Dank an Moshe Zuckermann nicht nur für die Genehmigung seinen neuen heute auf dem Overton-Magazin veröffentlichten Artikel auf der Hochblauen Seite zu übernehmen ,sondern auch für das Theam speziell dieses Artikels. Evelyn Hecht-Galinski
https://overton-magazin.de/top-story/israel-netanjahu-und-der-auschwitz-gedenktag/
Israel, Netanjahu und der Auschwitz-Gedenktag
Benjamin Netanjahu wird an der Zeremonie zum Gedenken an den 80. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz nicht teilnehmen. Was hat es damit auf sich?
Der Publizist Gideon Levy ist mir diese Woche zuvorgekommen. In einer “Auschwitz. Haag. Netanjahu” betitelten Kolumne in der Tageszeitung “Haaretz” befasste er sich mit einem Thema, auf das auch ich mich in dieser Woche in meiner Blogkolumne beziehen wollte. Levy sei daher hier eingangs zitiert. “Ministerpräsident Benjamin Netanjahu”, schreibt er, “wird dieses Jahr nicht der Zeremonie zum Gedenken an den 80. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz beiwohnen, weil zu befürchten steht, dass er infolge des vom Internationalen Gerichtshof in Haag gegen ihn erlassenen Haftbefehl festgenommen werden könnte. Diese bittere und nicht gerade unauffällige Ironie der Geschichte beliefert uns mit einem surrealistischen Knotenpunkt, den man bis zuletzt kaum zu imaginieren vermochte. Man stelle sich bloß vor, Netanjahu landet in Krakau, gelangt zu den Toren von Auschwitz und wird unter dem Schild ‘Arbeit macht frei’ von polnischen Polizisten festgenommen.”
Im weiteren heißt es dann: “Die Tatsache, daß von allen Plätzen der Welt Auschwitz der erste Ort ist, den Netanjahu aus Furcht meidet, ist zutiefst symbolisch und strotzt auch vor historischer Gerechtigkeit.” Levy gibt plastisch zu bedenken: “Eine Zeremonie zum 80. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz, die Führer der Welt marschieren schweigsam, die letzten noch lebenden Shoah-Überlebenden schreiten neben ihnen einher, und der Premierminister des Staates, der auf der Asche der Shoah errichtet wurde, ist nicht dabei. Er fehlt, weil sich sein Land in einen aussätzigen Staat verwandelt hat, und weil er vom am höchsten geschätzten Gerichtshof für Kriegsverbrechen verfolgt wird.” Seine Kolumne beschließt Levy mit der unfassbaren Feststellung: “Netanjahu wird nicht in Auschwitz sein, weil er wegen Kriegsverbrechen gesucht wird.”
Dieser “Vorfall” ist in der Tat paradigmatisch. Aber ungeachtet der Tatsache, dass etwa die Hälfte der israelischen Bevölkerung Netanjahus politischen Niedergang herbeisehnt, sehr viele auch darauf hoffen, dass er nach Beendigung seines Prozesses im Gefängnis landet, und obwohl er schon (auch im Innern Israels) so vieles verbrochen hat, dass man den gegen ihn (und seine Familie) gerichteten Hass allzu gut nachvollziehen kann, ist Netanjahu selbst nur eine Nebenfigur in dem, was Gideon Levy zur Sprache bringt. Sehr oft werden rangniedrige Personen für Verfehlungen und Vergehen, die “oben” in der jeweiligen hierarchischen Ordnung verursacht bzw. initiiert worden sind, zynisch zur Verantwortung gezogen. Mit sarkastischem Bezug auf die militärische Rangordnung hat sich in Israel der Spruch von der Schuld des “Wachpostens am Tor des Militärlagers” etabliert.
Anders verhält es sich, wenn eine gesellschaftliche oder politische Praxis verurteilt wird, für die man aber nicht ein gesamtes Kollektiv ahnden kann (wie es etwa bei der Boykottierung des südafrikanischen Apartheidstaates in internationalem Einvernehmen möglich geworden und vollzogen worden ist). In diesem Fall wird das jeweilige Staatsoberhaupt oder andere ranghohe Funktionäre in symbolischer Vertretung des Kollektivs zur Verantwortung gezogen. Indem Netanjahu verurteilt worden ist, wird “Israel” verurteilt.
Das muss hervorgehoben werden, weil die ministerielle Verantwortung für Kriegsverbrechen zwar bei der regierenden Herrschaftsinstitution liegt, aber diese ist gemeinhin eher abstrakten Charakters. Die (physische) Barbarei des Verbrechens vollzieht sich hingegen “im Feld”. Als Regierender trägt Netanjahu die Verantwortung für die von ihm vorgezeichnete und angewiesene Politik, mithin für die sich von ihr ableitenden militärischen Richtlinien im gegenwärtigen Krieg. Zwar weigert er sich unentwegt, jegliche Verantwortung zu übernehmen, vor allem nicht die für das Desaster des 7. Oktober, aber es sind nicht unbedingt seine Anweisungen, die die konkreten Kriegsverbrechen generiert haben. Etwas anderes muss hier anvisiert werden.
Barbarisierung des israelischen Armee
Denn was sich bei den Operationen der IDF im Gazastreifen im letzten Jahr gezeigt hat, ist eine extreme Verrohung der agierenden Kampftruppen, deren Kriegsverbrechen sich in einem Maß häuf(t)en, dass man recht bald von einem Genozid an der Zivilbevölkerung des Gazastreifens zu sprechen begann. Die Debatte darüber, ob es sich in der Tat um einen Völkermord handelt, bleibe hier unerörtert; der lodernde Nomenklaturstreit lenkt lediglich vom Wesentlichen ab – von der unübersehbaren Barbarisierung des israelischen Armee und ihrer Kriegsaktivität. Es reicht hin, die Akkumulation an Kriegsverbrechen ins Visier zu nehmen, um zu begreifen, dass sich in diesem Krieg etwas entfaltet hat, dass bei weitem über die Person Netanjahus hinausgeht. Eine Kampfpraxis ist zur Norm geronnen, die eine unfassbare Zahl an toten und verletzten Zivilisten, unter ihnen vor allem Frauen, Kinder und alte Menschen und eine monströse Verwüstung von Infrastruktur und Zerstörung von zivilen Lebensgrundlagen zur “Selbstverständlichkeit” hat werden lassen.
Es ist hier letzte Woche bereits dargelegt worden, dass der Vorwurf begangener Kriegsverbrechen längst belegt ist, und dass niemand wird später behaupten können, nichts von ihnen gewusst zu haben. Dass die etablierten Medien Israels der Bevölkerung des Landes die Berichterstattung über die in ihrem Namen praktizierte Barbarei vorenthalten, diese nachgerade ausblenden, kann nicht als Erklärung für das öffentliche Beschweigen der Verbrechen akzeptiert werden – wer wissen will, kann alles erfahren. Man muss freilich wissen wollen.
Auch die “Rechtfertigung” der Kriegsverbrechen mit dem an jüdischen Israelis am 7. Oktober verübten Pogrom, hat keine annehmbare Grundlage, wenn man die Berechtigung, die Armee in den Dienst der Befriedigung kollektiver Rache- und Vergeltungsgelüsten zu stellen, abweist. Die Tötung von Kindern durch eine Armee (als “Kollateralschaden”) kann keine “Wiedergutmachung” für selbst erlittenes Leid bilden. Schon gar nicht, wenn ihre Auswirkung sich zur solch eklatanten Disproportionalität steigert.
Was vor allem auffällt, ist die Lust, der Sadismus und die Schadenfreude der Soldaten am kaum enden wollenden Gemetzel. Der 7. Oktober verkam zum Freibrief für exzessive Zerstörung und bedenkenlose Auslöschung von Menschenleben. Soldaten auf dem Schlachtfeld sind noch in keinem Krieg Humanitätsapostel gewesen – “Soldaten wohnen auf den Kanonen” und machen zumeist aus ihren Feinden “Beefsteak Tartar”. Besonders schlimm wird es für die feindliche Zivilbevölkerung, wenn moderne Kampfflugzeuge massiv zum Einsatz kommen. Aber was sich auf dem Schlachtfeld aus der inneren Logik dessen erklärt werden mag, was Krieg in seinem Wesen immer schon war – die legitimierte Hemmungslosigkeit beim Töten von Menschen und der Verwüstung von materiellen Lebensbedingungen –, lässt einen erschaudern, wenn sich herausstellt, daß ein gesamtes Kollektiv hinter den Verbrechen seiner nationalen Armee steht.
Das Wenige, was die israelische Bevölkerung vom Grauen der Gaza-Realität erfuhr, wurde (und wird bis zum heutigen Tag) mit erschreckender Gleichgültigkeit als unwahr, als Übertreibung, als perfide Propaganda der anderen Seite abgeschmettert oder leichterdings rationalisiert, indem man die Schuld an den Kriegsverbrechen den Gazabewohnern selbst zuschreibt (“sie haben angefangen”) bzw. offen bekundet, kein Mitgefühl für sie aufbringen zu können.
Sowohl die Verrohung der Soldaten als auch die Indifferenz der israelischen Zivilbevölkerung rühren von einer lange schon sich unablässig entfaltenden Dehumanisierung der Palästinenser her. 57 Jahre Okkupationsbarbarei und das langjährige Hinwegfegen des israelisch-palästinensischen Konflikts von der politischen Tagesordnung Israels und der Welt (wie vor allem von Netanjahu in voller Absicht betrieben) haben ihre unausweichliche Wirkung gezeitigt. Palästinensisches Menschenleben gilt den allermeisten jüdischen Israelis nicht sehr viel, schon gar nicht nach dem 7. Oktober und erst recht nicht, wenn es um Gazabewohner geht, die von der gegenwärtigen israelischen Regierung nahezu allesamt als Hamas-Terroristen apostrophiert werden.
Verrat am Auschwitz-Gedenken
Ein Gleichstellung der Gaza-Katastrophe mit Auschwitz ist nicht vertretbar – wird mithin auch von Gideon Levy in seiner Kolumne in Abrede gestellt. Aber darum hat es auch gar nicht zu gehen. Zu lange schon hat die israelische Politik die Singularität von Auschwitz zu heteronemen politischen Zwecken instrumentalisiert. Aus der Shoah lässt sich keine Lehre ziehen, auch nicht das ideologische Postulat der notwendigen “Fluchtstätte für das jüdische Volk”, wie zur Zeit mit höchst suggestiver Evidenz klargeworden sein sollte.
Wenn überhaupt, ließe sich einzig die Leitidee einer Gesellschaft, die die Minimierung oder gar Verunmöglichung von durch Menschen verursachten Menschenopfern anstrebt, als abstrakte Botschaft aus der Shoah ableiten. Das mag Walter Benjamin mit der “schwachen messianischen Kraft” gemeint haben, welche jedem gegenwärtigen Geschlecht in Bezug auf die vergangenen Geschlechter mitgegeben sei. Und eben darin manifestiert sich der entsetzliche Verrat, den Israel (nicht erst jetzt, aber jetzt in selbstgewählter Maßlosigkeit) am Auschwitz-Gedenken verübt hat. Und darin, genau darin liegt die Schrecklichkeit des Symbols, dass der israelische Ministerpräsident an der Zeremonie zum Gedenken an den 80. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz nicht teilnehmen wird, weil er befürchten muss, als Kriegsverbrecher, der er als Repräsentant Israels ist, festgenommen zu werden.
Von Moshe Zuckermann ist im Verlag AphorismA das Buch “… aus gegebenem Anlaß. Politische Reflexionen zur Zeit” (240 Seiten, 25 Euro) erschienen.
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