Die Fahne des Sieges unter Polizeistiefeln: Wie eine Zeitung am Treptower Park „malträtiert“ wurde Von Wladislaw Sankin

Die Fahne des Sieges unter Polizeistiefeln: Wie eine Zeitung am Treptower Park „malträtiert“ wurde

47 Festnahmen und 18 Strafanzeigen – so sieht die Bilanz der Polizei zum Tag des Sieges am 9. Mai aus. Allein im Treptower Park waren mehrere Hundert Beamte im Einsatz. Mit einer langen Liste von Verboten und sonstigen Auflagen hatten sie viel zu tun. Auch gedruckte Zeitungen blieben davon nicht verschont.

Die Fahne des Sieges unter Polizeistiefeln: Wie eine Zeitung am Treptower Park „malträtiert“ wurde

Von Wladislaw Sankin

47 Festnahmen und 18 Strafanzeigen – so sieht die Bilanz der Polizei zum Tag des Sieges am 9. Mai aus. Allein im Treptower Park waren mehrere Hundert Beamte im Einsatz. Mit einer langen Liste von Verboten und sonstigen Auflagen hatten sie viel zu tun. Auch gedruckte Zeitungen blieben davon nicht verschont.
Die Fahne des Sieges unter Polizeistiefeln: Wie eine Zeitung am Treptower Park "malträtiert" wurde© Wladislaw Sankin

Die Versuche der Polizei, das Gedenken an den Sieg über Nazi-Deutschland mit Verboten und eindringlicher Überwachung zu behindern, über die RT DE am Vortag berichtete, nahm doch bizarrere Züge am als zunächst angenommen. Geahndet wurde auch ein schwarz-weißes Zeitungsfoto. Darüber hat am Donnerstag die Tageszeitung junge Welt (jW) berichtet.

Sicher können sich manche Besucher des Treptower Parks am ehrwürdigen 9. Mai an die kostenlose Verteilung der dem Tag der Befreiung gewidmeten jW-Sonderausgabe vor dem Eingang der Puschkinallee erinnern. Viele von ihnen hatten die Zeitung in der Hand. Doch das auf der Titelseite abgebildete Foto der Sowjetfahne auf dem Reichstag machte die Ausgabe zu einem verbotenen Gegenstand.

Die Polizei stellte die Besucher vor die Wahl: Entweder sie bringen die Zeitung zum Stand zurück oder sie kommt buchstäblich unter die Polizeistiefel. Da die Wartezeiten um die Mittagszeit bis zu einer Stunde dauerten – kaum jemand wollte seinen Platz in der Warteschlange zum Park verlieren –, warfen viele die Zeitungen notgedrungen auf den Boden. So häuften sich neben dem Torbogen Ausgaben der jungen Welt, auf denen die Polizisten herumtrampelten – für die Herausgeber der Zeitung sicherlich kein angenehmer Anblick.

Doch manche wollten die Zeitung behalten und rissen das Bild der Fahne mit Hammer und Sichel aus der Titelseite, um Zutritt in den Park zu bekommen. Gegen Mittag verbot die Polizei dann das Verteilen der Zeitung vor dem Eingang an der Puschkinallee und verbannte den jW-Stand auf die andere Straßenseite.

Auch ich nahm die jW-Ausgabe gerne an und steckte die Zeitung in meinen Rucksack. Da sie bei der Rucksack-Sichtung unbemerkt blieb, wurde ich von Schikanen verschont. Erst wenige Stunden später hat mir ein Besucher erzählt, dass er die Fahne aus dem Foto herausreißen musste. Ich konnte die Story erst nicht wirklich glauben, sie kam mir gar zu skurril vor. Ich war gerade dabei, die Eindrücke von der brutalen Menschenjagd der Polizei, die sich kurz zuvor vor meinen Augen abspielte, zu verarbeiten. Und las am nächsten Tag die Zeitung.

Um den Lesern zu vergegenwärtigen, wie die von der Polizei „erlaubte“ jW-Sonderausgabe aussieht, habe ich selbst das getan, was ich sonst unter keinen Umständen tun würde – ich riss Hammer und Sichel der Fahne auf dem fraglichen Foto heraus. Mögen es mir meine Leser nachsehen. Aber ich kann ihnen versichern, dass das herausgerissene Stück nach dem Fotografieren umgehend an seinen Platz zurückkam.

Im Inneren des Parks setzte die Polizei ihre Jagd nach sowjetrussischen Symbolen, Fahnen, Kleidungsstücken und anderen optischen Reizen fort. Insgesamt waren bis zu 600 Beamte im Bereich Treptower Park im Einsatz. Die Anwesenheit streng dreinschauender Polizisten wirkte sich natürlich negativ auf die Stimmung der Versammelten aus. Der Besucherstrom war an diesem arbeitsfreien 9. Mai besonders zahlreich.

Nachmittags kam es mancherorts im Park zu tumultartigen Szenen. Offenbar verloren einige Besucher die Nerven. Konflikte um die „Fahnen-Frage“ wurden ausgetragen, denn die Ukraine-Unterstützer durften mit ihren Fahnen ungehindert herumlaufen. Brach ein Konflikt aus, waren sofort bis zu 40 Polizisten zur Stelle, um die angeblichen Störenfriede zu überwältigen: Die Menge reagierte mit dem Ruf „Russland, Russland!“

Eine Gruppe gesangsfreudiger Deutscher erwärmte das Publikum in regelmäßigen Abständen mit den beliebten Soldatenliedern aus der Sowjetzeit, und die Besucher stimmten gern mit ein. Dies sei gemeinsames singendes Erinnern an die unsterblichen Opfer und den großen Sieg über den Faschismus, sagte mir Holger, der Initiator des Singens und ein „Friedrichshainer“, wie er sich gerne nennt. Damit wolle er dem russophoben, antisowjetischen Treiben etwas entgegensetzen. Mit den russischen Brüdern und Schwestern, mit Freunden und Genossen unsere gemeinsamen Lieder des Friedens und der Freundschaft zu singen, sei echter und, „um ein Wort aus alter Zeit zu verwenden, unverbrüchlicher Antifaschismus“.

Auch der Berliner DKP-Chef Stefan Natke nahm in seiner Rede die Nachfahren der Sieger in Schutz. Es sei unerhört, dass die Nachkommen der Besiegten ihnen vorschreiben, wie sie ihren Feiertag zu begehen haben. Er und seine Mitstreiter haben im vorderen Bereich des Parks ihren traditionellen Stand aufgebaut. Er kündigte den Versammelten an, dass er gegen die „demütigende Allgemeinverfügung und die Auflagen“ juristisch vorgeht und bat um Spenden für das Gerichtsverfahren.

Und wie bewertete die Berliner Polizei selbst ihren Einsatz? Laut einer Polizeimeldung vom Freitag verliefen die Gedenkveranstaltungen aus Anlass des Tages der Befreiung und des Tages des Sieges am 8. und 9. Mai überwiegend friedlich und störungsfrei.

„Es kam im Laufe des Tages hauptsächlich im Bereich der Ehrenmale Treptow und Tiergarten zu 47 freiheitsentziehenden beziehungsweise beschränkenden Maßnahmen, aus denen alle Betroffenen nach Feststellung der Identitäten wieder entlassen wurden. Insgesamt wurden 18 Strafanzeigen gefertigt, unter anderem wegen Beleidigung, Widerstands gegen Vollzugsbeamte, Volksverhetzung und Bedrohung“, so die Pressestelle der Behörde.

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