Einerseits – Andererseits im israelisch-palästinensischen Konflikt Moshe Zuckermann

Dank an Moshe Zuckermann für die Genehmigung seinen neuen, heute auf Overton-Magazin veröffentlichten Kommentar, auch auf der Hochblauen Seite zu veröffentlichen. Evelyn Hecht-Galinski

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Einerseits – Andererseits im israelisch-palästinensischen Konflikt


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Bild: Times of Gaza

Anmerkungen zur Mehrschichtigkeit und perspektivischen Vielfalt des Gaza-Krieges. Was der israelisch-palästinensische Konflikt im Kern birgt, begründet seinen Kontext.

Verfolgt man den innerisraelischen Diskurs zum Krieg und nimmt den palästinensischen, nicht zuletzt aber auch den “von außen” (europäischen bzw. amerikanischen) kommenden hinzu, macht man als jemand, der die Mehrschichtigkeit und Perspektivenvielfalt der “Situation” zu vermitteln versucht, die Erfahrung, dass die Vermittlung an ebendieser Multidimensionalität scheitern muss.

Das hat zunächst nichts mit gesinnungsmäßiger Positionierung zu tun, sondern vor allem, mit dem Anspruch, über Solidaritäts- und Identifikationsparolen und entsprechenden normativen Forderungen hinaus “die Dinge” tiefer gehend zu verstehen. Von selbst versteht sich, dass dies für gesellschaftliche Abläufe und strukturelle Zusammenhänge schlechthin gilt. Aber diese Erkenntnis ist nicht hilfreich, wenn man dennoch bemüht ist, das aktuelle Erfahrene in den Kontext zu stellen, ohne den partikularen Sichtweisen allzu großes Unrecht widerfahren zu lassen.

Es gibt die Möglichkeit, dezidierte Unterscheidungen zwischen Wesentlichem und Unwesentlichem zu treffen, ohne sich allzu viel Gedanken über das Kriterium fürs Wesentliche zu machen. Ich möchte hier, geprägt von zahllosen Debatten, Vorträgen und Interviews, die ich in den letzten zwei Jahren, besonders seit dem 7. Oktober, gegeben habe bzw. an ihnen beteiligt war, stattdessen versuchen, die lose Auflistung einer Reihe von Einerseits-andererseits-Postulaten versuchen, mit dem Ziel, zumindest die Schwierigkeit einer Gesamtschau des “Ganzen” zu indizieren.

Einerseits muss das Grundproblem des israelisch-palästinensischen Konflikts historisch anvisiert, mithin in einem signifikanten Rahmen markiert werden. Folgende Daten bieten sich in dieser Hinsicht als Ausgangspunkt an: 1897 (der erste Zionistische Kongress in Basel), 1945 (Ende des Zweiten Weltkriegs und Herausbildung des Blocksystems in der Nachkriegszeit), 1948 (Gründung des Staates Israel und Nakba der Palästinenser), 1967 (Sieg Israels im sogenannten Sechstagekrieg und Errichtung des seither perpetuierten Okkupationsregimes), 1987 (Ausbruch der ersten Intifada als bedeutender Wendepunkt im palästinensischen Widerstand), 2023 (der 7. Oktober und seine Folgen). Andererseits macht es angesichts des aktuellen Krieges und der akuten Leiderfahrung der Menschen in beiden Kollektiven nicht sehr viel Sinn, den weit zurückreichenden geschichtlichen Kontext aufarbeiten zu wollen. Es scheint, als müsse 1967 zum Ausgangspunkt genommen werden, denn der israelisch-palästinensische Konflikt ist vor allem ein Territorialkonflikt, der mit der 1967 einsetzenden Besatzung weitreichende Folgen für die Geopolitik der Region und über sie hinaus generiert hat.

Kibbuz Nahal Oz nach dem 7. Oktober. Bild: Kobi Gideon / GPO

Einerseits wird der 7. Oktober in Israel als das gravierendste Gewaltereignis, das Juden seit dem Holocaust widerfahren ist, gewertet. Das Hauptgewicht wird dabei auf das pogromartige Massaker, das an jüdischen Zivilisten in den israelischen Orten am Gazastreifen verübt worden ist, gelegt. Die allermeisten Israelis sehen in ihm auch die Rechtfertigung für die von Vergeltungs- und Rachebedürfnissen getragenen Vernichtungskrieg, den Israel in seiner Folge begonnen hat. Von auch nur geringster Empathie für die Not der Gaza-Bewohner kann nicht die Rede sein. Andererseits wird der 7. Oktober von der Hamas (und nicht nur von ihr in der arabischen Welt) als ein längst fälliger Widerstandsakt gedeutet und als solcher präsentiert, wobei die an den Zivilisten begangene Verbrechen entweder überhaupt infrage gestellt oder durch die eklatante Unverhältnismäßigkeit der israelischen Reaktion deutlich relativiert werden. Jüdisch-israelisches Leid wird überhaupt nicht wahrgenommen, mithin als Minimum dessen, was man den Trägern des Okkupationsregimes zumuten darf, verbucht.

In nämlichem Zusammenhang wird einerseits auf israelischer Seite der Krieg mit all seinen Gewaltexzessen als eine Maßnahme der “Selbstverteidigung” infolge des 7. Oktober dargestellt, als aufgezwungener Gewaltakt also, bei dem Israel moralisch handelt und also auch keine Kriegsverbrechen begeht. Der palästinensische Diskurs (weltweit) andererseits redet von einem Genozid, also von einer nicht nur quantitativen, sondern auch intentionalen Bestrebung Israels, palästinensisches Leben (zumindest im Gazastreifen) auszulöschen.

Für (israelische) Juden, die für einen Genozid die Shoah zum Maßstab heranziehen, gilt diese Zuschreibung einerseits als eine unzumutbare Anschuldigung. Palästinensern (und ihren Anhängern in der Welt) gilt andererseits gerade diese Abweisung als ein weiterer Beleg für israelische Unmenschlichkeit und den manipulativen Umgang des zionistischen Staates mit Moral und “Geschichtslehren”.

Einerseits wird die Hamas von Israel als Terrororganisation, die ihre Gewalt vornehmlich gegen israelische Zivilisten richtet, definiert. Andererseits sehen die Palästinenser und die arabischen Staaten die Hamas als eine legal gewählte Regierungsmacht, die man als solche zu respektieren habe, ungeachtet der Frage, ob man ihrer Ideologie das Wort reden möchte oder nicht. Zu klären bleibt dabei der Begriff des Terrors. Denn obgleich die Hamas in der Tat Terror gegen Zivilisten betreibt, kann nicht übersehen werden, dass auch Israel einen staatlich gesteuerten Terror gegen die palästinensische Zivilisten sowohl im Gazastreifen als auch im Westjordanland praktiziert. Israel genießt dabei den Vorteil, eine Armee zu besitzen; mit einer Armee betreibt man keinen Terror (den man gemeinhin nicht- bzw. paramilitärischen Verbänden zuschreibt), sehr wohl kann man mit ihr Kriegsverbrechen begehen.

Einerseits führt Israel den Krieg gegen die Hamas mit dem völkerrechtlichen Anspruch, sich gegen die Hamas-Aggression, wie sie am 7. Oktober zutage trat, verteidigen zu dürfen. Da der Angriff auf israelischem Territorium stattfand, ist dieser Anspruch rechtlich legitimiert und nicht infrage gestellt worden. Andererseits weiß man in Israel aber längst schon, dass die ausgedehnte Fortsetzung des Krieges mittlerweile weniger mit dem Ziel zu tun hat, den “totalen Sieg” zu erringen (den man offenbar nicht zu erringen vermag), sondern mit Netanjahus Interesse, den Krieg am Leben zu erhalten, um einer staatlichen Untersuchungskommission zu entgehen, die seine Verantwortung/Schuld am 7. Oktober erarbeiten würde, und um den gegen ihn wegen Korruption, Betrug und Veruntreuung geführten Prozess, der ihn ins Gefängnis bringen könnte, möglichst lang hinauszuschieben. Zu diesem Zweck ist er auch bemüht, die israelische Justiz, mithin die Gewaltenteilung aufzulösen bzw. seiner politischen Macht zu unterwerfen.

In diesen Zusammenhang gehört auch der Umgang der israelischen Regierung mit den entführten Geiseln in Hamas-Gefangenschaft. Einerseits gilt ihre Befreiung als erklärtes Kriegsziel der Regierung, ist auch ein essentieller Bestandteil des zionistischen Ethos, jedem Juden in der Not – – und in allerster Linie einem israelischen Juden – zu Hilfe zu kommen, mitunter auch unter Vollführung gewagter israelischer Militäraktionen. Andererseits hat sich herausgestellt, dass Netanjahu und seiner nationalreligiösen Koalitionspartner Bezalel Smotrich und Itamar Ben-Gvir andere Prioritäten und entsprechen Ziele verfolgen: Netanjahu hat mehr als einmal einen möglichen Deal mit der Hamas zur Geiselbefreiung unterwandert, um den Krieg fortsetzen zu können, und seine Partner aus dem Siedlerlager streben überhaupt die Eroberung von ganz Gaza und seine jüdische Neubesiedlung an. Die verbliebenen Geiseln können geopfert werden, wenn es sein muss. Das wird nicht offen ausgesprochen, aber real praktiziert.

Dieser letzte Punkt spaltet die israelische Gesellschaft in einer eigentümlichen Weise. Einerseits beklagt man fortwährend und in allen Medien das horrende Schicksal der gefangenen Geiseln, die in der Tat Schlimmstes durchmachen. Andererseits bildet sich in den Demonstrationen keine kritische Masse, die die Regierung anzutreiben vermöchte, den Deal mit der Hamas einzugehen, die Entführten zu befreien und (damit einhergehend) den Krieg zu beenden. Die Abhängigkeit der Angehörigen der Geiseln von Netanjahus Willkür ist grausam, zumal er auch nicht davor zurückschreckt, gegen sie zu hetzen, wenn ihm ihre Kritik an seinem Vorgehen zu viel wird.

Ein anderer Aspekt der Spaltung innerhalb der israelischen Gesellschaft manifestiert sich in der generellen Positionierung zu Netanjahu als regierendem Premier. Einerseits etablierte sich spätestens seit dem Versuch des Staatstreichs von 2023 eine große Front von Netanjahu-Gegnern aus verschiedenen Lagern und Gruppierungen. Noch vor dem 7. Oktober entstand eine massive Protestpraxis gegen ihn, die in bestimmten Momenten große Teile der israelischen Bevölkerung erfasste. Andererseits – und das kann nicht deutlich genug hervorgehoben werden – zu keinem Zeitpunkt dieser Protestwelle bildete sich eine quantitativ ernstzunehmende Demonstration gegen die israelische Okkupation im Westjordanland. Das ist insofern auffällig, als es Netanjahus Politik seit Jahren war, die Okkupationsfrage (das sogenannte “palästinensische Problem”) sowohl von der Weltbühne als auch vom innerisraelischen Diskurs verschwinden zu lassen. Eine ernstgemeinte Protestbewegung gegen Netanjahu müsste ebendies in Anschlag bringen, Aber genau hier liegen offenbar die israelischen Tabugrenzen.

Die Tabugrenzen sind bei der Gaza-Bevölkerung unter der Hamas-Herrschaft ebenfalls deutlich gezogen. Einerseits lässt sich objektiv nicht bezweifeln, dass die Hamas mit der Aktion am 7. Oktober die von ihr beherrschte Bevölkerung in ein schreckliches Unglück gestürzt hat. Jetzt schon zählt man über 50.000 Tote, unter ihnen unzählige Kinder, Frauen und alte Menschen, und eine exzessive Zerstörung und Verwüstung von Infrastruktur und Lebensgrundlagen. Vollführt hat dies die israelische Armee, aber Anlass dazu gab die Hamas. Andererseits ist zur Zeit kaum abzusehen, dass sich die Gaza-Bevölkerung gegen die Hamas erheben wird. Als vor zwei Wochen Demonstrationen ausbrachen, machte die Hamas kurzen Prozess damit, die Protestwelle wurde gewaltsam im Keime erstickt. In den israelischen Medien, die den gesamten Krieg über kaum Bilder von den Destruktionsorgien der IDF übermittelt haben, wurden die Protestaktionen gezeigt. Aber im Grunde wünschen sich nicht nur Knesset-Mitglieder, sondern auch viele in der israelischen Bevölkerung die ethnische Säuberung des Gazastreifens. Die Bewohner mögen einfach auswandern.

Einerseits wird (nicht nur in Israel) moniert, die Hamas sei eine religiös-fundamentalistische Bewegung. Ihre islamistische Ideologie berge auch dschihadistischen Terror in sich. Andererseits ist der politische Zionismus der letzte, der daraus Kapital schlagen darf. Der religiöse Fundamentalismus der Siedlerbewegung, vor allem im Westjordanland, steht den “dschihadistischen” Tendenzen der Araber in nichts nach. Unter der Schirmherrschaft der IDF-Okkupation erweist er sich als nicht minder mörderisch.

In den letzten Wochen finden im Westjordanland wöchentliche Pogromattacken – eine Kooperation von Armee und Siedlern – gegen palästinensische Bewohner statt. Ein Religionskrieg also? Nein, Hamas möchte keine Juden zum Islam bekehren, und das Judentum ist im Wesen eh antimissionarisch. Bei aller Aufladung des Konflikts mit religiöser Ideologie (“gottverheißenes Land” etc.) war er von Anbeginn im Kern ein Territorialkonflikt und ist es auch geblieben. Einerseits gibt diese Einsicht Grund zur Hoffnung: Ein Territorium kann ja geteilt werden, kann getrennt oder gar gemeinsam besiedelt und bewohnt werden. Andererseits mag sich gerade das Territorium als unheilvoller Besitzfetisch erweisen. Der moderne Imperialismus mit seinen expansiven Tendenzen und Herrschaftsbegierden bezeugt dies aufs tragischste.

Und es ist in der Tat die Konstellation von expansiver Ideologie und religiösem Fanatismus in Verbindung mit einer historisch begründeten Asymmetrie in den Machtverhältnissen, die dem Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern seine Struktur und eine Raison d’être verleiht. Es liegt an beiden Seiten, diesen Konflikt zu lösen. Aber solange Israel militärisch die Oberhand hat und die Okkupation aufrechterhält, kann sich die Sackgasse, in die der Nahostkonflikt geraten ist, nur verfestigen. Es liegt demnach einerseits an Israel, die Lösung des Konflikts zu initiieren, denn es ist nun einmal Israel, das das beherrscht, worum es in ihm geht: Territorium. Aber eine solche Lösung muss andererseits auch gewollt sein. Israel will die fällige Lösung aber auf keinen Fall zulassen. Fraglich, ob es seit 1967 den Frieden unter den Bedingungen dieser Lösung je gewollt hat. Es hat alles in seiner Macht Stehende getan, um die territoriale Lösung zu verunmöglichen. Und unter der Schirmherrschaft des neuen US-Präsidenten ist auch der Rest an Hoffnung auf eine Israel “von außen” aufgezwungene Lösung offenbar verflogen. Der “Deal”, den er skizziert hat, ergeht sich in infantil-arroganten Plänen einer Melange aus ethnischer Säuberung und Riviera-Phantasien.

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