Junge Welt sollte kein Ort für die Relativierung von Genozidverleugnung sein   Leserbrief von Leon Wystrychowski

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Junge Welt sollte kein Ort für die Relativierung von Genozidverleugnung sein

 

Leserbrief von Leon Wystrychowski

 

Wie kommt Bernd Kant dazu, den Vorfall in Buchenwald derart zu relativieren?

 

Unter Verweis auf (angebliche) sprachliche Unterschiede zwischen dem englischen “genocide“ und dem deutschen „Genozid“ relativiert er zunächst die Aussage der jungen spanischen Rednerin. Wenn sie von „Krieg in der Ukraine“ und einem „Genozid in Palästina“ spricht, wird sie wohl gewusst haben, wieso sie derart differenziert – und was der Vorwurf des Völkermords bedeutet. Das weiß, wie die letzten anderthalb Jahre bewiesen haben, die ganze Welt übrigens besser als Deutschland. Aber Kant meint, man habe der jungen Dame nur erklären müssen, dass das, was sie getan habe, nicht okay sei. Am deutschen Wesen soll also wieder mal die Welt genesen…

 

Kant will aber nicht nur sie belehren, sondern auch Jens-Christian Wagner. Denn an den richtet sich die eigentliche Kritik: Ausgerechnet er nämlich hätte die interessierte, aber unwissende Jugendliche aufklären müssen, „und alles wäre gut gewesen.“ Damit relativiert Kant im zweiten Schritt den Auftritt Wagners und demonstriert (noch einmal), dass er die Szene überhaupt nicht begriffen hat. Denn Wagner hat nicht einfach pädagogisch unklug gehandelt. Mit Foucault gesprochen, hat er den Raum des Sagbaren für den Vorwurf, dass Israel einen Genozid in Gaza begeht, geschlossen. Damit hat er nicht weniger getan, als die „deutsche Staatsräson“ zu verteidigen. Es war ein Politikum. Und insofern – wenn wir nicht längst Schlimmeres in diesem Land gewohnt wären – tatsächlich ein Skandal. Nur eben nicht so, wie es die deutschen bürgerlichen Medien behaupten. Das hat Wagner im Nachhinein selbst klar gemacht: Er sprach im Stern-Interview von einem „antisemitischen Übergriff“, von dem er sich klar distanziert habe.

 

Dass Kant dieses Ereignis von den anderen – ihm zufolge den „tatsächlichen“ – Skandalen, wie dem Verbot, Kufiyas und Nationalfahnen in der Gedenkstätte zu tragen, während Israelfahnen aber offenbar erlaubt waren, der Ausladung von Omri Boehm oder dem Verschweigen der Selbstbefreiung Buchenwalds, trennt, obwohl sie untrennbar zusammengehören, ist wohl kein Zufall. Denn er selbst stimmt Wagner ja offensichtlich zu, dass man an diesem Tag an diesem Ort nicht von einem Genozid in Palästina hätte sprechen dürfen.

 

Da drängt sich doch sofort die Frage auf: Wo darf man denn über Genozid sprechen, wenn nicht in einem KZ? Wo über Widerstand, wenn nicht in Buchenwald? Und was sind der Schwur von Buchenwald und Parolen wie „Nie wieder Faschismus, nie wieder Krieg“ oder „Nie wieder Auschwitz“ wert, wenn man jedes Mal, wenn man darüber spricht, dass so etwas eben doch schon wieder passiert, wegen „Relativierung“, „Verharmlosung“ und „Übergriffen“ verunglimpft wird?

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