
Dank Moshe Zuckermann für die Genehmigung seinen heute auf Overton-Magazin veröffentlichten Artikel, auf der Hochblauen Seite zu übernehmen. Evelyn Hecht-Galinski
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Israelische Vignetten
Man steht fassungslos vor der die israelische Realität durchwirkenden Verrohung und dem Verfall des letzten Rests an moralischer Verantwortung. Die Zersetzung richtet sich nicht nur nach außen, sondern hat schon längst das Innere des Landes erfasst. Hier einige “Schnappschüsse”, die als Symptome des vorwaltenden Horrors gelten dürfen.
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Israels Polizeiminister Itamar Ben-Gvir kritisierte in einer Fraktionssitzung die Regierung, in der er als Minister fungiert. Sie sei zu zögerlich in Gaza: “Man muss ihnen die Nahrungsreserven entziehen und die Elektrizitätsressourcen bombardieren – so handelt ein normaler Staat.”
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Aus einem Text von Yad Vashem: “Hunger ist eines der ärgsten Erscheinungen, die die Opfer in der Shoah erlebt haben. Der Hunger war hart, wirkte fortwährend, ließ keinen Moment nach. Er war wie ein schwarzes Loch im Körper, das keine Ruhe gab. Er beeinflusste das Verhalten der Menschen, trieb sie zu Handlungen, von denen anzunehmen ist, dass sie ohne Hunger nicht begangen worden wären. Der Hunger verband sich mit Krankheiten, und zusammen bildeten sie, außer dem Mord, den zweiten [zentralen] Grund für den Tod der Opfer.”
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Ex-General Giora Eiland hat zu Beginn des Krieges die Aushungerung der Gazabevölkerung und die Ausnutzung von Epidemien als Druckmittel auf die Hamas legitimiert. “Plan der Generäle” nennt sich das. Einiges davon hat er zurückgenommen. Vieles aber auch noch im Nachhinein bekräftigt.
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Am Gedenktag für die gefallenen Soldaten attackierten rechte Aktivisten TeilnehmerInnen an einer Veranstaltung in der Reformsynagoge von Ra’anana, bei der die seit 20 Jahren am offiziellen Gedenktag abgehaltene israelisch-palästinensische Zeremonie zum Andenken der Opfer auf beiden Seiten übertragen wurde. Die rechten Aktivisten bespuckten jene, die in die Synagoge hineinwollten, bewarfen während der Übertragung das Gebäude mit Steinen und belagerten die Synagoge, wobei sie alle mit Gewalt traktierten, die den Ort verlassen wollten. Ein Pogrom von Juden gegen Juden im Gotteshaus.
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Die israelisch-palästinensische Bewegung “Zusammenstehen” (Omdim be’jachad) wollte eine gemeinsame Demonstration veranstalten. Die Polizei gestattete sie mit der Auflage, dass “keine Bilder von Kindern und Babys in Gaza gezeigt werden”. Gemeint waren die durch die israelische Militäraktivität umgekommenen Kinder und Babys. Es sind ihrer bereits viele Tausende.
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Benjamin Netanjahu plant demnächst eine erweiterte Offensive der IDF in Gaza. Viele tausende Reservisten sind zu diesem Zweck bereits gerufen worden. Einav Zangauker, Mutter des Hamas-Gefangenen Matan und Aktivistin zur Befreiung der Geiseln, wandte sich über die sozialen Medien an die Reservisten: “Alle Soldaten und Kämpfer, die wieder einberufen worden sind und in den Kampf geschickt werden, und jede Mutter, die ihren Sohn umarmt, bevor er loszieht, wisset, dass dies nicht der Weg zur Geiselbefreiung ist – der militärische Druck wird zur Ermordung meines Sohnes führen.”
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Netanjahus Sohn, Yair, weilt seit zwei Jahren in einer Luxuswohnung in Miami, bewacht von israelischen Sicherheitsleuten auf Kosten der israelischen Steuerzahler. Von dort verspritzt er über soziale Medien politisches Gift gegen alles, was “links” ist, vor allem aber als sogenannter “deep state” die Herrschaft seines Vaters gefährdet. Haaretz-Kolumnistin Ravit Hecht schrieb jüngst: “In Netanjahus Sohn destilliert sich alles, was in der Herrschaft seines Vaters schlecht ist. Lauter Müßiggänger, Lügner, verschiedentlich Gestörte, großmäulig trotz ihrer nichtigen Leistung, Typen, die zu nichts Produktivem fähig sind außer zur Injektion von Gift, Chaos und Ekel, die diesen Ort [Israel] unaushaltbar werden lassen.”
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Am israelischen Unabhängigkeitstag hob Netanjahu hervor, dass die Befreiung der Geiseln nicht oberstes Kriegsziel Israels sei: “Wir haben viele Ziele, wir haben 147 lebende Geiseln zurückgebracht und insgesamt 196, es gibt noch 24 Lebende, und wir wollen die verbliebenen 59 Geiseln zurückbringen. Aber der Krieg hat ein oberstes Ziel, und das ist der Sieg über unsere Feinde.” Einav Zaungauker reagierte auf Netanjahus Aussage: “Ich verstehe, dass Netanjahu wichtigere Ziele hat, als meinen kranken Sohn zurückzubringen, der schon seit anderthalb Jahren in Ketten gefesselt und Wasser aus der Kloschüssel trinkend in den Tunnels der Nazis in Gaza weilt. Wenn dem so ist, ist mir klar, dass ich, um meinen Sohn zu befreien, ab diesem Moment ein Ziel habe – Netanjahu zu stürzen.”
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Haaretz-Kolumnist Rogel Alpher schrieb diese Woche, sich an Netanjahu wendend: “Als du [diesmal] dein Amt angetreten bist, hast Du verkündet, dass 2025 ein Jahr des Kampfes sein wird. Aber bislang erweist es sich als ein Jahr deiner Kriegstreiberei. Ein Jahr, in dem du den Krieg suchst, und zwar im Gegensatz zu jeder moralischen, menschlichen und militärischen Logik. Du suchst den Krieg im Westjordanland, im Gazastreifen, in Syrien und im Libanon. Opferst Soldaten. Opferst Bürger in Gaza. Opferst Geiseln. Opferst die Normalisierung mit Saudi-Arabien. Opferst die Normalität am Tel Aviver Flughafen. Opferst den wirtschaftlichen Wohlstand. Und sag ja nicht, dass es politische Gremien sind, die entscheiden. Es sind deine Pläne, Vorschläge und Versprechen. Menschen sterben deinetwegen, ohne Grund.”
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Während sich der kahanistische Polizeiminister einer nazistischen Rhetorik befleißigt und Vorschläge für entsprechende praktische Maßnahmen macht, die im Diskurs von Yad Vashem als gewichtiger Bestandteil des an den Juden von Nazis begangenen Genozids firmieren, Maßnahmen, die auch von einem angesehenen Ex-General befürwortet werden, veranstalten rechte Aktivisten ein Pogrom gegen Juden, die es gewagt haben, einer Veranstaltung, in der israelische Juden und Palästinenser gemeinsam der Opfer auf beiden Seiten gedachten, beizuwohnen. Mit Ausnahme von Yair Golan, dem Vorsitzenden der “Demokraten”-Partei, hat kein einziger israelischer Politiker von Rang das Pogrom verurteilt. Es ist fast nationaler Konsens, diese Veranstaltung, die seit Jahren den einzigen humanen Lichtblick einer möglichen gemeinsamen Zukunft von Israelis und Palästinensern performativ symbolisiert, zu missbilligen und zu besudeln.
Schon gar nicht kann man im heutigen Israel akzeptieren, die Barbarei massenhafter Tötung von palästinensischen Kindern in Bildern vorgeführt zu bekommen. Eine Präsentation der Leiderfahrung von “anderen”, die universell Entsetzen auszulösen hätte, gilt im Shoah-Land Israel als Verrat. Selbst die Rettung der eigenen Geiseln in Hamas-Gefangenschaft ist zum Politikum verkommen: Wenn sie nicht von der IDF befreit werden, sollen sie halt in den Gaza-Tunneln verrecken. Die IDF hat es aber seit Beginn des Krieges nicht vermocht, die Geiseln zu befreien. Wie denn auch? Die aktivistischen Mütter der Gefangenen können da noch so herzzerreißend aufschreien – die Verhärtung macht auch vor der Leiderfahrung der eigenen Landsleute keinen Halt.
Netanjahus parasitärer Sohn darf derweil in Miami ein vom israelischen Staat finanziertes Luxusleben führen und propagandistisches Gift gegen alles verspritzen, was der desaströsen faschistischen Politik der Regierung seines Vaters kritisch entgegensteht. Perfide Konspirationstheorien feiern Urständ. Und der Vater strebt weiterhin die Diktatur unaufhaltsam an. Er hat die Regierung beschließen lassen, dass keine staatliche Untersuchungskommission über das Desaster des 7. Oktobers und seine Folgen zustande kommt. Die Begründung: Eine solche Kommission ruft man nicht während eines Krieges ins Leben. Also muss der Krieg unbedingt (“bis zum totalen Sieg”) fortgesetzt werden. Man weiß schon längst, dass er nicht zu gewinnen ist, mithin seine Berechtigung verloren hat. Nicht von ungefähr wird da Netanjahu bewusster Kriegstreiberei beschuldigt. Schon lange nimmt er keine Rücksicht auf kollektive Belange, wenn sie der Verfolgung seiner Privatinteressen im Wege stehen. Opferung von schmachtenden Geiseln? Von zahllosen unschuldigen Gaza-Bewohnern? Von Soldaten in einem überflüssig gewordenen Krieg? Was scheren ihn diese? Wann haben sie ihn je bekümmert?
Was diese Regierungskoalition, der sie führende Premier und die ihm blind ergebenen, großteils inkompetenten bzw. dysfunktionalen Minister verbrechen, ist horrend. Nicht minder horrend ist aber, dass sie so schalten und walten können, weil ihre destruktive Praxis von der Bevölkerung hingenommen wird. Es gibt zwar Demonstrationen, aber keine, die eine für die Regierung ernsthafte Bedrohung darstellende kritische Masse zu generieren vermögen.
Es gibt eine kleine Minorität von Journalisten und Publizisten, die sich kritisch gegen die Verrottung des Staates engagieren, aber sie gehen im großen Meer der sich selbstzensierenden, gleichsam von selbst gleichschaltenden Medien unter. Und die parlamentarische Opposition kann man ohnehin nicht ernstnehmen: Die wirklichen Oppositionellen werden entweder (als Araber) ausgeschlossen oder bilden eine allzu verschwindende Minorität. Der Rest der politischen Opposition ist im Grunde keine; er opponiert gegen Netanjahu als Person, steht ihm aber ideologisch näher als den eigentlichen (machtlosen) Oppositionellen.
Fraglich, ob der Faschismus sich jemals so ungehindert bilden und etablieren konnte, wie das derzeit in Israel der Fall ist. Wo er historisch begrüßt wurde, gab es stets auch eine aktive Opposition gegen ihn. In Israel nicht. Selbst dort, wo sie sich theoretisch bilden könnte, tut sie es nicht. Denn wenn die Kanonen donnern… etc. pp. Das hat man Israels Bürgerinnen und Bürger seit jeher am effektivsten einzutrichtern verstanden.
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