Thunberg: Vom Ende falscher Helden
Das ging ziemlich flott. Vier Jahre lang war sie das gepriesene große Vorbild, und jetzt wird aus allen Rohren auf sie gefeuert, zumindest in Deutschland. Greta Thunberg wird vom Liebling zum Feind, weil sie zu Palästina nicht die deutsche Norm einhält.
Thunberg: Vom Ende falscher Helden
Von Dagmar Henn
Die moderne Version von Heldensagen, wie sie von Hollywood geboten wird, ist meistens unvollständig. Sie zeigt die Phase, die den Helden zum Helden macht, aber sie verzichtet auf das Ende der Geschichte – ehe sie unsterblich werden, werden Helden nämlich üblicherweise irgendjemandem lästig und in der Folge beseitigt. So ist das bei Herakles, bei Siegfried, schlicht fast überall. Die Unsterblichkeit liegt erst hinter diesem Sturz.
Wenn der Aufstieg der Kunstfigur Greta Thunberg nun in eine Phase mündet, in der sie zum Angriffsziel ihrer ehemaligen Förderer wird, ist das daher keine ungewöhnliche Entwicklung, sondern nur der Teil eines kulturhistorisch tief verankerten Schemas, der im Interesse besserer Verkaufszahlen zuletzt aus den Geschichten gestrichen wurde (obwohl sich beispielsweise im Umgang mit den verschiedensten Popstars der komplette Zyklus immer wieder findet).
Nun wurde also ihre Achillesferse entdeckt, oder das Lindenblatt, sprich, der eine verwundbare Punkt, der es ermöglicht, den Helden wieder loszuwerden. Greta, das für die Bühne geschaffene unschuldige Kind, dessen Hysterie zum internationalen Vorbild gemacht wurde, um der Klimaerzählung eine Art Bernadette zu verschaffen, eine sündenlose Verkünderin, ist unpraktischerweise erwachsen geworden. Was natürlich noch nichts darüber aussagt, ob das diesmal wirklich ihre eigenen Gedanken sind, oder sie nur in einen Linienkonflikt zwischen zwei propagandistischen Blöcken geraten ist – schließlich finden sich die ganzen, üblicherweise mit der US-Außenpolitik verwachsenen Soros-Organisationen diesmal eher auf palästinensischer Seite.
Wie auch immer, dass Thunberg bei einer niederländischen Kundgebung für „Klimaschutz“, die Haupterzählung, der sie immer noch dient, einer palästinensischen Doktorandin eine Bühne gab, ist jetzt die Grundlage dafür, sie „hauptberufliche Israelhasserin“ zu nennen, wie das der Grünen-Politiker Volker Beck tat. Der deutsche Teil des Astroturfing-Clubs „Fridays for Future“ unter Leitung des Reemtsma-Clans hatte sich schon vor Wochen von ihr distanziert, aber nun scheint zumindest in Deutschland die Jagdsaison endgültig eröffnet.
Die besagte Doktorandin, Sara Rachdan, deren komplette Kommunikation in den sozialen Medien derzeit genutzt wird, um sie möglichst finster aussehen zu lassen, hat Architektur studiert und promoviert gerade in Amsterdam über jugendgerechte Stadtplanung. Nicht gerade ein Thema, hinter dem man Superschurken vermutet. Aber mit genug Böswilligkeit – und die ist im Zusammenhang mit dem Stichwort Israel bei deutschen Medien immer gegeben – lässt sich daraus eine Geschichte stricken, nach der die unschuldige Madonna der Klimabewegung nun unwiderruflich befleckt ist.
Rachdan habe beispielsweise ein Foto von Leila Khaled gepostet, „Mitglied der Terrororganisation PFLP, die mit 25 Jahren ein Flugzeug entführte“, schrieb dazu die SZ. Die zugehörige SZ-Autorin ist 1996 geboren, also lange nach der Zeit, als Leila Khaled zur Symbolfigur wurde, und weit davon entfernt, zu begreifen, was Khaled nicht nur für arabische Frauen symbolisierte. Für Frauen meiner Generation stand sie, ebenso wie die kleine, zierliche Vietnamesin, die auf dem ikonischen Foto einen viel größeren US-Soldaten gefangennimmt, für den Anspruch von Frauen auf alle Aspekte der Politik.
In den letzten 40 Jahren hat Khaled dann schlicht politisch für die palästinensische Sache gearbeitet. Keine ungewöhnliche Geschichte ‒ Che Guevara war die Ausnahme von der Regel. Und verglichen mit dem, was der spätere israelische Staatspräsident Ben Gurion in seiner Jugend getrieben hat, ist Khaled ein Musterbild der Unschuld.
Es ist nur so, dass derzeit in Deutschland das Verhältnis zwischen Politik und Gewalt aufs Äußerste vereinfacht wird, und die Rollen von Gut und Böse in einem Ausmaß den geopolitischen Vorgaben folgen, wie es historisch kaum zu finden ist. Eindeutige Terroranschläge seitens der Ukraine in Russland beispielsweise sind gut, genauso wie die Gewalt prowestlicher Demonstranten in Hongkong oder die Molotow-Cocktails, die im Maidan geworfen wurden, und auch die Klimakleber gelten als schützenswert. Über die Inkriminierung selbst friedlichster Proteste im Westen, die sich gegen die geopolitischen Präferenzen richten, muss man an dieser Stelle eigentlich nichts Genaueres mehr ausführen.
Es muss ja nicht wundern, wenn die staatliche Gewalt diese Haltung einnimmt. Wenn aber jede Ebene der Reflexion in den Medien fehlt, wenn – gerade in Deutschland – so getan wird, als sei die Position der Obrigkeit in jedem Moment die letztgültige Wahrheit, diese völlige Preisgabe jeder Fähigkeit, Widersprüche zumindest einmal wahrzunehmen, das ist schon eine schmerzhafte Degeneration.
Die Süddeutsche hat eine Volontärin genutzt, um über Thunberg den Stab zu brechen, und so undifferenziert fällt das Urteil auch aus, wie oben schon zu Leila Khaled beschrieben. Für die Autorin ist es schon radikal, wenn Rachdan ein Plakat hält, das die „Befreiung Palästinas“ fordert. Auch wenn alles, wirklich alles, was Rachdan vorgehalten wird, in die übliche, in Deutschland derzeit so beliebte Kategorie des Meinungsdelikts fällt, und Rachdan zwar Leila Khaled ein Vorbild nennt, aber eben nicht Khaled ist.
Natürlich, es macht Sinn, für die öffentliche Hinrichtung der Kunstfigur Greta Thunberg eine Autorin zu nutzen, die jung genug ist, dieser Kunstfigur selbst nachgelaufen zu sein. Was sie auch erkennen lässt:
„Vor fünf Jahren […] hat sie den Grundstein für eine globale Bewegung gelegt, die es in dieser Form so noch nie gegeben hat.“
Stimmt. Es gab einmal Zeiten, da waren die Helden und die Bewegungen echt, und nicht eine politische Version von Nike im Interesse von Finanzkonzernen (der Gründer von Nike hatte zuvor eine Dissertation geschrieben, wie man mithilfe der Verwendung von Symbolen und Werbung eine Marke aus dem Nichts erschaffen könne). Wobei einer der Punkte, die Thunberg bei Älteren von Anfang an unglaubwürdig wirken ließen, war, dass die Radikalität, die eben zur Heldengestalt immer dazugehört, bei ihr über eine massive psychische Störung konstruiert werden musste, und das Ganze aus etwas größerer Entfernung doch sehr wie eine Form von Kindesmissbrauch aussah. Echte, wirkliche Helden entwickeln ihre Haltung nicht unter Betreuung durch eine PR-Agentur.
Rachdan hat auf der Amsterdamer Kundgebung von einem Genozid in Gaza gesprochen. Das war ihr tatsächliches Vergehen. Diese Aussage ist wahr, aber sie darf im Westen, insbesondere in Deutschland, nicht ausgesprochen werden.
In früheren Jahrzehnten hätte man sich, um eine Person, die gerade erst weithin sichtbar wird, anzugreifen, darauf beschränken müssen, sich mit dem auseinanderzusetzen, was sie auf dieser Kundgebung gesagt hat. Aber so, wie bei Greta Thunberg die private Person mit all ihren Neurosen instrumentalisiert wurde, um die öffentliche Person zu schaffen, wird andererseits bei Rachdan die private Person zum Hilfsmittel, um die öffentliche Person zu demontieren.
Unabhängig vom absurden moralischen Rigorismus, der sich darin verbirgt, wird auf diese Weise schon die Entstehung echter Helden unmöglich. Die nämlich stehen immer im Widerspruch zu irgendeinem Aspekt des Bestehenden, werden, ob nun Robin Hood oder Martin Luther, durch Kühnheit an einem Punkt zum Helden, nicht durch vollständige moralische Unanfechtbarkeit. Fragt sich irgendjemand, ob Luke Skywalker auch seinen Müll immer ordentlich trennt?
Die SZ-Autorin bleibt in der falschen Heldengeschichte gefangen, deren Mechanismus sie nicht versteht und deren Künstlichkeit sie nicht erkennt, macht sich gewissermaßen zum Hagen dieser Sage. Für die reale Greta Thunberg jedoch, die es neben der künstlichen Klimaschutzmadonna auch noch gibt, könnte das eine Chance werden, hinter der Kunstfigur hervorzutreten.
Irgendwann, wenn sie sich etwas gründlicher mit der Geschichte des 20. Jahrhunderts beschäftigt hat, begreift vielleicht auch die SZ-Volontärin, wer Leila Khaled ist und warum es nichts, wirklich gar nichts mit Antisemitismus zu tun hat, in ihr eine Heldin zu sehen.
Wenn sie, wenn wir alle Glück haben, kann sie sogar noch verstehen, dass all die Verve, mit der sie meint, die israelischen Verbrechen in Gaza verteidigen zu müssen, nicht einmal den Menschen in Israel nützt. Denn nur ein Land, das mit seinen Nachbarn friedlich zusammenleben kann, hat eine Zukunft. Es mag bequem sein, und auch karriereförderlich, das zu denken, was vorgegeben wird; aber es leistet keinen Beitrag dazu, die Welt besser zu machen.
Thunberg jedenfalls könnte als Ex-Heldin endlich etwas Autonomie erfahren. Ob deutsche Medienvertreter den Genozid in Gaza als solchen erkennen oder nicht, wird auf die Reaktion der Welt keinen Einfluss haben, und auch Leila Khaled wird bleiben, wer sie ist. Und vielleicht, nur vielleicht, kommt auch wieder ein Tag, an dem deutsche Redaktionsstuben nicht mehr von Untertanengeist in der Buchhalterversion beherrscht werden.
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