Operation Harakiri: Wer wird gegen Trump antreten? Von David Goeßmann

Dank an David Goßmann für die Genehmigung seinen neuen auf Telepolis veröffentlichten Artikel auf der Hochblauen Seite zu übernehmen. Evelyn Hecht-Galinski

https://www.telepolis.de/features/Operation-Harakiri-Wer-wird-gegen-Trump-antreten-9790117.html

Operation Harakiri: Wer wird gegen Trump antreten?

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Vizepräsidentin Kamala Harris und Präsident Joe Biden im Weißen Haus, 30. Oktober 2023. Bild: Tennessee Witney / Shutterstock.com

Demokraten und liberale Medien fordern nach der Desaster-Debatte Biden zum Rückzug auf. Es ist ein historisches Ereignis. Wohin steuert der amtierende US-Präsident?

Seit der TV-Debatte zwischen den Präsidentschaftskandidaten Donald Trump und Joe Biden in den USA vor einer Woche habe ich bereits vier E-Mails vom Wahlkampfteam Biden erhalten. In der letzten, die am Donnerstag um 0 Uhr gesendet wurde, heißt es in der Überschrift: „Joe Biden is IN“.

Vor Kurzem trafen sich Präsident Biden und Vizepräsident Harris zu einem Videocall mit dem Wahlkampfstab und beendeten alle Spekulationen der Experten über seine Zukunft. Er bleibt im Amt. Er ist der Anführer der Demokratischen Partei. Wenn wir mit ihm zusammenarbeiten, wird er nicht nur gewinnen, sondern wir werden in diesem Herbst auf allen Wahllisten Demokraten wählen.

Den „Fallout“ unter Kontrolle bringen

Dass ich diese Mails überhaupt bekomme, liegt wohl daran, dass ich als Auslandskorrespondent in den USA gearbeitet habe. Doch warum kontaktiert mich die Partei, das Demokraten-Wahlkampfteam, plötzlich nach über zehn Jahren zum ersten Mal, und das mit einem Spendenaufruf?

Es scheint, als ob das Biden-Team eine große, über das übliche hinausreichende Mailaktion gestartet hat, um den „Fallout“ des Desaster-Auftritts [1] ihres Kandidaten irgendwie noch in Schach zu halten. Die Frage ist allerdings: Kann und sollte Biden überhaupt weitermachen?

Aus allen Richtungen, von den liberalen Medien, Wahlbeobachtern, politischen Kommentatoren und auch aus der eigenen Partei, ist mit Erschrecken wahrgenommen worden, dass Biden offensichtlich nicht fähig ist, seine politischen Vorstellungen im Schlagabtausch mit Trump darzulegen und ihm Kontra zu geben. Nicht selten murmelte er Unverständliches vor sich hin, konnte Sätze nicht vervollständigen, war politisch nicht auf der Höhe und brachte Dinge durcheinander.

Das große Abrücken

US-Medien, die den Demokraten nahestehen, veröffentlichten umgehend Aufrufe an Biden, als Kandidat für das Präsidentenamt zurückzutreten. Die New York Times überschrieb ihren Leitartikel [2] am letzten Freitag mit „Um seinem Land zu dienen, sollte Präsident Biden das Rennen verlassen“.

Der Kolumnist der Washington Post, David Ignatius, schrieb einen Artikel [3] mit dem Titel: „Warum Biden die Wahrheit nicht akzeptiert hat, die für alle sichtbar war“. Und David Remnick von The New Yorker schrieb in seinem Artikel „Die Abrechnung mit Joe Biden“ [4]:

Wenn [Biden] der Kandidat der Demokraten bliebe …, wäre das nicht nur ein Akt der Selbsttäuschung, sondern auch der nationalen Gefährdung. … [D]ie Behauptung, dass seine guten Tage zahlreicher sind als die schlechten, die Unvermeidlichkeit der Zeit und des Alterns zu ignorieren, riskiert nicht nur sein Vermächtnis – es riskiert die Wahl.

Bei The Nation titelt man [5]: „Biden gegen Trump antreten zu lassen, ist schlichtweg unverantwortlich“.

Verzweifelte Schadensbegrenzung

Biden versucht bei öffentlichen Auftritten gegen diese immer lauter werdenden Stimmen, die den Demokraten und keineswegs dem Trump-Lager nahe stehen, die Katastrophe herunterzuspielen und als einen Ausrutscher abzutun [6]. Doch das gelingt nicht und wirkt wenig überzeugend angesichts des seit Längerem zu beobachtenden körperlichen und geistigen Abbaus des US-Präsidenten.

Die New York Times veröffentlichte am Dienstag einen Artikel, in dem es heißt, dass Bidens Berater, die ihn hinter verschlossenen Türen getroffen haben, berichten, dass er zunehmend verwirrt oder lustlos wirke oder in Gesprächen den Faden verliere. Am selben Tag berichtete Reuters [7], dass mindestens 25 demokratische Kongressabgeordnete eine Rücktrittsforderung an Biden vorbereiten.

Die ersten Mitglieder des Repräsentantenhauses haben die Forderung bereits öffentlich ausgesprochen. Der demokratische Parlamentarier im US-Kongress, Lloyd Doggett aus Austin, Texas, sagte auf CNN [8].

Ich denke, wir wären besser dran, wenn wir einen neuen Kandidaten hätten, der eine neue Vision für unser Land präsentieren könnte. Und das können wir tun, wenn wir in den nächsten Wochen einen offenen und fairen demokratischen Prozess haben.

Rebellion bei den Demokraten

Andere Demokraten schlossen sich Doggett an [9] oder distanzierten sich von Biden, während sie ihre Unterstützung für die Vizepräsidentin Kamala Harris artikulierten, sollte sie an die Stelle Bidens treten.

Selbst die ehemalige Sprecherin des Repräsentantenhauses, Nancy Pelosi, erklärte, dass Bidens Leistung in der Debatte die berechtigte Frage aufwerfe: „Ist dies eine Episode oder ist es ein Zustand?“

Gestern meldete Bloomberg [10] mit Hinweis auf einen leitenden Parteifunktionär, dass „Dutzende“ demokratische Kongressabgeordnete nun erwägen, die Aufforderung an Biden zu unterzeichnen, als Kandidat zurückzutreten.

Zugleich vermeldet die New York Times [11], dass der US-Präsident einem engen Vertrauten gesagt haben soll, dass er überlegt, ob er im Rennen bleiben soll – das bisher stärkste Anzeichen dafür, dass er nach seinem katastrophalen Auftritt bei der Debatte letzte Woche aussteigen könnte.

Danach sei Biden durchaus besorgt, dass seine Kandidatur in Gefahr sei und er das Rennen aufgeben müsse, wenn er sein Image nicht retten könne.

Die Stunde der Krisenmanager

„Er weiß, dass wir uns in einer anderen Situation befinden, wenn er noch zwei weitere Veranstaltungen dieser Art hat“, sagte der Biden-Vertraute der Times. Zwei bevorstehende Veranstaltungen – ein Interview mit ABC, das am Freitag ausgestrahlt wird und zwei Wahlkampfauftritte in Pennsylvania und Wisconsin am Wochenende – seien entscheidend dafür, ob er im Rennen bleiben will, sagte die anonyme Quelle der Zeitung.

Ein CNN-Bericht [12] aus dem Biden-Umfeld bestätigt derartige Überlegungen des amtierenden US-Präsidenten, nicht mehr anzutreten, falls die Umfragen abstürzen, die Spendenaktionen versiegen und die Interviews schlecht laufen.

Das Biden-Team versucht derweil jedoch in der Öffentlichkeit, den Spekulationen entgegenzutreten. Der Sprecher des Weißen Hauses, Andrew Bates, sagte, dass der NYT-Bericht falsch sei und Biden nicht aus dem Rennen ausscheide.

Biden hat laut Politico [13] derartige Aussagen in einem Video-Call mit Mitarbeiter des Democratic National Committee (DNC) ebenfalls dementiert, was im oben zitierten E-Mail-Spendenaufruf bestätigt wird:

Lassen Sie mich das so klar und deutlich sagen, wie ich es kann, so einfach und geradeheraus, wie ich es kann: Ich kandidiere … niemand drängt mich raus. Ich gehe nicht.

Abrutschen in den Umfragen

Doch hinter den Kulissen gibt es Anzeichen [14], dass die Biden-Kandidatur wackelt – darunter ein Treffen Bidens mit der Vizepräsidentin Kamala Harris, ein großes Stabstreffen im Weißen Haus sowie die fehlende Anordnung der Demokraten-Spitze im Kongress an die Parteimitglieder, sich wie in anderen, ähnlichen Fällen (siehe den Fall der demokratischen Senatorin Dianne Feinstein [15]) hinter Biden zu versammeln.

Am Ende wird es eine Risikoabwägung sein [16], mit einem deutlich geschwächten und immer wieder verwirrt wirkenden Kandidaten weiter im Rennen zu bleiben oder kurz vor dem offiziellen Nominierungstreffen umzusatteln auf eine andere Kandidatur.

Dabei spricht immer mehr gegen Biden [17]. Eine Reihe von Beobachtern stellt infrage, ob Biden nach dem Debakel und der daran anschließenden Debatte überhaupt noch eine Chance haben kann [18], Trump im November bei den Wahlen zu schlagen.

Diese Einschätzung wird von neuen Umfragen gestützt, in denen Trump Biden weiter abhängt. Eine am Mittwoch veröffentlichte Untersuchung der New York Times/Siena College [19] ergab, dass Trump bei den registrierten Wählern mit 49 zu 41 Prozent vor Biden liegt. Das ist der größte Vorsprung für Trump, den die Times seit 2015 verzeichnen konnte. Andere Befragungen [20] kommen zu ähnlichen Ergebnissen.

Kein Vertrauen mehr

Auch in den wahlentscheidenden „Swing States“ – also den Bundesstaaten, die letztlich über Sieg und Niederlage entscheiden – hat die TV-Debatte Biden geschädigt.

So berichtet das US-Medium Puck [21] über eine durchgesickerte Umfrage der Demokraten, wonach Biden in Bundesstaaten wie New Hampshire, Virginia und New Mexico, die bislang als nicht umkämpft galten, an Boden verliert und diese möglicherweise auf Donald Trump zusteuern.

Zudem ist eine steigende Anzahl von Demokraten der Meinung, dass ein anderer Kandidat besser abschneiden würde. Eine CNN-Umfrage [22] ergab, dass 56 Prozent der Demokraten der Ansicht sind, dass die Siegchancen der Demokraten höher sind, wenn Biden ersetzt würde. Eine Erhebung von CBS News [23] am Sonntag kommt außerdem zu dem Ergebnis, dass 72 Prozent der Wähler überzeugt sind, dass Biden nicht über die „mentale und kognitive Gesundheit“ verfügt, um als Präsident zu dienen.

Kamala Harris könnte Trump schlagen

Mehrere Namen werden genannt, wenn es um die Frage geht, wer Biden ersetzen könnte, darunter die demokratischen Gouverneure von Kalifornien, Illinois, Michigan und Pennsylvania. Nach Rückfragen von Reuters bei sieben ungenannten Quellen rund um die Biden-Kampagne, dem Democratic National Committee und dem Weißen Haus, stimmten alle darin überein [24], dass die Vizepräsidentin Kamala Harris die Top-Alternative ist.

In einer aktuellen CNN-Umfrage [25] zeigt sich, dass Harris zum ersten Mal gegen Trump besser abschneidet als Biden. Danach liegt Trump zwar mit 49 Prozent gegenüber 43 Prozent vor Biden, aber nur zwei Punkte vor Harris, nämlich 47 Prozent gegenüber 45 Prozent.

Schon vor der TV-Debatte Biden-Trump war Harris bei Befragungen auf dem aufsteigenden Ast [26], Biden jedoch bei entscheidenden Wählerschichten auf dem absteigenden. Zudem hat Harris, anders als Biden, mehr Entwicklungspotenzial, noch unsichere Wähler:innen an sich zu binden.

Denn in vielen politischen Fragen ist sie näher an den Interessen und Bedürfnissen derjenigen Demokraten-Wählerschichten, die den Unterschied machen könnten, von den Afroamerikaner:innen und Hispanier:innen bis zu den Araber:innen, Frauen und jungen Wählergruppen. Das zeigen vor allem ihre Äußerungen bezüglich des Gaza-Kriegs oder Frauen- und Minderheitenrechten.

Harakiri könnte im Neo-Faschismus enden

In den nächsten Wochen, vielleicht schon nächste Woche nach den Auftritten von Biden in den kommenden Tagen, wird sich zeigen, wer am 8. August bei dem Nominierungstreffen des DNC als Kandidat offiziell gegen Trump antreten wird.

Biden gegen Trump ins Rennen zu schicken, war immer mit großen Risiken behaftet. Jetzt, nach der TV-Debatte und dem „Fallout“ danach, wäre es eine Harakiri-Operation.

Dabei haben Biden und sein Team immer wieder klargemacht, wie viel auf dem Spiel steht [27]. Es sei letztlich eine Entscheidungswahl Demokratie vs. drohenden Faschismus [28].

Das ist durchaus berechtigt: Trump, der von ihm mit ultra-konservativen Richtern besetzte Oberste Gerichtshof [29] und die extremistische Republikaner-Partei, die von politischen Analysten als Aufstandsbewegung [30] bezeichnet wird und sich bis heute nicht vom versuchten Staatscoup am 6. Januar 2021 distanziert hat, sondern ihn als legitim einstuft [31], haben in Wort und Tat wieder und wieder deutlich gemacht [32], was sie von Demokratie und elementaren Bürgerrechten halten.

Es wäre eine Ironie des Schicksals, wenn der amtierende Präsident und mit ihm das Partei-Establishment der Demokraten der autoritären Herrschaft durch fehlende Selbsteinschätzung den Einzug erleichtern, wenn nicht den roten Teppich ausrollen würden.


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[1] https://www.youtube.com/watch?v=-v-8wJkmwBY
[2] https://www.nytimes.com/2024/06/28/opinion/biden-election-debate-trump.html
[3] https://www.washingtonpost.com/opinions/2024/06/28/david-ignatius-biden-trump-debate-age/
[4] https://www.newyorker.com/news/daily-comment/the-reckoning-of-joe-biden
[5] https://www.thenation.com/article/politics/biden-debate-nominee/
[6] https://www.theguardian.com/us-news/article/2024/jul/04/biden-interview-debate-trump
[7] https://www.reuters.com/world/us/biden-reassure-democratic-governors-meeting-after-shaky-debate-performance-2024-07-02/
[8] https://edition.cnn.com/2024/07/02/politics/house-democrat-call-biden-withdraw/index.html
[9] https://www.bloomberg.com/news/articles/2024-07-03/biden-debate-disaster-will-cost-them-house-and-senate-democrats-fear?leadSource=reddit_wall
[10] https://www.bloomberg.com/news/articles/2024-07-03/biden-debate-disaster-will-cost-them-house-and-senate-democrats-fear?leadSource=reddit_wall
[11] https://www.nytimes.com/2024/07/03/us/politics/biden-withdraw-election-debate.html
[12] https://edition.cnn.com/2024/07/03/politics/joe-biden-2024-campaign-troubles/index.html
[13] https://x.com/ec_schneider/status/1808556283793973561
[14] https://truthout.org/articles/biden-reportedly-considers-dropping-out-as-polls-show-him-losing-key-states/
[15] https://thehill.com/homenews/house/3948358-pelosi-on-calls-for-feinstein-to-resign-ive-never-seen-them-go-after-a-man-who-was-sick-in-the-senate/
[16] https://www.theguardian.com/commentisfree/article/2024/jun/30/should-democrats-replace-biden
[17] https://www.democracynow.org/2024/7/3/james_zogby_2024_biden_replacement_options
[18] https://www.thenation.com/article/politics/biden-debate-nominee/
[19] https://www.nytimes.com/2024/07/03/us/politics/poll-debate-biden-trump.html
[20] https://www.wsj.com/politics/elections/trump-expands-lead-over-biden-after-debate-as-voters-age-worries-grow-wsj-poll-finds-c3a793ab
[21] https://puck.news/biden-plunges-in-swing-states-in-leaked-post-debate-poll/
[22] https://www.nytimes.com/2024/07/03/us/politics/poll-debate-biden-trump.html
[23] https://x.com/weijia/status/1807398850799321337
[24] https://www.reuters.com/world/us/vp-harris-top-choice-replace-biden-election-race-if-he-steps-aside-sources-say-2024-07-03/
[25] https://edition.cnn.com/2024/07/02/politics/cnn-poll-post-debate/index.html
[26] https://www.theguardian.com/commentisfree/article/2024/jul/03/kamala-harris-joe-biden-election-2024-democrats
[27] https://joebiden.com/protecting-democracy/
[28] https://www.washingtonpost.com/made-by-history/2022/09/01/biden-called-trumpism-semi-fascism-term-makes-sense-historically/
[29] https://www.theguardian.com/us-news/article/2024/jul/01/sonia-sotomayor-dissent-trump-immunity-case
[30] https://www.telepolis.de/features/Chaos-in-US-Kongress-zeigt-Republikaner-sind-eine-Aufstandsbewegung-keine-Partei-9324684.html
[31] https://www.nytimes.com/2022/02/04/us/politics/republicans-jan-6-cheney-censure.html
[32] https://www.theguardian.com/commentisfree/article/2024/jul/03/supreme-court-trump-coup-attempt

1 Kommentar zu Operation Harakiri: Wer wird gegen Trump antreten? Von David Goeßmann

  1. Biden hat wahrscheinlich Order von der US-Machtelite (die ihn vielleicht glauben lässt, er könne es noch irgendwie schaffen), unbdingt auszuharren. Die Machtelite will Trump diesmal als Präsidenten, damit er die USA ein Stück aus dem Ukrainekrieg heraushält, aber die Europäer ins Feuer geschickt werden!
    Herzliche Wochenendgrüße

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