Deutsche Medien klären auf: Die Palästinenser haben sich selbst beschossen Von Dagmar Henn

Deutsche Medien klären auf: Die Palästinenser haben sich selbst beschossen

Irgendwie vertraut, diese Erklärung, oder? Bisher hat man das ja immer über den Donbass gehört, oder über das Atomkraftwerk Energodar. Jetzt sollen es die Palästinenser gewesen sein, die sich selbst beschossen und dabei gleich ein Krankenhaus trafen.

Deutsche Medien klären auf: Die Palästinenser haben sich selbst beschossen

Von Dagmar Henn

 

Irgendwie vertraut, diese Erklärung, oder? Bisher hat man das ja immer über den Donbass gehört, oder über das Atomkraftwerk Energodar. Jetzt sollen es die Palästinenser gewesen sein, die sich selbst beschossen und dabei gleich ein Krankenhaus trafen.
Quelle: www.globallookpress.com © Mohammad Abu Elsebah

„Entsetzen über Raketeneinschlag“ (Badische Zeitung), „Hamas meldet viele Tote nach Explosion in Klinik“ (NDR), im günstigsten Fall „Gegenseitige Schuldzuweisungen nach Beschuss von Klinik“ (Tagesschau), im ungünstigsten „Explosion in Gaza“ (BR) ‒ wer erwartet, dass sich auch nur ein deutsches Leitmedium zumindest dazu aufraffen kann, von einem „möglichen“ oder „mutmaßlichen“ israelischen Angriff zu sprechen, wird schwer enttäuscht. Stattdessen widmet man sich ausführlich der Theorie, es habe sich um eine fehlgeleitete palästinensische Rakete gehandelt und zitiert, statt tatsächlich über die Folgen zu berichten, lieber alle möglichen Argumente, die die israelische Armee und israelische Geheimdienste servieren. Die Bild-Zeitung gießt daraus sogar die Überschrift „Nicht Israel! Terroristen bombardierten Krankenhaus in Gaza“.

Ehe wir uns im Detail damit befassen, sollte man zuerst einige Fakten noch einmal festhalten.

Auffällig war die Zeitverzögerung, mit der diese Meldung in den deutschen Medien auftauchte, und die Formulierung. Inzwischen dürfte sich jeder daran erinnern, wie häufig Meldungen aus der Ukraine sofort mit einer eindeutigen Schuldzuschreibung versehen wurden, sich diese aber anschließend als falsch erwiesen – siehe Kramatorsk und Konstantinowka. Obwohl die Dichte internationaler Korrespondenten im Gazastreifen weit höher ist als in der Ukraine (bei einem Gebiet, das eine einzige abgeriegelte Stadt ist, kein Wunder) und sogar mehrfach live von dort berichtet wurde, tauchte die Meldung erst auf, als die israelische „Abwehr“ fertig war, und sie wurde erst gar nicht ohne die Anmerkung verbreitet, das benötige eine gründliche Untersuchung.

Die Entwicklung der Stellungnahmen aus der israelischen Regierung dauerte etwas. Zuerst gab es Jubel, dann gab es die Meldung, das Krankenhaus sei gewarnt worden, und erst im Verlauf der Nacht erfolgte der Schwenk auf die Variante, das sei überhaupt kein israelisches Geschoss gewesen.

Der nächste Punkt, der interessant erscheint, ist, mit welcher Begeisterung Aussagen eben jener israelischen Geheimdienste zitiert werden, die den Angriff der Hamas am 7. Oktober anscheinend nicht mitbekommen haben. Selbst wenn der Ablauf vermutlich weitaus komplexer war und eine Billigung der israelischen Regierungsspitze nicht ausgeschlossen werden kann (eine Klärung dieser Frage kann wie üblich bis zu Jahrzehnte in Anspruch nehmen), ist dadurch doch die Glaubwürdigkeit dieser Dienste etwas beschädigt. Sie werden aber mit einem Eifer zitiert, als habe es den 7. Oktober nie gegeben.

Und zuletzt, auch das sollte man nicht vergessen – was in jenem Krankenhaus in Gaza geschah, ist nur ein Teil eines Schreckens, der nach wie vor die gesamte Bevölkerung Gazas betrifft. Das Hilfswerk der UN berichtete gestern, die verkündete Wiederherstellung der Wasserversorgung in Gaza habe in Wirklichkeit Wasser für drei Stunden für ganze 15 Prozent der Bevölkerung bedeutet. Die Wasserversorgung ist inzwischen lange genug gesperrt, dass es für Zehntausende lebensbedrohlich ist. Sieht man das realistisch, ist selbst der Angriff auf das Al-Ahli-Arab-Krankenhaus nur ein Nebenereignis.

Nun zu der Theorie, auf die sich die deutschen Medien weitgehend eingelassen haben und die auch von der Bundesregierung vertreten wird (verständlich, gerade die Aussagen von Bundeskanzler Olaf Scholz gestern Nachmittag wären nur abgrundtief zynisch, wenn man anerkennen muss, dass es eine israelische Rakete war).

Es soll sich um eine von einer Konkurrenzorganisation der Hamas, dem Islamischen Dschihad, abgefeuerte Rakete handeln, die eine Fehlfunktion gehabt habe und deshalb auf dem Gelände der Klinik gelandet sei. Es wird zudem auf Luftaufnahmen verwiesen, die von Israel zur Verfügung gestellt worden seien.

Befassen wir uns zuerst mit diesen Luftaufnahmen. Dabei gibt es ein kleines Glaubwürdigkeitsproblem. RP Online meldet, die Klinik sei „bereits am vergangenen Samstag bei einem Luftangriff beschädigt worden“. Die Vorher-Bilder, die veröffentlicht werden, zeigen keine Spuren dieses Luftangriffes. Welche Garantie gibt es also, dass die Nachher-Bilder nicht die Folgen eben jenes Luftangriffs zeigen und nicht die Folgen der vermeintlich fehlgelenkten Rakete? Die Timecodes, nebenbei, die auf den Schnipseln zu sein scheinen, wären nur dann glaubwürdig, wenn man die Rohdaten zur Verfügung hätte; sowas lässt sich mit Videobearbeitungsprogrammen leicht ändern.

Die zentrale Behauptung, die mit diesen Aufnahmen verknüpft wird, lautet: Da ist kein Krater, also kann es keine israelische Rakete sein. Nun, es gibt viele verschiedene Raketen mit verschiedenen Sprengköpfen. Die Splittermunition, die der Ukraine für die HIMARS-Geschütze spendiert wurde, hinterlässt, wenn überhaupt, nur sehr kleine Krater, weil sich die Hauptrakete in der Luft öffnet und ihre Bomblets entlässt. Luftabwehrraketen explodieren üblicherweise in einem definierten Abstand vom Boden. Bunkerbrechende Munition hinterlässt an der Oberfläche nur ein relativ kleines Loch. Sprich, unterschiedliche Sprengköpfe explodieren auf unterschiedliche Weise, und es gibt einige Varianten, bei denen die Zündung in mehr als einem Schritt erfolgt. Kein Krater ist also nur ein Hinweis auf den Typ der verwendeten Munition, zumindest was Israel betrifft, und kein Beweis dafür, dass es keine israelische Rakete war.

Der nächste Teil der vertretenen Theorie lautet, es sei eine vom Weg abgekommene Rakete gewesen. Der Tagesspiegel veröffentlichte dazu sogar ein Video:

Wer das Video sieht, stellt fest, dass die Richtung, in die die Raketen abgefeuert werden, aus Sicht des Betrachters links vorne liegt, sie also vom Abschussort auf den Betrachter zufliegen. Dieser Abschussort liegt erkennbar näher als der Ort der später erfolgenden Explosion, die zwar links im Bild, aber eben weiter hinten stattfindet.

Auch hier gibt es ein kleines Problem. Bisher war noch nirgends die Rede davon, aus dem Gazastreifen würden Lenkraketen abgefeuert. Es handelt sich also um ballistische Raketen. Die Richtung dieser ballistischen Raketen wird im Moment des Abschusses bestimmt. Sie folgen einer ballistischen Kurve, die durch den Winkel des Abschusses und die zur Verfügung stehende kinetische Energie definiert wird. Das bedeutet, wenn eine ballistische Rakete aus welchem Grund auch immer vor dem angepeilten Ziel aufschlägt, kann dies nur in einem vergleichsweise schmalen Dreieck erfolgen, das sich links und rechts von der idealen Flugbahn befindet.

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