Oskar Lafontaine im Gespräch/Interview, mit Emanzel Todd, Teil Eins.
Danke auch für seine Genehmigung, dass auf dem Overton-Magazin auf der Hochblauen Seite zu übernehmen. Es ist ein Gewinn, zwei so intelligente und kompetente Männer im Gespräch zu lesen. Evelyn Hecht-Galinski
»Es ist schwierig, die Idee zu akzeptieren, dass deine Schutzmacht dir schaden will«
Der Westen befindet sich im Niedergang: Das ist die Analyse des französischen Historikers Emmanuel Todd. Er traf vor einigen Tagen auf Oskar Lafontaine. Beide sprachen sie über Europa, den Westen und das Vakuum, in das die westliche Welt geraten ist.
Folgend der erste von drei Teilen.
Lafontaine: An Ihrem neuen Buch »Der Niedergang des Westens« interessieren mich besonders zwei zentrale Thesen. Die erste These lautet, dass Deutschland im Zentrum des Ukrainekonflikts steht. Für einen Deutschen ist das etwas überraschend: Hier sieht man eher die USA, die Ukraine oder Russland im Zentrum – aber nicht uns. Und Ihre zweite wichtige These lautet, dass die verlorene Religiösität ein großes Problem in der Welt darstellt, und zwar sowohl in den Vereinigten Staaten als auch in Europa. Diese zweite These interessiert mich auch sehr. Mein Freund Peter Scholl-Latour hat mir gegenüber mal einen wichtigen Satz von Malraux zitiert: »Das 21. Jahrhundert wird religiös sein – oder es wird nicht sein.« Dieses Zitat ist der These in Ihrem Buch sehr ähnlich. Denn ohne Religion, wie soll es da weitergehen mit der westlichen Gesellschaft?
Todd: Vielleicht fangen wir mit der Religion an. Denn für mich ist es einfacher, über Religion zu sprechen als direkt über Deutschland, da ich selbst Franzose bin. Man muss unbedingt verstehen, dass, wenn ich über Religion spreche, ich das nicht vom Standpunkt meines eigenen Glaubens aus tue, sondern als Resultat vieler Etappen in meiner eigenen Forschungsarbeit. Das ist wirklich wichtig, weil es viele Leute gibt, die glauben, dass ich religiöse Anliegen habe. Dem ist nicht so.
»Ich habe keine Vision, was aus diesem religiösen Vakuum werden könnte«
Lafontaine: Nach welchen Kriterien gehen Sie dann vor?
Todd: Wenn man sich beispielsweise die Regionen Frankreichs ansieht, in denen der Katholizismus noch am längsten überdauert hat, dann gab es dort eine bessere Widerstandsfähigkeit gegen die Globalisierung. Es gab niedrigere Arbeitslosenquoten, bessere Bildungsleistungen. Und da habe ich gespürt, dass ich das Konzept des Zombie-Katholizismus entwickeln muss – d. h. einer Religion, die tot ist, aber in ihrer strukturierenden Moral und ihren Werten weiterlebt. Auf diese Weise habe ich schließlich verstanden, dass es eine Phase in der Geschichte Europas gab, in der die Religion nach ihrem Untergang durch alle möglichen anderen Ideologien ersetzt wurde. So sehe ich etwa immer mehr die gesamte sozialistische Bewegung in all ihren verschiedenen Formen – die Sozialdemokratie wie auch den Kommunismus – als quasi-religiöse Formen, als Zombies, die nicht mehr an Gott glaubten, aber deren Grundwerte und deren Fähigkeit zur Bildung, zur Betreuung und Absicherung der Individuen immer noch die der Religion waren. Ich habe die Endphase davon erlebt, als ich jung war: Ich war zwei oder drei Jahre lang Mitglied der Kommunistischen Partei Frankreichs. Das war die rote Kirche, wie man so schön sagte.
Lafontaine: Der Kommunismus, das war tatsächlich für viele Leute eine Religion …
Todd: Ja. Das gleiche würde ich über die Sozialdemokratie durchaus auch sagen. In Deutschland hat die Entwicklung der Sozialdemokratie den Rückgang der religiösen Praxis sehr stark begleitet, nicht nur in den protestantischen Gebieten. Auf der rechten Seite wiederum gab es die Idee der Nation – auch der Nationalismus war ein Ersatzglaube. Das ist es, was ich in meinen jüngeren Arbeiten als Historiker festgestellt habe. Und das ist es auch, was in diesem Buch zum Vorschein tritt. Es gab also das aktive Stadium des Geldes, das Zombie-Stadium der Religion und dann das Stadium der Religion im Nullzustand, das mir für unsere Zeit zentral zu sein scheint: Das Individuum ist allein, Verhaltensweisen werden nicht mehr eingegrenzt, die Freiheit produziert Unruhe, ein Gefühl der Leere mit einem Phänomen des Schwindels und der Vergöttlichung der Leere, wie ich es nenne – und das führt schließlich zu dieser Idee, die für mich der Hauptpunkt in diesem Buch ist, nämlich die Idee des Nihilismus, der den Westen und insbesondere die Vereinigten Staaten bedroht. Mir scheint, dass das Problem des Religionsverlusts in protestantischen Ländern besonders stark ausgeprägt ist. Alle protestantischen Länder sind im Moment besonders fieberhaft.
Lafontaine: Mit »fieberhaft« spielen Sie auf die aktuelle Kriegsbegeisterung an? Ist die in protestantischen Ländern tatsächlich stärker ausgeprägt?
Todd: Ja, man könnte sagen, dass der kriegerische Bogen von den USA über das Vereinigte Königreich bis nach Skandinavien geht. Ich bin Spezialist für Familiensysteme, und da lassen sich im Wesentlichen zwei Muster unterscheiden: Auf der einen Seite gibt es Länder und Regionen mit individualistischen Kernfamilienstrukturen, wie das Pariser Becken, aber vor allem auch die angloamerikanische Welt und auf der anderen Seite Länder und Gegenden wie Deutschland, Mittelitalien, Japan und Russland natürlich, mit viel komplexeren Familienstrukturen. Es scheint mir, dass sich die Frage der Leere in jenen ersteren Ländern noch stärker stellt. Denn wenn dort die Religion verschwindet, verschwindet die Religion in einem Land mit individualistischen Familientraditionen. Ich glaube, wir befinden uns in einer seltsamen Situation, in der ich sagen würde,das Problem der Verrottung der Demokratie ist in den drei Ländern, die die liberale Demokratie begründet haben — also England, den Vereinigten Staaten und Frankreich, den Ländern der Kernfamilie — viel akuter, als in Italien oder Deutschland, Länder, die so viel Mühe mit der Demokratie, mit dem Faschismus und dem Nationalsozialismus hatten. Es ist also so, als würde man eine Umkehrung beobachten. Aber um auf das Zitat von Malraux zurückzukommen: Ich habe keine Ahnung, was passieren wird. Ich glaube nicht an die Rückkehr der Religion. Aber man muss in jedem Fall alles daransetzen, den Krieg zu vermeiden. Und es gibt ein immer stärker aufkommendes Konzept des endlosen Krieges, ein ursprünglich amerikanisches Konzept, das ich aber auch auf die Ukraine oder jüngst auf Israel anwenden könnte. Das Einzige, das ich dem entgegenzusetzen wüsste, wäre bürgerliches Engagement. Aber ich habe keine Vision, keine wirklich umfassende Vorstellung davon, was aus diesem religiösen Vakuum werden könnte – ich kann nur feststellen, dass es sich dabei um ein Problem handelt.
»Die Religion hat früher alles strukturiert«
Lafontaine: Ja, dem stimme ich zu. Das erinnert mich ein bisschen an meine eigene Jugendzeit, als ich in einer katholischen Region aufgewachsen bin. Da hat die Religion alles strukturiert und natürlich auch die Werte vorgegeben. Das war eine andere gesellschaftliche Situation. Und mit der Religion in diesem Zombiezustand, wie sie sagten, hat sich die Ausgangslage verändert. Die damaligen Werte sind ins Hintertreffen geraten. Und jetzt haben wir, wie Sie sagten, eine Religion auf dem Nullpunkt. Und meine Frage war, ohne Ihr Buch zu kennen: Wie sollen wir so weitermachen? Wie sieht die Richtung aus, die diese Gesellschaft nehmen soll? Was tut man, wenn man keine Werte mehr hat? Ich stimme auch bezüglich der Unterschiede in den Familienstrukturen zu. Die Struktur hierzulande ist mehr gemeinschaftlich und die andere Struktur ist individueller. Und eine Gemeinschaftsstruktur ist natürlich auch ein bisschen eine Basis für Solidarität mit einem Anderen, vielleicht auch mit einem anderen Land. Wenn eine Struktur sehr individualistisch ist, ist diese Basis nicht da. Und das ist vielleicht ein Grund für den Unterschied zwischen den Staaten in Nordskandinavien zum Beispiel oder England, Italien, vielleicht auch Spanien – und Russland sicherlich auch. Von diesem Standpunkt aus bin ich vollkommen einverstanden mit Ihrer Analyse. Und für mich war es sehr wichtig, dass Sie in Ihrem Buch die Bedeutung der Religion betonen, aber dieser andere Punkt mit der Familienstruktur war mir bisher unbekannt, das ist eine neue Idee, die ich erst dank Ihnen betrachte. In der deutschen Diskussion kennen wir diese beiden Fragen nicht. Wir diskutieren hierzulande nicht über die Konsequenz der Nullregion. Ich weiß von keinem Deutschen, der dieses Problem diskutiert hat und auch über Familienstrukturen wird hier nicht gesprochen.
Todd: Die Religion ist in Frankreich schon ein Diskussionsthema. Um ehrlich zu sein bin ich, was das Thema angeht, nicht der Einzige und nicht der Erste. Da gab es Régis Debrays der schon sehr früh ein Buch geschrieben hat. Oder Marcel Gauchet – oder Olivier Roy. Eigentlich ist es in Frankreich heute fast normal, in der Religion die Matrix, die Grundlage der Politik zu sehen. Aber man muss sagen, dass die Konfrontation zwischen der Revolution und der Kirche so stark war, dass sich in der französischen Theorietradition nichts zur Thematik der Familienstrukturen finden ließ. Anfang der Achtzigerjahre habe ich dann selbst angefangen über Familienstrukturen zu schreiben. Was meine Theorie über die Familie sagt, ist, dass die Werte, die in der Familie herrschen, wenn die Leute lesen und schreiben lernen, sich auf die Ideologie übertragen, die produziert wird. Demnach ist es in den Regionen mit individualistischen Familien die Idee von Freiheit, die hervorsticht, so wie in England, Frankreich und so weiter. In Regionen hingegen, in denen die Familie einen Zug von väterlicher oder mütterlicher Autorität hat, wie in Russland oder Mittelitalien, entstehen autoritärere Ideologien: Faschisten, Kommunisten, Nationalsozialisten. Das ist eine einfache Theorie, aber eine Theorie, die im Grunde besagt, dass selbst, wenn irgendwo eine liberale Ideologie vorherrscht, der Mensch dort in Wirklichkeit nicht frei ist, denn die liberale Idee wird ihm in Wirklichkeit von etwas Unbewusstem aufgezwungen.
Lafontaine: Was mich vor allem interessiert hat, war, eine Antwort auf die Frage zu finden, warum die Leute jetzt auf einmal so für den Krieg sind? Als ich ungefähr 40 Jahre alt war, in den Achtzigerjahren, da war es die Zeit von Willy Brandt, von Gorbatschow. Damals wollte man den Frieden. Und jetzt will man den Krieg. Das verstehe ich nicht. Und in Deutschland haben wir eine christdemokratische Partei, die als Christen doch eigentlich für den Frieden sein müssten, schließlich handelt es sich um eine Religion der Nächsten- und der Feindesliebe. Aber hier in Deutschland ist die CDU der größte Kriegsbefürworter des Parlaments.
Todd: Mehr noch als die Grünen?
»Angela Merkel war eine Person, die nicht viele Werte hat«
Lafontaine: Ja, fast! Sogar die Grünen sind für den Krieg und für die Waffen und all das, aber wir haben einen CDU-Politiker, der sagt, man müsse Moskau direkt attackieren mit den Raketen, die wir der Ukraine geben. Das ist eine Bewegung, die sich Christdemokratie nennt!
Todd: Haben Sie eine Hypothese, die das erklären könnte?
Lafontaine: Nein. Die Frage ist, ist das nur Nullreligion und Nihilismus? Ich stimme völlig zu, wenn man keine Religion hat, dann hat man auch keine Werte. Und dann ist das Geld der einzige Wert oder die Macht. Warum hat ein Christdemokrat aber die gleiche Nullreligion wie ein Grüner oder ein Sozialdemokrat?
Todd: Tatsächlich ist das sehr verwunderlich, weil der ursprüngliche Kern der CDU katholisch war. Es wäre interessant zu wissen, was die Synthese aus der protestantischen Rechten im Osten und der ursprünglichen, katholischen CDU für Auswirkungen hatte. Hat die CDU in Deutschland an Bedeutung verloren?
Lafontaine: Ja, Angela Merkel war eine Person – ich kenne sie ein bisschen – die nicht viele Werte hat. Sie war eine Opportunistin. Sie kam aus einem protestantischen Elternhaus – ihr Vater war ein protestantischer Pastor –, aber sie selbst war vor allem praktisch veranlagt, das war alles. Ich glaube, die Antwort ist, dass sich inzwischen alle im Stadium der Nullreligion befinden. Es ist nicht mehr wichtig, ob die Eltern katholisch oder protestantisch waren.
Todd: Sie sagen also eigentlich das Gegenteil von dem, was ich vorhin gesagt habe: Ich sagte, dass der Protestantismus im Nullzustand gefährlicher sei als der Katholizismus. Und da suggerieren Sie, dass es in Deutschland alles das Gleiche sei …
Lafontaine: Nun, ich bin mir nicht sicher, ob man das wirklich so sagen kann. Vielleicht ist es auch nur eine Spezialsituation hier in Deutschland, weil die Rechte in Deutschland, die AfD, gegen den Krieg in der Ukraine ist und die CDU und die SPD sich geschlossen dagegen positionieren.
Todd: Ja, aber trotzdem: Betrachtet man es von außen, erscheint Deutschland nicht als das kriegslüsternste Land. Ich weiß, dass jeder schlecht über Scholz redet, dass er als zögerlich beschrieben wird usw., aber es ist doch ein vernünftiges Zögern. Ich hoffe, es ist nicht indiskret, Sie zu fragen, aber: Wie beurteilen Sie Scholz?
»Wofür ist mein Vater in den letzten Monaten des Zweiten Weltkrieges gefallen?«
Lafontaine: Als ich der Vorsitzende der Sozialdemokratischen Partei war, war er nicht wichtig, er war im dritten Rang. Deshalb kenne ich ihn nicht sehr gut, aber ich kann Ihnen trotzdem eine Antwort geben. Er ist ein sehr mittelmäßiger Mann. Er hat nicht die Statur von Helmut Schmidt oder Willy Brandt – diese hatten als sozialdemokratische Kanzler jeweils eine wichtige Rolle in der deutschen Geschichte inne. Was ich nicht verstehe ist, wie er sich so zum Vasall der Vereinigten Staaten machen kann. Erinnern Sie sich an diesen unglaublichen Moment, als Biden sagte, er will die Nord-Stream-Pipelines zerstören? Daraufhin hat Scholz nichts geantwortet. Das fand ich damals unmöglich von einem deutschen Politiker. Wenn ich dagewesen wäre, hätte ich gesagt: Herr Präsident, es ist Ihre Pflicht, die Vereinigten Staaten zu regieren, aber nicht unsere eigene Infrastruktur. Das ist unglaublich, das ist Masochismus!
Todd: Um ehrlich zu sein, begegne ich da Deutschland mit etwas mehr Empathie. Ich glaube, die Situation Deutschlands in seinem Verhältnis zu den Vereinigten Staaten ist unglaublich komplex: Es ist schwierig, die Idee zu akzeptieren, dass deine Schutzmacht dir schaden will. Was ich an der Sache so frappierend finde, ist diese Stille, das Schweigen Deutschlands. Wir haben im Französischen so einen Ausdruck: Das ist eine Stille, die einen enormen Lärm macht. Diese Stille verrät uns die ganze Komplexität der deutschen Situation. Und ich finde, trotz der Kriegstreiberei der CDU und so weiter, glaubt man zu spüren, dass es hier in Deutschland eine Macht gibt, die diesen Krieg nicht will, die die Gefahr spürt, die genau vorhersieht, wie es ausgehen würde.
Lafontaine: Gerade jetzt habe ich eine Umfrage gelesen, laut der die Jugend Deutschlands eine sehr große Angst vor dem Krieg hat, mehr noch als vor einigen Jahren. Und das gibt mir Hoffnung, denn wenn die jungen Leute keinen Krieg wollen, ist das gut. Vor diesem Hintergrund war es für mich auch ein Grund zur Hoffnung, wenn Sie in Ihrer Analyse meinen, dass wir hier im Westen keinen echten Nationalgeist mehr haben. Diese Idee, dass wir uns verpflichten, im Namen unserer Nation Krieg zu führen, das ist verschwunden. Mein eigener Vater war noch als Soldat in den letzten Monaten des Zweiten Weltkrieges gefallen. Aber wofür? Für nichts. Ich hoffe, dass die Jugendlichen dieser Welt Deserteure sind.
Todd: Wobei meinem Geist nach dieses Zurücktreten des Nationalismus nichts Positives ist. Ich bin allerdings ein ziemlicher Befürworter einer befriedeten nationalen Idee.
Lafontaine: Ja, aber man muss das auch vom Standpunkt des Krieges aus sehen: Wenn man kein richtiger Nationalstaat mehr ist, kann man nicht sagen, die Franzosen kämpfen gegen die Deutschen oder umgekehrt. Das ist meine Hoffnung.
Der zweite Teil folgt in den kommenden Tagen.
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