Der „Fall Bulgarien“ Von Pierre Lévy

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Der „Fall Bulgarien“

Von Pierre Lévy

 

Die Wahlen in Bulgarien, die zeitgleich mit den Wahlen fürs Europaparlament stattfanden, gaben eigentlich keiner der angetretenen Parteien das Mandat, zu regieren. Abermalige Neuwahlen könnten ein mögliches Ergebnis sein, Brüssel sieht das mit Misstrauen.
Quelle: www.globallookpress.com © IMAGO/Christian Spicker

Von Pierre Lévy

Die Bulgaren könnten Weltmeister in einer noch nicht olympischen Sportart werden, nämlich im Abhalten von Wahlwiederholungen. Am 9. Juni waren die 6,6 Millionen Wahlberechtigten in Bulgarien zu den Urnen gerufen, um ihre Abgeordneten zu erneuern – zum sechsten Mal seit 2021.

Wenig überraschend brach die Wahlteilnahme, vielmehr die Wahlenthaltung einen neuen Rekord: nur 33,4 Prozent der Bürger gingen in die Wahllokale. Selbst die Tatsache, dass am selben Tag die sogenannten Europawahlen (der EU) stattfanden, konnte diesem Trend in keiner Weise entgegenwirken: Der Wahlkampf zuvor konzentrierte sich vor allem auf das künftige nationale Parlament mit seinen 240 Abgeordnetensitzen. Sieben Parteien und Koalitionen werden nun dort vertreten sein.

Grob gesagt stehen sich in dem Land – das mit enormen wirtschaftlichen und sozialen Schwierigkeiten zu kämpfen hat und in dem die Armut endemisch ist – zwei Koalitionen gegenüber, die zwar beide gleichermaßen (trans-)atlantisch und wirtschaftsliberal geprägt sind, sich aber in der Art und Weise widersprechen, wie sie dafür regieren wollen.

Die erste wird von Bojko Borissow angeführt, dem Vorsitzenden der rechtsgerichteten, EU-freundlichen Partei „GERB“, der von 2009 bis 2013, von 2014 bis 2017 und von 2017 bis zum Mai 2021 der Premierminister Bulgariens war. In diesem Jahr 2021 erlitt er eine schwere Wahlniederlage als Folge immenser Korruptionsskandale, die bereits 2019 aufgedeckt worden waren. Die Folge war eine lang andauernde Protestbewegung im Sommer 2020, in der vor allem die städtischen Mittelschichten stark gegen seine Machtausübung mobilisierten, der Klientelismus, Veruntreuung und sogar mafiöse Praktiken vorgeworfen wurden.

Die jungen politischen Gruppierungen, die aus dieser heterogenen Protestbewegung hervorgegangen waren, eroberten bei den Abstimmungen im April, im Juli und im November 2021 jedoch keine Mehrheiten. Bei den letztgenannten Wahlen entstand eine neue Bewegung mit dem Namen „Wir setzen den Wandel fort“ (PP), die unter der Regievon zwei jungen Absolventen US-amerikanischer Universitäten, darunter Kiril Petkow (mit Harvard-Ausbildung), die Führung übernahm und eine Minderheitsregierung bildete, die bis August 2022 Bestand hatte.

Der frischgebackene, neue Premierminister versprach einen ebenso treuen Euro-Liberalismus wie sein Vorgänger, verpflichtete sich jedoch, die Korruption und den Autoritarismus unter Borissow auszumerzen. Er versprach, niemals ein Abkommen mit Borissow zu schließen, der als Symbol für politische „Fäulnis“gilt. Petkows fragile Regierung stürzte schließlich durch einen Misstrauensantrag.

Die Wahlen im Oktober 2022 und vor allem die im April 2023 brachten eine Neuerung mit sich, die mit der Situation in der Ukraine zusammenhängt: Die Partei „Wiedergeburt“ (Wasrashdanje), die oft als „prorussisch“, „ultranationalistisch“ oder sogar „rassistisch“ bezeichnet wird – allerdings Bezeichnungen, die ihr Vorsitzender ablehnt –, gewann an Bedeutung. Kostadin Kostadinow beruft sich vielmehr auf das Interesse Bulgariens, keinen Krieg gegen Russland führen zu wollen. Dieser große slawische Bruder war ein historischer Verbündeter des Landes, sowohl im Warschauer Vertrag in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gegenüber der NATO als auch bei der Befreiung vom osmanischen Joch Ende des 19. Jahrhunderts.

In wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht fordert die „Wiedergeburt“ Verstaatlichungen sowie Lohn- und Rentenerhöhungen. Sie plädiert außerdem für den Austritt aus der EU und aus der NATO und hat sogar (wenn auch erfolglos) versucht, ein Referendum über den Beitritt zur Einheitswährung zu erwirken. „Wiedergeburt“ war Teil der Fraktion „Identität und Demokratie“ im scheidenden EU-Parlament und hatte sich übrigens dagegen gewehrt, dass die AfD aus dieser Fraktion ausgeschlossen wurde.

Nach den Wahlen im April 2023 fanden die PP und die GERB angesichts der desolaten Lage des Landes schließlich einen Kompromiss: eine Bündnisregierung, die neun Monate lang von der ersten und in den folgenden neun Monaten von der zweiten der beiden Parteien geführt werden sollte. Im März 2024 mussten sie feststellen, dass die verabredete zweite Phase – entgegen den eingegangenen Verpflichtungen – keine parlamentarische Mehrheit erhielt. Nach drei erfolglosen Versuchen, einen Premierminister zu ernennen, rief der Präsident der Republik schließlich die Wähler für den 9. Juni wieder einmal zur Wahl auf.

Die GERB blieb dabei mit 24,7 Prozent der Stimmen weitgehend stabil (und verlor nur 0,7 Prozentpunkte). Borissow, ein ehemaliger Karateka und Bodyguard (bis 1989 beim letzten kommunistischen Generalsekretär Todor Shiwkow), hatte zwar erklärt, er wolle nicht wieder Premierminister werden, spielte aber dennoch mit seinem Image als „starker Mann“, der das Land wieder „auf Vordermann“ bringen könne. In Wirklichkeit hat er nie von seinem sehr persönlichen Stil der „Bürgernähe“ abgelassen, der ordinäre Sprache, manche Subventionsversprechen, seinen Klientelismus und den Stimmenkauf einschließt.

Der große Verlierer der Wahlen ist die Koalition der PP mit deren Verbündeten vom „Demokratischen Bulgarien“ (DB), einem liberal-grünen und ebenfalls wirtschafts- und EU-freundlichen Bündnis. Diese Koalition vereinte nur 14,3 Prozent der Stimmen auf sich, was einem Rückgang um 9,2 Prozentpunkte im Vergleich zum April 2023 entspricht. Offensichtlich war ein Teil der PP-Wähler nicht erfreut darüber, dass die Koalition das Versprechen gebrochen hatte, niemals mit den „korrupten“ GERBs zu paktieren.

Im Gegensatz dazu taucht eine Partei wieder auf, die von den Oligarchen, die sie führen, notorisch korrumpiert wird: Die „Bewegung für Rechte und Freiheiten“ (DPS), also die selbsternannte Vertreterin der türkischsprachigen Minderheit, wurde mit 17 Prozent zweitstärkste Partei, was einem Zuwachs von mehr als 3 Prozentpunkten entspricht.

Das Ergebnis der „prorussischen“ Wiedergeburt wurde in Brüssel mit Sorge erwartet. Mit 13,8 Prozent legte sie leicht zu (um etwa 0,2 Prozentpunkte). Diese neu gegründete Partei war nun von weniger als 5 Prozent der Stimmen im Jahr 2021 über 9 Prozent im Jahr 2022 auf 13,6 Prozent im April 2023 gestiegen.

Ihr Vorsitzender beschuldigte die neu gegründete Partei „Größe“ (Welitschije), mit ähnlichen Themen Stimmen von antiwestlichen Wählern abgezogen zu haben, obwohl diese verkündet, in der EU und der NATO bleiben zu wollen. Die „Größe“ erhielt nach einer intensiven Kampagne in den sozialen Netzwerken 4,7 Prozent der Stimmen. Die neue Partei sei „ein amerikanisches Projekt, um das Wachstum der Renaissance zu stoppen„, warf ihr der Parteivorsitzende der „Wiedergeburt“ vor.

Die Bulgarische Sozialistische Partei (BSP) schließlich stabilisierte mit 7 Prozent (-1,5 Punkte) ihr Ergebnis vom letzten Jahr. Sie ist jedoch weit von den Ergebnissen entfernt, die sie 2017 (27,2 %) und in der Zeit davor erzielt hatte. Auch die BSP wird in Brüssel übrigens als „moskaufreundlich“ eingestuft. Sie war allerdings Teil der von der PP geführten Koalitionsregierung in den Jahren 2022 und2023.

Während bei früheren Wahlen der Kampf gegen die Korruption im Vordergrund stand, dominierten im Wahlkampf diesmal die Themen Krieg in der Ukraine und Kaufkraft. Der Preisanstieg wurde übrigens insbesondere durch den Anstieg der Gaspreise angeheizt, der wiederum zurückzuführen war auf die Verschlechterung der Beziehungen zwischen der bulgarischen Regierung und Russland, dem fast ausschließlichen Lieferanten für das Land.

Geopolitische Fragen werden höchstwahrscheinlich in dem neuen Parlaments weiterhin spaltend wirken, wobei sich derzeit noch keine klare Mehrheit abzeichnet. Die GERB und die DPS könnten sich – trotz des zweifelhaften Rufs der DPS – verbünden, aber das reicht arithmetisch noch nicht aus. Und die PP lehnt eine Verlängerung dieses Bündnisses ab, das ihr gerade zum Verhängnis geworden war.

Bojko Borissow hat seinen potenziellen Verbündeten gerade ein Ultimatum gestellt, indem er mit einem baldigen siebten Urnengang drohte. Diese Hypothese beunruhigt jedoch die transatlantischen Kreise in Sofia, da sie den Präsidenten der Republik Rumen Radew dazu veranlassen könnte, sich direkt ins Getümmel zu stürzen.

Dieser ehemalige kommandierende General der Luftstreitkräfte war 2016 ohne Unterstützung einer Partei angetreten, galt aber als den Sozialisten nahestehend und als „prorussisch“. Er gewann im zweiten Wahlgang mit 59 Prozent der Stimmen und erlangte während seiner ersten Amtszeit echte Popularität, so dass er 2021 sogar mit 67 Prozent der Stimmen wiedergewählt wurde.

Radew plädiert zwar als Präsident für den Verbleib des Landes in der EU und der NATO. Aber er ist gegen die antirussischen EU-Sanktionen, vertritt also eine Position, die der des ungarischen Premierministers Viktor Orbán ähnelt. Kürzlich (am 11. Juni) blockierte Radew sogar eine Resolution der Gruppe „B9“ (in der die östlichen EU-Länder zusammengeschlossen sind), die noch auf eine Verschärfung der Sanktionen abzielte. Als er zwei mögliche Wege zur Bewältigung des Krieges in der Ukraine verglich – friedliche Verhandlungen anstelle der NATO-Waffenlieferungen nach Kiew – fragte er zu letzterem, dem jetzt beschrittenen Eskalationspfad: „Sind Sie damit einverstanden, diesen Weg zu gehen, der nirgendwohin führt und ein enormes Risiko für die globale Sicherheit darstellt?

Einige Analysten warnen davor: Sollte es in naher Zukunft zu Neuwahlen kommen, dann könnte nichts den Staatschef daran hindern, sein Mandat vorzeitig niederzulegen und stattdessen für einen Abgeordneten-Sitz zu kandidieren. Er könnte dann sogar in der Lage sein, eine völlig neue Dynamik zu erzeugen und aus der pazifistischen Stimmung eines großen Teils der Wähler eine ganz neue Mehrheit zusammenzubringen.

So weit sind wir noch nicht. Aber der „Fall Bulgarien“ wird die Führungsriege der Europäischen Union wahrscheinlich noch lange plagen.

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