
Dank an Moshe Zuckermann für seinen heute auf Overton-Magazin publizierten Artikel und der persönlichen Genehmigung ihn auf der Hochblauen Seite zu übernehmen. Evelyn Hecht-Galinski
https://overton-magazin.de/top-story/null-toleranz-fuer-menschlichkeit/
Null Toleranz für Menschlichkeit
Was im Gazastreifen durch Israels Verschulden stattfindet, wird von den allermeisten Israelis mit Indifferenz registriert. Wieso denn eigentlich?
Ob Israel im Gazastreifen einen Völkermord begeht, ist eine umstrittene Frage. Aber allein die Tatsache, dass man darüber streitet, ist schon ein Problem. Es ist an dieser Stelle schon vor vielen Monaten der Aphorismus Adornos “Der Paragraph” zitiert worden (Adornos Paragraph). Er sei hier aus aktuellem Anlass kurz nochmals angeführt. Der Aphorismus beginnt mit den Worten:
“Was die Nazis den Juden antaten, war unsagbar: die Sprachen hatten kein Wort dafür, denn selbst Massenmord hätte gegenüber dem Planvollen, Systematischen und Totalen noch geklungen wie aus der guten alten Zeit des Degerlocher Hauptlehrers.” Mit dem Degerlocher Hauptlehrer war Ernst August Wagner gemeint, der im Jahr 1913 in Stuttgart-Degerloch einen Massenmord verübte. Adorno fährt fort: “Und doch mußte ein Ausdruck gefunden werden, wollte man nicht den Opfern, deren es ohnehin zu viele sind, als daß ihre Namen erinnert werden könnten, noch den Fluch des Nicht gedacht soll ihrer werden antun. So hat man im Englischen den Begriff genocide geprägt. Aber durch die Kodifizierung, wie sie in der internationalen Erklärung der Menschenrechte niedergelegt ist, hat man zugleich, um des Protestes willen, das Unsagbare kommensurabel gemacht.”
Die kodifizierende Verbalisierung ermöglicht also die Sagbarkeit des Unsagbaren, welche aber Adorno folgendermaßen reflektiert: “Durch die Erhebung zum Begriff ist die Möglichkeit gleichsam anerkannt: eine Institution, die man verbietet, ablehnt, diskutiert.” Daraus folgert er: “Eines Tages mögen vorm Forum der United Nations Verhandlungen darüber stattfinden, ob irgendeine neuartige Untat unter die Definition des genocide fällt, ob die Nationen das Recht haben einzuschreiten, von dem sie ohnehin keinen Gebrauch machen wollen, und ob nicht angesichts unvorhergesehener Schwierigkeiten in der Anwendung auf die Praxis der ganze Begriff des genocide aus den Statuten zu entfernen sei. Kurz danach gibt es mittelgroße Schlagzeilen in der Zeitungssprache: Genocidmaßnahmen in Ostturkestan nahezu durchgeführt.”
Was der Genozid in practice zum Inhalt hat, wird beim Streit um seine Benennung als solchen, ausgeklammert. Es geht lediglich darum, ob man den Begriff verwenden, mithin ob man das sich real Vollziehende so benennen darf oder nicht. Die konzeptuelle Kodifizierung des Ereignisses verweist gleichsam das sagbar gewordene Unsagbare wieder in den Käfig der Unsagbarkeit. Der Streit ist dabei durchaus ein Streit, aber keine der beiden streitenden Seiten kümmert sich ernsthaft um die mit Namen versehene Realität als solche. Es geht lediglich darum, die andere Seite in der Debatte zu “besiegen”. Die Palästinenser insistieren auf “Genozid”, die Israelis schmettern das ab (führen mithin die Shoah zum Maßstab an). Die Israelis behaupten, dass das, was den Gaza-Bewohnern widerfährt, sie selbst über sich gebracht hätten; die Hamas habe den gegenwärtigen Krieg begonnen. Die Palästinenser sehen den 7. Oktober als einen Akt des Widerstands und begründen den Beginn des Krieges mit dem Kontext der sehr viel weiter zurückliegenden Okkupationsrealität. Und so weiter, und so fort ad infinitum.
Was auf der Strecke bleibt, ist die reale Leiderfahrung der Gaza-Bewohner. In Israel hat man sich gegen sie nachgerade immunisiert. Weder Zahlen (über 50.000 Tote, unter ihnen unzählige Kinder, Frauen und alte Menschen) noch Bilder von zerfetzten Kinderkörpern (man hat dagegen das “Argument” der von der Hamas gefangenen israelischen Geiseln) vermögen den allergrößten Teil der israelischen Bevölkerung auch nur anzurühren. Der talmudistische Spruch “Die Armen deiner Stadt gehen vor” (im Klartext: Jeder ist sich selbst der Nächste) wird immer leichterdings postuliert; viele bekennen, dass sie nach dem 7. Oktober “null Empathie” für die Palästinenser aufzubringen vermögen.
Und da die Hamas darauf insistiert, die Beendigung des Krieges als Grundbedingung für die Geiselbefreiung zu setzen, die Netanjahu-Koalition aber die Einstellung der Kampfhandlungen für völlig unannehmbar erklärt, solange es die Hamas überhaupt noch gibt, vollzieht sich im Gazastreifen weiterhin ein fortlaufendes Massaker, bei dem selbst die ehemals vermeintlich angestrebte Begrenzung des “Kollateralschadens” nicht mehr beobachtet wird: Für die Tötung eines zweit- oder drittrangigen Hamas-Kommandeurs nimmt man den Tod von 10, 20, 30 unbeteiligten PalästinenserInnen (unter ihnen wiederum viele Kinder, Frauen und alte Menschen) in Kauf. Dass die Gründe dafür fremdbestimmt sind – Netanjahu will die Koalition und seine Macht am Leben erhalten, um einer staatlichen Untersuchungskommission über den 7. Oktober und einem Urteil in seinem persönlichen Prozess zu entgehen; die Faschisten in seiner Koalition wollen den Krieg aus ideologischen Gründen (Eroberung des Gazastreifens und seine jüdische Neubesiedlung) fortsetzen –, spielt dabei zwar eine gewichtige Rolle, ist aber für den hier erörterten Zusammenhang letztlich unerheblich.
Denn viele Israelis sehnen schon längst den politischen Sturz Netanjahus und seiner messianisch-kahanistischen Koalitionspartner herbei. Eine merkliche Anzahl von Reservisten der israelischen Luftwaffe und anderer Truppen der IDF haben diese Woche in öffentlichen Deklarationen die Beendigung des Krieges und die damit einhergehende Befreiung aller Geiseln demonstrativ gefordert. Sosehr dies an sich zu begrüßen ist, haben die Petitionsunterzeichner sich aber mit keinem Wort zu den an der palästinensischen Gaza-Bewohnern begangenen Kriegsverbrechen geäußert. Darum hätte es aber am dringlichsten zu gehen. Denn nicht nur hat Israel den vor Wochen verabredeten Waffenstillstandsdeal aus politischen Gründen gebrochen (und Verrat an den verbliebenen Geiseln in Gaza begangen), sondern es geschah, obwohl einem Großteil der israelischen Bevölkerung klargeworden ist, dass der Krieg schon längst sinn- und zwecklos geworden ist.
Die unentwegt perpetuierte Leiderfahrung der Gaza-Bevölkerung, ihre massive Bombardierung, ihre gezielte Aushungerung (die UNO berichtet von tausenden Kindern, die an Unterernährung leiden), die Verwüstung ihrer Lebensgrundlagen und die an ihnen vollzogene ethnische Säuberung haben solche Ausmaße angenommen, dass man sich fragen muss: Was ist mit der israelischen Bevölkerung? Wie steht sie zu dieser Katastrophe?
Die in diesem Krieg auf israelischer Seite zutage getretene Barbarei manifestiert sich nicht nur in dem, was die israelische Armee in Gaza anrichtet, sondern auch in der servilen Hinnahme des Desasters durch die israelische Bevölkerung, in deren Namen es verbrochen wird. Keine Frage, der 7. Oktober war ein traumatisches Ereignis für die Israelis – zweifellos das fürchterlichste an der Zivilbevölkerung begangene seit Bestehen des Staates. Aber seine großteils ideologisierte Verarbeitung ist mittlerweile zur fetischisierten Nabelschau geronnen, einer Mischung aus echter Trauer, medialer Larmoyanz, eingeübte Selbstviktimisierung und einem unbändigem Rache- und Vergeltungsbedürfnis, eine Melange, die sich vor allem darin auszeichnet, völlig blind für die Leiderfahrung der Palästinenser geworden zu sein. Daran sind nicht wenig die israelischen Medien schuld, die (mit ganz wenigen Ausnahmen) die Bevölkerung vom Grauen in Gaza “verschont”, indem sie nahezu nichts von ihm zeigen, um ihre Konsumenten dafür mit umso größerer Intensität “patriotisch” zu drillen.
Die Vernashornung der israelischen Gesellschaft drückt sich nicht zuletzt in der Gleichgültigkeit aus, mit der das humane Unheil nicht weit von der eigenen Lebenswelt geduldet wird. Das Problem liegt nicht nur in der Indifferenz, mit der die Verbandelung des israelischen Ministerpräsidenten mit Figuren wie Orban, Trump und diversen anderen Faschisten der Weltpolitik registriert wird, sondern vor allem darin, dass er es ist, den man zum Führer gewählt hat, und somit eine Politik legitimiert, die nicht nur die Barbarei des Krieges bewirkt, sondern auch das Wahlvolk zum Mitschuldigen an dem, was bereits als Genozid debattiert wird, werden lässt. Am Holocaust-Gedenktag, der in Israel in der kommenden Woche begangen wird, sollte man nicht zuletzt daran denken. Die Hoffnung, dass dies geschehen werde, darf man indes gleich wieder einschlafen lassen.
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