Israel: Wiederkehr des Verdrängten von Moshe Zuckermann

Ich danke Moshe Zuckermann sehr für die Genehmigung der Zweitveröffentlichung seines Overton-magazin veröffentlichten Kommentars vom 11. November 2023 Evelyn Hecht-Galinski

Israel: Wiederkehr des Verdrängten

Was hat es mit dem Entsetzen über die Gräuel des 7. Oktobers auf sich? Zur Genealogie der tödlichen Waffe

 

Israel: Wiederkehr des Verdrängten

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Screenshot aus typischem IDF-Video vom Beschuss eines Gebäudes, das einen sauberen Krieg ohne menschliche Opfer suggeriert.

Was hat es mit dem Entsetzen über die Gräuel des 7. Oktobers auf sich? Zur Genealogie der tödlichen Waffe.

 

Der urtümliche Schwert- und Messerkampf wie auch die Verwendung des Knüppels implizieren die direkte physische Berührung mit dem Feind. Seine Tötung erfolgt aus der unmittelbaren Begegnung der Gegner. Der Speerwurf und Pfeilschuss schaffen bereits die Distanz zum Tötungsobjekt, die sich durch die Feuerwaffe (Pistole und Gewehr) noch beträchtlich erweitert. Das Maschinengewehr ermöglicht das wahllose “Mähen”, mithin die Tötung vieler Menschen aus der Ferne, wobei die Objekte der Liquidierung einigermaßen unerkannt bleiben, was sich durch Kanonenbeschuss noch beträchtlich intensiviert. Die Bombardierung aus der Luft steigert noch die Anonymisierung der zur Tötung Bestimmten.

Heute lässt sich, wenn man will, die Vernichtung einer ganzen Stadt samt ihrer Bewohner durch Knopfdruck bewerkstelligen. Der bombardierende Kampfpilot hat keinerlei Berührung mit den Objekten seiner tödlichen Aktion – die Entfernung bewirkt zwangsläufig die Entfremdung vom Opfer.

General Dan Halutz, ruhmreicher Kampfpilot, ehemaliger Kommandeur der israelischen Luftstreitkräfte und späterhin Generalstabschef der IDF sagte einmal einer Journalistin: “Wenn du wissen willst, was ich beim Abwurf einer Bombe fühle – ich spüre durch die Loslösung der Bombe einen leichten Schlag am Flügel des Flugzeugs. Nach einer Sekunde vergeht es, und das ist alles.“ Halutz ist kein grausamer Mensch; er braucht es gar nicht zu sein, die Beschaffenheit seiner Kampfwaffe ermöglicht ihm die völlige Entfremdung von den Opfern seiner kriegerischen Aktion.

Am 7. Oktober mordeten die Hamas-Terroristen viele ihrer Opfer in unmittelbarer Berührung mit ihnen. Die Gräuel lassen sich kaum beschreiben, aber eines zeichnet sie aus: Sie waren regressiv, vollzogen sich mit den Mitteln eines archaisch anmutenden Gewaltakts: Mörder und Ermordete befanden sich in direkter “primitiver” physischer Berührung, recht ungewöhnlich in modernen Kriegshandlungen.

Das Entsetzen war gewaltig, der Horror ließ sich kaum fassen, man sprach von Bestialität – und doch lässt sich das Grauen ergründen: Es war das Grauen, das einen bei der Wiederkehr von Verdrängtem packt. Man erkennt in sich etwas, von dem man nicht ahnt, dass es in einem steckt. Den Kampfpiloten bewundert man; er ist ein Held, zudem elegant, hat mithin kein sichtbares Blut an den Händen. Aber der archaische Mord ist in der Mordtat des modernen Kampfpiloten erhalten; nur ist er durch Entfremdung nicht mehr als solcher erfahrbar. Sähe der Kampfpilot, was seine Bombe “da unten” anrichtet, wäre er um die Nonchalance des “leichten Schlags am Flügel” gebracht.

Der Anblick von geköpften Babys ist nicht zu ertragen. Auch der Anblick eines zerdrückten Babys unter den Trümmern eines bombardierten Hauses ist es nicht. Ist die eine Mordtat menschlicher als die andere? Dem Hamas-Terroristen wird die schiere Bereitschaft, das Baby mit eigenen Händen zu ermorden, als bestialische Unmenschlichkeit zugeschrieben. Dem Kampfpiloten bleibt das erspart; bei ihm lässt sich eine solche Bereitschaft nicht detektieren, sie kann höchstens aus dem Resultat seiner Handlung abgeleitet werden. Er hat keinen mörderischen Blick in den Augen. Wie sollte er auch? Verkörpert er doch objektiv die absolute Entfremdung (und darin die Entmenschlichung), die ihm aber gerade das Nachsehen in der eigenen Community einbringt.

Es geht hier weder um Aufrechnung noch um Entschuldung. Es geht um die Phänomenologie des Kriegsmordens und die zivilisatorische Rationalisierung dessen Vollzugs. Vor allem geht es darum, sich die strukturellen wie ideologischen Mechanismen bewusst zu machen, die dazu da sind, Barbarei zu überdecken, “erträglich” zu machen, dabei aber neu entstandene Barbareien hinzunehmen. Von Menschlichkeit kann in keinem Fall mehr die Rede sein – es sei denn, man erkennt in der Wiederkehr des Verdrängten die fortwesende urtümliche Barbarei, die im Laufe der Zivilisation und des von ihr produzierten “Fortschritts” lediglich neue Formen der überwunden geglaubten, archaischen Mordbereitschaft hervorgebracht hat.

 

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