Hinter Deutschlands unerschütterlicher Unterstützung für Israel Von Matthew Read

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Der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz im Mai 2023. (Europäisches Parlament, Flickr, CC BY 2.0)

Matthew Read sagt, dass Deutschland seit 1949 ein Narrativ der Kollektivschuld pflegt, anstatt sich mit den wirtschaftlichen Wurzeln des Faschismus und Teilen der herrschenden Klasse, die Hitler unterstützt haben, auseinanderzusetzen.

Hinter Deutschlands unerschütterlicher Unterstützung für Israel
Von Matthew Read

Peoples Dispatch.

1. April 2024

Das Ausmaß der Unterstützung der deutschen Regierung für Israel während der laufenden Offensive in Gaza hat viele überrascht.

Der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz hat sich mit seiner Kritik an Tel Aviv sogar noch mehr zurückgehalten als US-Präsident Joe Biden.

Ein zentraler Bezugspunkt für deutsche Politiker ist der Begriff der Staatsräson.

Dieser Begriff wurde erstmals in einem Aufsatz des ehemaligen deutschen Botschafters in Israel, Rudolf Drebler, Anfang der 2000er Jahre geprägt und von der damaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel in einer Rede vor der Knesset 2008 wiederholt.

Seitdem ist es zu einem Kernstück deutscher öffentlicher Erklärungen und zu einem ideologischen Werkzeug geworden, um Israels „Recht auf Selbstverteidigung“ zu legitimieren.

Wie Scholz am 12. Oktober 2023 sagte:

„In diesem Moment gibt es nur einen Platz für Deutschland. Wir stehen an der Seite Israels. … Das ist es, was wir meinen, wenn wir sagen: Israels Sicherheit ist Deutschlands Staatsräson.“

In diesem Zusammenhang hat eine wachsende Zahl von Nationen aus dem Globalen Süden damit begonnen, Deutschland für die Beschönigung und sogar Rechtfertigung des Völkermordes an den Palästinensern in Frage zu stellen.

Im Januar [kurz vor seinem Tod am 24. Februar] veröffentlichte Namibias verstorbener Präsident Hage Geingob eine Erklärung, in der er Deutschland für seine unkritische Verteidigung Israels scharf kritisierte und betonte, dass die deutsche Regierung nun aktiv einen Völkermord in Palästina unterstütze, während sie ihren Völkermord an den Herero und Nama in Namibia (1904-1908) noch immer nicht gesühnt habe.

Aus ähnlichen Gründen verklagt die nicaraguanische Regierung Deutschland nun vor dem Internationalen Gerichtshof wegen Beihilfe zum israelischen Völkermord in Gaza.

Um zu verstehen, was hinter der deutschen Staatsräson und den bilateralen Beziehungen zu Israel steckt, muss man die Ursprünge des heutigen deutschen Staates und die Tradition, in der er steht, verstehen.

Historischer Kontext

Die Bundesrepublik Deutschland (BRD, während des Kalten Krieges gemeinhin als „Westdeutschland“ bezeichnet) wurde im Mai 1949 gegründet.

Ähnlich wie Südkorea und Taiwan wurde die BRD nach dem Zweiten Weltkrieg unter den Fittichen der USA gegründet, um als Bollwerk gegen den Sozialismus zu dienen.

Als zentraler Akteur in der „Containment“- und „Rollback“-Strategie des Westens musste der westdeutsche Staat sowohl aggressiv gegenüber dem sozialistischen Osten als auch fügsam gegenüber dem kapitalistischen Westen sein.

So wurde der Einfluss der Konzerne, die Adolf Hitler finanziert hatten, bewusst wiederhergestellt, und die Unternehmer mit Verbindungen zur Nazi-Partei wurden inoffiziell für ihre Rolle bei den Verbrechen des faschistischen Deutschlands gegen die Menschlichkeit begnadigt, obwohl sie oft direkt von der Zwangsarbeit im Dritten Reich profitierten (z. B. Daimler, Siemens, Rheinmetall usw.).

Gleichzeitig wurde die BRD durch den Marshallplan und die Nordatlantikpakt-Organisation (NATO) fest in die US-geführte Ordnung eingebunden, zu der bis heute die Stationierung von Zehntausenden von US-Truppen in Deutschland gehört.

US-Verteidigungsminister Lloyd Austin, im schwarzen Mantel, bei seinem Besuch im Hauptquartier des U.S. Africa Command in Stuttgart, Deutschland, im April 2021. (U.S. Africa Command, CC BY 2.0)

Die Führer der jungen BRD sahen sich sofort mit dem Problem konfrontiert, wie sie den Holocaust öffentlich thematisieren sollten. Bilder von KZ-Häftlingen gingen als Schockwellen um die Welt und gaben Anlass zu dem internationalen Aufruf: Nie wieder!

Doch innenpolitisch konnte sich Westdeutschland eine gründliche Entnazifizierung der Gesellschaft nicht leisten, da dies die kapitalistische Basis der BRD ebenso destabilisieren würde wie in Ostdeutschland, wo Nazi-Kriegsverbrecher und Unternehmer rigoros enteignet worden waren.

Anstatt also die wirtschaftlichen Wurzeln des Faschismus anzugehen und Teile der herrschenden Klasse wegen Beihilfe zu Hitler strafrechtlich zu verfolgen, pflegten Konservative und Liberale in der BRD eine Erzählung von der deutschen Kollektivschuld, für die alle Bürger büßen müssten. Nicht der Kapitalismus und das liberale System der Weimarer Republik (1918-1933) hätten den Aufstieg des Faschismus ermöglicht, sondern die kulturelle Veranlagung des deutschen Volkes.

Auf diesem Wahlplakat aus dem Jahr 1949 nennt die FDP – heute Mitglied der Regierungskoalition in Deutschland – als erste Forderung ein „Ende der Entnazifizierung“. (Graphischer Grobbetrieb Georg Stritt & Co, Haus der Geschichte, Bonn; Wikimedia Commons, Public domain)

Diese politische Strategie zeigte sich in der Unterstützung Westdeutschlands für den Staat Israel, der ein Jahr vor der BRD gegründet worden war.

Der erste westdeutsche Bundeskanzler, Konrad Adenauer, hatte das erste Wiedergutmachungsabkommen der BRD mit Israel 1952 öffentlich als „aus zwingender moralischer Verpflichtung“ bezeichnet. Angesichts der innenpolitischen Kritik an dem 3-Milliarden-Mark-Abkommen – vor allem aus der FDP und aus der eigenen CDU – verkündete Adenauer, dass es „höhere Werte als gute Geschäfte“ gebe.

Kürzlich aufgetauchte Dokumente aus dem Auswärtigen Amt zeigen jedoch, dass Adenauer tatsächlich nur „auf Druck der USA bereit war, über Reparationen [mit Israel] zu verhandeln“.

Der Kanzler hatte auf das Verhältnis der Bundesrepublik zu den USA verwiesen und gesagt, dass „ein ergebnisloser Abbruch der Verhandlungen mit Israel schwerste politische und wirtschaftliche Gefahren für die Bundesrepublik heraufbeschwören würde.“

Mit anderen Worten: Wenn die BRD wieder ein mächtiger Akteur in der europäischen Politik werden wolle, müsse sie den Staat Israel politisch, wirtschaftlich und militärisch in erheblichem Umfang unterstützen, hieß es von amerikanischer Seite. Während es anfangs erheblichen innenpolitischen Unmut über diese Vorbedingung gab, haben die führenden Politiker der BRD die Beziehungen zu Israel als förderlich für ihre eigenen Interessen erkannt, sowohl im Hinblick auf die geopolitische Strategie als auch auf profitable Unternehmungen für die deutsche Industrie.

So sind beispielsweise die Waffenverkäufe an Israel in den letzten Jahren sprunghaft angestiegen. Siemens profitiert regelmäßig von israelischen Aufträgen, wie z. B. 2018 von der Ausschreibung der israelischen Eisenbahn im Wert von rund einer Milliarde Euro; und der deutsche Arzneimittelhersteller Merck (dessen Gründerfamilie überzeugte Nazis waren) unterhält ebenfalls Forschungsstandorte und -projekte in Millionenhöhe in Israel.

Angesichts der schrecklichen Bilder aus Palästina werden die deutschen Medien den Export von Waffen und Kapital nach Israel rechtfertigen, indem sie unkritisch die offizielle Regierungslinie wiederholen, wonach Israels Sicherheit angesichts der Ermordung von 6 Millionen Juden durch Nazi-Deutschland Staatsräson sei.

Solidaritätsprotest auf dem Pariser Platz in Berlin am 8. Oktober 2023. (Leonhard Lenz, Wikimedia Commons, CC0)

Konzepte wie Staatsräson und deutsche Kollektivschuld wurden also als ideologische Instrumente entwickelt, um sowohl die Verantwortung der deutschen Kapitalistenklasse für die Kriegsverbrechen der Nazis in der Vergangenheit abzulenken als auch die brutale Verfolgung ihrer wirtschaftlichen und politischen Interessen in Westasien in der Gegenwart zu verschleiern.

Dies hilft der deutschen Regierung, die öffentliche Debatte über diese Politik in extrem engen Grenzen zu führen. Seit dem 7. Oktober wird die Staatsräson auch zur drastischen Verschärfung migrationsfeindlicher Maßnahmen genutzt. Am dreistesten ist wohl ein neuer Erlass im Bundesland Sachsen-Anhalt, wonach Bewerber um die deutsche Staatsbürgerschaft nun ein Bekenntnis zum „Existenzrecht“ Israels ablegen müssen.

Die Herausforderung des globalen Südens

Die bedingungslose Unterstützung Israels durch die BRD ist zwar nichts Neues, aber sie ist ins Rampenlicht gerückt, weil sich immer mehr Staaten des Globalen Südens gegen den israelischen Völkermord aussprechen.

In der deutschen Presse bemühten sich Kommentatoren, die Klage Südafrikas gegen Israel vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH) als „eklatant einseitig“ zu delegitimieren.

Der deutsche Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) wischte die Klage Südafrikas einfach beiseite: „Israel des Völkermordes zu bezichtigen, ist in meinen Augen eine völlige Umkehrung von Opfern und Tätern und ist einfach falsch.“

Die Rolle der deutschen Kapitalistenklasse beim Schüren des Nationalsozialismus wird mit einer „besonderen historischen Verantwortung“ aller Deutschen gegenüber Israel vermengt.

„Aufgrund der dunkelsten Kapitel unserer Geschichte muss Deutschland mit der schrecklichen Verantwortung für einen in seinem Namen begangenen Völkermord leben“, schrieb die deutsche Botschaft in Südafrika in den sozialen Medien als Reaktion auf den Fall vor dem IGH.

„Nazi-Deutschland hat eines der schlimmsten Verbrechen in der Geschichte der Menschheit begangen, den Holocaust an den Juden in Europa. In Anbetracht all dessen sind wir der Meinung, dass Selbstverteidigung gegen ein Terrorregime, das sich hinter der Zivilbevölkerung als menschliche Schutzschilde versteckt, um das Leiden zu maximieren und die Verteidigung gegen seine Aktionen unmöglich zu machen, keine völkermörderische Absicht ist.“

Derartige Argumente beeinflussen nach wie vor einen großen Teil der deutschen Bevölkerung, aber führende Politiker im Globalen Süden sind weniger empfänglich und haben begonnen, die Heuchelei der deutschen Regierung in Frage zu stellen.

Der erste ernsthafte Vorwurf kam Anfang 2024, als Namibias damaliger Präsident Hage Geingob eine Erklärung veröffentlichte, in der er die Welt daran erinnerte, dass Deutschland „den ersten Völkermord des 20. Jahrhunderts in den Jahren 1904-1908 begangen hat, bei dem Zehntausende unschuldiger Namibier unter unmenschlichsten und brutalsten Bedingungen starben“.

Namibias Hage Geingo im Oktober 2023. (Europäische Union, Wikimedia Commons, CC BY 4.0)

Indem er die deutsche Staatsräson auf den Kopf stellte, argumentierte Geingob, dass die BRD durch ihre Intervention beim IGH „zur Verteidigung und Unterstützung der völkermörderischen Handlungen Israels“ in Wirklichkeit ihre „Unfähigkeit, Lehren aus ihrer schrecklichen Geschichte zu ziehen“ offenbart habe.

[Siehe: „Das ‚Nachleben‘ des deutschen Kolonialismus in Ostafrika“]

Anfang März 2024 kam die nächste öffentliche Herausforderung aus dem Globalen Süden: Nicaragua reichte eine neue Klage vor dem IGH ein, diesmal direkt gegen Deutschland, und beschuldigte Berlin, seine Verpflichtungen aus der „Völkermordkonvention“ von 1949 zu verletzen.

Durch seine politische, finanzielle und militärische Unterstützung Israels und die Streichung der Mittel für das Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästinaflüchtlinge im Nahen Osten (UNRWA) „erleichtert Deutschland die Begehung von Völkermord und hat auf jeden Fall seiner Verpflichtung, alles zu tun, um die Begehung von Völkermord zu verhindern, nicht nachgekommen.“

Deutsche Liberale schrieben diesen Fall schnell als „billiges Ablenkungsmanöver […] einer Diktatur ab, die ihren eigenen Bürgern jegliche rechtsstaatlichen Garantien verweigert“.

Doch nur wenige Wochen später wurde die deutsche Regierung erneut öffentlich verurteilt, und diesmal nicht von den „autokratischen, linken Regierungen“ in Lateinamerika, sondern von einem bisher engen Verbündeten, Malaysia.

Auf einer gemeinsamen Pressekonferenz in Berlin reagierte der malaysische Premierminister Anwar Ibrahim auf Scholz‘ fortgesetztes Beharren auf dem Recht Israels auf Selbstverteidigung mit der provokanten Frage

„Wo haben wir unsere Menschlichkeit hingeschmissen? Warum diese Heuchelei? Warum diese selektive und ambivalente Haltung gegenüber einer Rasse?“

Diese Entwicklungen sind die jüngsten Anzeichen dafür, dass die ideologische und wirtschaftliche Hegemonie des Westens ins Wanken gerät. Konzepte wie die „regelbasierte internationale Ordnung“ und die deutsche Staatsräson haben nicht mehr genug Gewicht, um abweichende Meinungen international zum Schweigen zu bringen. Ein Ausdruck der „neuen Stimmung“ im Globalen Süden ist der Kampf um die Eigentumsrechte an internationalen Gremien wie dem IGH.

Unterminierung der eigenen ideologischen Hegemonie

Die Bundesrepublik Deutschland steht in der Tradition des deutschen Kapitalismus mit all den Leichen, die er im Keller hat. Ihre bedingungslose Unterstützung Israels ist zum einen das Ergebnis eigennütziger wirtschaftlicher und geopolitischer Interessen in der Region, zum anderen das Ergebnis des Bemühens, die Verantwortung für den Holocaust zu verdrängen und die westdeutsche Gesellschaft nicht entnazifizieren zu wollen.

Das andere Deutschland – die Deutsche Demokratische Republik (DDR) – stand in einer ganz anderen Tradition. Sie wurde von den Kommunisten und Sozialdemokraten regiert, die während des Dritten Reiches im Exil oder in Hitlers Konzentrationslagern gesessen hatten.

Dort wurde die Forderung „Nie wieder!“ nicht als Kollektivschuld aller Deutschen verstanden, sondern als kämpferische Pflicht, Faschismus und Rassismus zu bekämpfen, egal in welcher Form sie auftraten. In diesem Sinne trat die DDR entschieden für das Selbstbestimmungsrecht der Palästinenser und den Widerstand gegen die Besatzung ein.

Heute wird in Deutschland der Raum für eine öffentliche Debatte über dieses Thema immer enger. Die Unterstützung für Palästina wird zensiert oder ganz verboten.

Doch die deutsche Regierung kann die Staaten des Globalen Südens nicht so einfach zum Schweigen bringen. Indem sie weiterhin von Land zu Land reist, den israelischen Völkermord in Gaza unaufhörlich rechtfertigt und gleichzeitig den Begriff der „feministischen Außenpolitik“ propagiert, untergräbt die deutsche Regierung rasch die ideologische Hegemonie des Westens und stellt ihre eigene Heuchelei vor der Welt bloß.

Matthew Read ist wissenschaftlicher Mitarbeiter des Zetkin-Forums mit Sitz in Berlin.

Dieser Artikel stammt aus Peoples Dispatch.
Übersetzt mit deepl.com

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