blockade ziehen und den Bewohnern Gazas humanitäre Hilfe zukommen lassen.

Nach Angaben israelischer Politinstanzen unterhält die an der Flottille beteiligte türkische Organisation IHH, die sich der Free-Gaza-Bewegung und anderen propalästinensischen Aktivisten angeschlossen hatte, Verbindungen zu islamistischen Kräften in der Welt, mithin zu Al Qaida und dem internationalen Jihad, weswegen die Organisation von Israel (als terroristische) für illegal erklärt worden ist.

Während die Flottille-AktivistInnen die Schuld am Menschenleben fordernden Gewaltausbruch auf der „Marvi Marmara“ dezidiert dem Kommandounternehmen des israelischen Militärs und der schieren Kaperung des Schiffes zuschrieb, hieß es vonseiten des IDF-Sprechers, die israelischen Soldaten seien im Verlauf der Aktion auf „schwere physische Gewalt“ seitens der an der Protestaktion beteiligten Aktivisten gestoßen, welche die Soldaten, nach ihrem eigenen Bekunden, mit Schusswaffen sowie mit Messern und Schlagstöcken attackiert hätten, weshalb man auf sie aus Notwehr schießen musste. Von selbst versteht sich, dass die große Anzahl der bei der Aktion zu Tode gekommenen Aktivisten in vielen Medienberichten in der Welt ganz andersartige Reaktionen hervorrief als in den allermeisten israelischen Medien. Es ließen sich hier weitere, perspektivisch je vorbestimmte Wahrnehmungsunterschiede anführen, was aber für überflüssig erachtet werden mag; sie illustrierten nichts weiter als das längst Bekannte: Partikulare Interessen stabilisieren von vornherein das Normative fragmentarischer Sichtweisen, wobei dann die jeweilige Sichtweise ihre Bestätigung im prästabilisierten Normativen sucht.

Nun lässt sich aber fragen: Gibt es keine Wahrheit bzw. – bescheidener gegriffen – keine Perspektive, die der wahrgenommenen Realität stimmiger nahekommt oder doch zumindest stimmiger als konkurrierende Perspektiven? Ja, zweifellos gibt es sie. Aber auch sie kann einem Erörterungsparadigma unterworfen werden, das allzu leicht von einer umfassenderen Wahrheit ablenkt – dann nämlich, wenn die jeweilige Perspektive im Hinblick auf ihre rein zweckrational ausgerichtete innere Logik anvisiert wird. So lässt sich fragen, ob Israels Entscheidung, die „Marvi Marmara“ überhaupt kapern zu sollen, sonderlich klug war; und wenn eine solche Aktion stattfinden musste, ob der Modus der Operation rein militärlogisch vertretbar war. Wenn es, wie im nachhinein behauptet, nicht darum ging, AktivistInnen auf dem Schiff verletzen, geschweige denn töten zu wollen, zeugt nicht die Tatsache, dass es zu Toten und Verletzten dennoch kam, von defizitärer militärischer Planung im noch besten und von gewaltbeseelter Verblendung im eher anzunehmenden Fall? Aber auch die Planer der Protestaktion müssten sich – unter solchen zweckrationalen Gesichtspunkten – fragen lassen, ob sie ernsthaft in Kauf genommen haben, daß es zwangsläufig zur brutalen Gewaltanwendung seitens des israelischen Militärs kommen werde, wenn sich Gewaltbereitschaft aufseiten eines Teils der Aktivisten zeigen würde. Haben die Aktivisten, die sich auf Gewalt einlassen zu sollen meinten, in Betracht gezogen, dass das Militär – letztlich jedes Militär der Welt – sich mit nichts anderem würde zufriedengeben können, als mit einer eindeutigen, mithin brutalen Niederschlagung des ihm entgegengebrachten Widerstands? Sollten sie aber das in ihren Aktionsplan miteinbezogen haben, was sind ihnen dann die Opfer der Aktion: in Kauf genommene Märtyrer? Ein weiterer Beweis für Israels Brutalität? Bedurfte es denn eines weiteren Beweises, und waren Menschenleben in der Tat der notwendig in Kauf zu nehmende Preis für die Erbringung dieses Beweises?

Jede dieser Fragen (und viele andere mit ihnen einhergehende) ließen sich aus der immanenten Logik des konkreten Ereignisses „Gaza-Flottille“ diskutieren und klären. Dies ist bereits in der Tat in allen erdenklichen Foren geschehen. Dagegen ist an sich auch nichts einzuwenden: Jede Sensation zeitigt Reaktionen, erst recht, wenn das Sensationelle einen tragischen Ausgang nimmt (und aus ebendiesem Grund kontrovers rezipiert wird). Politisch ist die Inszenierung der Sensation zuweilen sogar vertretbar, insbesondere dann, wenn sich sonst „nichts mehr bewegt“. Im Fall der „Gaza-Flottille“ war, so besehen, die schiere Bestrebung, die Blockade durch die Schiffsaktion zu durchbrechen, dem Showeffekt der militärischen Operation mutatis mutandis verschwistert. Das Pathos der Sensation lag beiden zugrunde. Freilich läuft das Sensationelle stets Gefahr, von der Sache, um derentwillen es inszeniert worden ist, so abzulenken, dass das ursprüngliche Ziel sich gänzlich dem Diskurs entschlägt. Das diesbezügliche Muster (teils bewusster Manipulation) ist wohlbekannt. Indem sie nämlich die Aufmerksamkeit der Medienkonsumenten auf „gegenwärtige“ Relevanz lenkt, lässt die Nachrichtenaktualität des heute Getöteten den Getöteten des gestrigen Tages in Vergessenheit geraten und verleiht somit der Wahrnehmung des Grauens notwendig eine buchhalterische Dimension: Was von der Möglichkeit, das bestimmte Opfer, und sei’s durch die Erinnerung der spezifischen Details seines Schicksals, zu ehren, übrigbleibt, wird zugunsten des aktuellen Ereignisses geraubt, bevor auch dieses zu „old news“ wird, um im medialen Mülleimer der Sensationsindustrie zu landen.

Nach einiger Zeit erinnert man sich nur noch an die Statistik – manchmal als Bilanz zwischen „unseren“ und „ihren“ Toten; zumeist nicht mal das, wenn die Ausmaße der Katastrophe so horrend sind, dass der statistische Blick sich der Wahrnehmung von selbst aufzwingt und das Schicksal der Einzelnen in der Anonymität des allgemeinen Chaos untergeht. Endgültig pervers werden solche Wahrnehmungsmuster, wenn man eine gewisse Erleichterung beim Hören der realen Zahl der Opfer verspürt: nicht 20 000 Menschen, wie man in den ersten Momenten des Medienevents verbreitet hat, sondern „nur“ 6000. Auf manche Menschen wirkt dieses „nur“ erleichternd. Man kann das verstehen, denn auch bei der Tötung von Menschen macht letztlich die Quantität eine Qualität aus. Und dennoch muss man sich stets aufs Neue zur Frage ermahnen, was das für eine Realität sei, die solcherlei Situationen der „Erleichterung“ bedarf, Situationen, in denen das Andenken des einzelnen Toten im Erleichterungsgefühl darüber untergeht, dass das Grauen sich nicht in seiner vollen entsetzlichen Kapazität verwirklicht hat.

Notwendig wird es, so besehen, anzuvisieren, was die volle Kapazität des Grauens erst eigentlich ermöglicht. So wichtig die Klärung der Vorkommnisse auf der „Marvi Marmara“ an sich sein mag, muss es vor allem darum gehen, das zu erörtern, was die „Gaza-Flottille“ zum (realen oder vermeintlichen) Muss hat werden lassen. Nicht also die intendierte Durchbrechung der Blockade, sondern die Grundvoraussetzung der über den Gaza-Streifen verhängten Blockade (bzw. dessen Einschnürung) muss in den Brennpunkt der kritischen Betrachtung rücken. Dabei muss freilich doch auf „Adam und Eva“ zurückgegangen werden. Denn sosehr der Einbruch in eine Bank als solcher dem ihn generierenden System entsprechend geahndet werden muss, darf doch das System, das diesen Einbruch zwangsläufig hervorgebracht hat, als das eigentliche Problem angesehen werden.

Es ist nun diese Grundannahme, die der Erörterung des Flottillenereignisses das Zurückgehen auf „Adam und Eva“ – mithin auf „Kain und Abel“ – aufzwingt. Dabei muss man nicht gleich die Urgründe von 1897 oder 1948 in Anschlag bringen, sehr wohl aber den 1967er Krieg und seine Folgen. Denn nahezu alles, was sich zwischen Israelis und Palästinensern seit nunmehr über vierzig Jahren politisch, wirtschaftlich, militärisch und ideologisch abgespielt hat und weiterhin abspielt, ordnet sich dem einen, das Verhältnis der beiden Kollektive zueinander unhintergehbar bestimmenden Faktor unter: der von Israel praktizierten Okkupation palästinensischer Territorien. Zu bedenken gilt dabei vor allem, dass die im Krieg erfolgte Militärbesatzung der Gebiete mittlerweile in ein mit großem Elan angelegtes Siedlungswerk gigantischen Ausmaßes umgeschlagen ist. Nicht von ungefähr sind Beobachter auf beiden Seiten zur Überzeugung gelangt, daß der im Westjordanland über Jahrzehnte (durch die von Israel angelegte Infrastruktur) verfestigte Herrschaftszustand „irreversibel“ geworden sei, mithin die Option einer Zwei-Staaten-Lösung des israelisch-palästinensischen Konflikts in eine objektive Sackgasse geritten habe.

Auf israelischer Seite sah sich diese Expansionpraxis, welche sich ursprünglich rein sicherheitslogischen Erwägungen verdankt haben mochte, sehr bald einer fundamentalreligiösen Ideologisierung des stetig anwachsenden Siedlungswerks verschwistert. Messianisch beseelte Nationalreligiöse deuteten die Kolonisierung der besetzten Gebiete als „Rückkehr in das Land der biblischen Urväter“, vor allem aber als „Befreiung von gottverheißenem Land“. Auf palästinensischer Seite schärfte sich das kollektive Bewusstsein und die mit diesem einhergehende Widerstandsemphase gerade an dieser israelischen Besatzungs- und Annexionsdynamik, die selbst zuzeiten des Osloprozesses in den 1990er Jahren nicht abriss. Eines muß gleichwohl im Hinblick auf den gesamten Okkupationszusammenhang festgestellt werden: Mochten die Palästinenser und die Israelis ihre je eigenen Fehler bei periodisch aufkommenden Versuchen, den blutigen Konflikt politisch beizulegen, begehen, so stand auch stets fest, daß die realen Mittel zu seiner Lösung durchgehend in israelischer Hand lagen. Es war und ist nun einmal Israel, das die Territorien unter gewaltsamer Herrschaft hält; entsprechend sind die Machtverhältnisse alles andere als symmetrisch verteilt. Man drehe und wende es, wie man will, es ist Israel, das die Unterdrückung praktiziert, deren Opfer die Palästinenser sind. Es ist in erster Linie auch Israel, das die Unterdrückung real aufzuheben vermöchte.

Die dabei erzeugte Leiderfahrung der Palästinenser hat das staatsoffizielle Israel indes kaum je berührt. Man nahm den selbstbewirkten Zustand perpetuierter Repression hin und erging sich in ideologischen Rationalisierungen, dass die Palästinenser sich ihre Lage selbst zuzuschreiben hätten; dass sie demokratieunfähig seien, daher auch keinen ernstzunehmenden Partner für wirkliche Friedensgespräche abzugeben vermögen. Nicht von ungefähr wurde gerade der israelische Staatsmann, der es mit dem Frieden zwischen beiden Kollektiven ernst zu meinen schien, ermordet. Denn zu keiner Zeit in den vergangenen Dekaden, in denen sich eine lippenbekennende Friedenssehnsucht in Israel selbst zelebrierte, wurde die vorgebliche Friedensbereitschaft der Israelis zum Gegenstand ernstgemeinter Erörterung erhoben, geschweige denn real auf die Probe gestellt. Dass man den Frieden wollte, war klar, nicht aber, ob man auch bereit war, den dafür zu zahlenden Preis einer realen Beendigung der Okkupation (also Rückgabe der besetzten Gebiete) zu entrichten.

Was man dabei aber übersah (beziehungsweise bewusst ignorierte), war die mit der Umgehung des Friedens zwangsläufig entstehende Sackgasse, in welche sich der zionistische Staat nolens volens hineinmanövrierte und von dieser nunmehr in der Stagnation fortwesender Perspektivlosigkeit gehalten wird: Gerade das monströs angewachsene Siedlungswerk im Westjordanland und die Staat-im-Staat-Funktion, welche die Siedler im heutigen Israel mittlerweile innehaben, dürften klargemacht haben, dass ein im Rahmen der finalen israelisch-palästinensischen Friedensregelung staatsoffiziell getroffener Beschluss, sich aus den besetzten Gebiete der Westbank zurückzuziehen, die Gefahr birgt, einen innerjüdisch-israelischen Bürgerkrieg zu entfachen. Gibt man aber die okkupierten Territorien nicht zurück und behält somit die staatliche Oberhoheit Israels über diese bei, bewirkt man zwangsläufig die objektive Entstehung einer binationalen Struktur, bei der die Juden früher oder später zur Minorität im eigenen Land werden müssen.

Die zweite dieser beiden Möglichkeiten gilt wohl den allermeisten jüdischen Israelis als die größere Bedrohung – sie würde ja nicht weniger als das Ende des historischen zionistischen Projekts bedeuten. Es will gar scheinen, dass die „demographisch tickende Zeitbombe“, als welche sie im gängigen israelischen Diskurs mittlerweile apostrophiert wird, inzwischen selbst ins ideologische Bewusstsein der israelischen Politprominenz (etwa bei Shimon Peres, Tzipi Livni, Ehud Olmert und Ehud Barak) eingedrungen ist. Auszugehen wäre davon, daß sogar ein Ariel Sharon diesen Faktor im Sinn hatte, als er im Jahre 2005 den – im Hinblick auf Sharons Lebenswerk, der massiven Besiedlung der besetzten Gebiete, in der Tat eklatanten – unilateralen Rückzug aus dem Gazastreifen initiierte und vollzog. Dass er damit mutatis mutandis die Machtübernahme der Hamas im Gazastreifen mitbewirkte, dürfte ihn kaum gestört haben, wenn er sie noch mitbekommen hätte. Denn das Divide-et-impera-Prinzip, welches man aus israelischer Sicht der Verfeindung zwischen der Hamas und der PLO zuschreiben konnte, war ja schließlich ein Erbteil israelischer Politik bereits in den 1970er Jahren: Schon damals unterstützte die israelische Politik religiöse Elemente im palästinensischen Lager gegen die säkulare PLO, die man unter Yassir Arafat für den gefährlichen Feind Israels erachtete. Nicht dass Sharon sich die Hamas als eine auf Israel Raketen abfeuernde Machtinstanz direkt gewünscht hätte; vielmehr war es ihm darum zu tun, die anderthalb Millionen palästinensischen Bewohner des Gazastreifens der israelischen Oberhoheit zu entziehen, um längerfristige „Ruhe“ im Westjordanland zu erlangen, vor allem aber auch das „demographische Problem“ zu verringern.

Dass die an die Macht gelangte Hamas dann als das auftrat, was sie nun einmal ist – eine fundamentalreligiöse Bewegung, die jeglichem Friedensabkommen mit Israel kategorisch ablehnt –, war der hohen israelischen Politik zwar lästig, zugleich aber auch mitnichten unwillkommen: Nichts Günstigeres hätte man sich wünschen können, als die Schwächung der PLO durch die rigoros auftretende, gar zum Bürgerkrieg bereite Gegnerschaft der Hamas. Auch den durch diese Organisation proklamierten bewaffneten Kampf gegen Israel konnte man dazu benutzen, um auf Gaza immer wieder brutal einzuschlagen, vor allem aber, um die ökonomische Einschnürung des Gazastreifens und dessen militärisch-territoriale Blockade zu legitimieren. Die dem Islamismus verschriebene Hamas durfte (spätestens nach September 2001) auf keine politische Beliebtheit, geschweige denn Solidarität im Westen hoffen. Und so konnte auch im Westen kaschiert bzw. ignorierend hingenommen werden, dass es in erster Linie die palästinensische Bevölkerung Gazas war, die an ihrer eigenen Regierung (welche sie freilich selbst gewählt hatte), vor allem aber an der israelischen Politik gnadenloser Absperrung des dichtbesiedelten, armseligen Landstrichs lebensweltlich, wirtschaftlich und eben auch immer wieder militärisch zu leiden hatte.

Was immer die Initiatoren der Gaza-Flottille zu ihrer waghalsigen Unternehmung bewogen haben mag (und unabhängig davon, ob es von vornherein ratsam war, sich mit dem israelischen Militär anlegen zu wollen), eines dürfte klar sein: Die Flottille wäre nicht zustande gekommen, wenn es nicht die Blockade gegeben hätte; die Blockade hätte es ohne die Heraufkunft der Hamas-Regierung nicht gegeben; die Hamas-Regierung ist aber das Erzeugnis des unilateralen Rückzugs der Israelis aus dem Gazastreifen unter dezidiert würgender Einschnürung des vorgeblich befreiten Territoriums; diese repressive Maßnahme liegt nun aber ihrerseits ganz in der Logik dessen, was die Hamas-Regierung, die Blockade und den kläglichen Versuch ihrer Durchbrechung zeitigte: der Okkupation. Wer aber von der Okkupation nicht reden will, sollte auch von Freiheit, Demokratie und Frieden schweigen.

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