Vom Zweiten Weltkrieg bis Gaza: Deutschland steht vor einem moralischen Dilemma, während es Israel unterstützt
Berlins Waffenexporte bringen das Land in rechtliche Gefahr und werden auch künftige Generationen von Deutschen verfolgen, weil sie auf der falschen Seite der Geschichte stehen.
Von Emir Hadikadunic
6. November 2024
Reuters
Bundeskanzler Olaf Scholz nimmt an einer Gedenkfeier zum ersten Jahrestag der Hamas-Angriffe auf Israel vom 7. Oktober teil, während er eine Synagoge in der nördlichen Hafenstadt Hamburg besucht, Deutschland, 7. Oktober 2024. / Foto: Reuters
Deutschland hat in den letzten drei Monaten eine siebenfache Steigerung der Militärexporte nach Israel genehmigt und sichert sich damit seine Rolle als Israels militärisch am stärksten unterstützender europäischer Verbündeter.
Doch während der Krieg weitergeht, fragen sich viele Kritiker, warum Berlin Israel immer noch als wichtigen Partner betrachtet, obwohl es Zehntausende Palästinenser massakriert.
Um die Antwort zu verstehen, muss man sich erneut mit einer komplexen und kontroversen Geschichte befassen, die in den historischen Folgen des Holocaust wurzelt und die eine wahrgenommene moralische Verantwortung widerspiegelt, die Sicherheit Israels zu gewährleisten.
In Anlehnung an die Beobachtung des französischen Philosophen Voltaire, dass das Heilige Römische Reich weder heilig noch römisch noch ein Reich sei, könnte man jedoch argumentieren, dass das militärische Engagement Deutschlands für Israel – trotz der Vorwürfe des Völkermords in Gaza – weder moralisch noch rechtlich vertretbar ist. Es erhöht auch nicht die Sicherheit von irgendjemandem.
Im vergangenen Jahr genehmigte Deutschland Waffenexporte nach Israel im Wert von insgesamt 363,5 Millionen US-Dollar, was einer Verzehnfachung gegenüber 2022 entspricht. Dies entsprach 47 Prozent der gesamten konventionellen Waffenimporte Israels, womit Deutschland der größte europäische Waffenexporteur in dieses Land und weltweit der zweitgrößte nach den Vereinigten Staaten ist.
Ein rechtliches Paradoxon
Die im Zweiten Weltkrieg begangenen Gräueltaten haben das Gewissen Deutschlands nachhaltig geprägt und sein Engagement für die Sicherheit des jüdischen Volkes und Israels gestärkt.
Diese moralische Verpflichtung hat die deutsche Außenpolitik geprägt und zu einer starken diplomatischen, finanziellen und militärischen Unterstützung Israels geführt. Diese bedingungslose Unterstützung steht jedoch zunehmend im Widerspruch zu den rechtlichen Verpflichtungen Deutschlands und stößt auf wachsende Kritik.
Die unerschütterliche militärische Unterstützung Deutschlands für Israel scheint sowohl sein Bekenntnis zum Völkerrecht, das in seiner Nationalen Sicherheitsstrategie mindestens 23 Mal erwähnt wird, als auch sein Engagement für eine liberale, auf Regeln basierende Ordnung zu untergraben und das Land in eine paradoxe Lage zu bringen.
Auch das deutsche Gesetz zur Kontrolle von Kriegswaffen schreibt vor, dass exportierte Waffen nicht gegen Zivilisten eingesetzt werden dürfen. Dennoch unterstützt Deutschland weiterhin Israel, dessen Militär im vergangenen Jahr in Gaza mehr Frauen und Kinder getötet hat als in jedem anderen Konflikt der letzten zwei Jahrzehnte.
Angesichts dieser dreisten Missachtung palästinensischen Lebens ist es nicht überraschend, dass Deutschland nun mit zahlreichen Klagen konfrontiert ist. Das European Center for Constitutional and Human Rights gab kürzlich bekannt, dass es im Namen eines Bewohners des Gazastreifens beim Verwaltungsgericht Frankfurt am Main Berufung eingelegt hat, um weitere Waffenexporte aus Deutschland zu stoppen.
Dieser Einwohner, der seine Frau und seine Tochter bei israelischen Luftangriffen verloren hat, argumentiert, dass die anhaltenden Waffenlieferungen sein Leben und das Leben anderer Zivilisten gefährden, und fordert Deutschland auf, diese Lieferungen einzustellen.
Deutschland wurde auch vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH) wegen Anklagen wegen angeblicher „Erleichterung der Begehung von Völkermord“ an Palästinensern in Gaza angeklagt.
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Vertriebene Palästinenser auf dem Weg nach ihrer Flucht aus dem nördlichen Teil des Gazastreifens inmitten einer israelischen Militärinvasion in Gaza-Stadt, 5. November 2024 (REUTERS/Mahmoud Issa).
Darüber hinaus steht Berlin indirekt unter Druck, da beim Internationalen Gerichtshof Völkermordvorwürfe gegen Israel anhängig sind und Ministerpräsident Benjamin Netanjahu und der ehemalige Verteidigungsminister Yoav Gallant beim Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) wegen „Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ angeklagt sind.
Solche rechtlichen Anfechtungen haben andere europäische Länder, darunter Belgien, Italien, Spanien und die Niederlande, dazu veranlasst, ihre Waffenexporte vorübergehend einzustellen oder auszusetzen. Im September ordnete beispielsweise ein niederländisches Gericht an, dass die Niederlande alle Exporte von Teilen des Kampfflugzeugs F-35 nach Israel einstellen müssen, da Bedenken hinsichtlich ihres Einsatzes bei Angriffen auf zivile Ziele in Gaza bestehen.
Im Gegensatz zu diesen Ländern hat Berlin beschlossen, rechtliche Anfechtungen zu ignorieren und wieder umfangreiche Waffenexporte nach Israel aufzunehmen.
Um die moralische Situation Deutschlands noch schlimmer zu machen, fiel diese Zunahme mit den Eskalationen Israels im Gaza-Streifen und im Libanon im August und September dieses Jahres zusammen.
Ein Paradoxon von Frieden und Macht
Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius erklärte Anfang dieses Jahres: „Wir müssen alles tun, um den Frieden in dieser Region so schnell wie möglich wiederherzustellen.“
Dieses Bekenntnis zum Frieden ist jedoch nur schwer mit der bedingungslosen Unterstützung Deutschlands für einen Staat zu vereinbaren, der allen seinen Nachbarn militärisch überlegen ist.
Laut dem Stockholm International Peace Research Institute betragen die Militärausgaben Israels mehr als das Doppelte der Ausgaben aller vier Nachbarländer – sowohl der befreundeten als auch der feindlichen – zusammen. Darüber hinaus berichtet dieselbe Quelle, dass Israel fast dreimal mehr für sein Militär ausgibt als sein Hauptgegner, der Iran.
Diese Ungleichheit wirft wichtige Fragen auf. Wenn man davon ausgeht, dass ein Gleichgewicht der Kräfte zwischen verfeindeten Akteuren zumindest theoretisch die Stabilität fördert, was bedeutet dann die militärische Unterstützung Deutschlands, die zu diesem erheblichen Ungleichgewicht beiträgt?
Es lässt nur einen Schluss zu: Deutschland möchte, genau wie die Vereinigten Staaten, dass Israel seine Nachbarn einschüchtert.
Was als moralische Haltung dargestellt wird, um Israel zu schützen und den Frieden wiederherzustellen, könnte in Wirklichkeit den Wunsch widerspiegeln, dass Israel seine regionale Überlegenheit aufrechterhält. Auch wenn deutsche Politiker ihre wahren Absichten nicht offenlegen, sind sie doch ziemlich offensichtlich.
Was als moralische Haltung dargestellt wird, um Israel zu schützen und den Frieden wiederherzustellen, könnte in Wirklichkeit den Wunsch widerspiegeln, dass Israel seine regionale Überlegenheit aufrechterhält. Auch wenn deutsche Politiker ihre wahren Absichten nicht offenlegen, sind sie doch ziemlich offensichtlich.
Gegenstimmen
Doch in Deutschland selbst fehlt es an Unterstützung für deutsche Militärexporte, da die Besorgnis über einen größeren regionalen Konflikt zunimmt. Eine kürzlich in Deutschland durchgeführte Umfrage ergab, dass 60 Prozent der Befragten gegen Waffenlieferungen an Israel sind. Nur 31 Prozent befürworten die Lieferung von Waffen für die Sicherheit Israels, während 9 Prozent unentschlossen sind.
Diese Umfrage wurde durchgeführt, nachdem Berichte aufgetaucht waren, dass die Regierung von Bundeskanzler Olaf Scholz beschlossen hatte, die Waffenlieferungen an Israel zu erhöhen.
So beunruhigend dies auch erscheinen mag, die deutschen Behörden scheinen den Zusicherungen Israels mehr zu vertrauen als ihrer eigenen Bevölkerung, dass diese Waffen nicht gegen Zivilisten eingesetzt werden. Der Sprecher des Auswärtigen Amtes, Sebastian Fischer, bekräftigte diese Haltung und versicherte letzten Monat: „Wir sehen keine Anzeichen dafür, dass Israel im Gazastreifen einen Völkermord begeht.“
Einige politische Parteien und Analysten haben die jüngste Entscheidung der Regierung, die militärische Unterstützung für Israel zu erhöhen, in Frage gestellt.
Niema Movassat, ein Politiker der Partei Die Linke, hat Bundeskanzler Scholz kritisiert und erklärt: „In Gaza hungern die Menschen, Gaza ist unbewohnbar, Israel greift den Libanon an, UNIFIL wird von der israelischen Armee ins Visier genommen. In Deutschland wird ernsthaft darüber diskutiert, diese Verstöße gegen das Völkerrecht mit Waffenlieferungen zu belohnen. Völlig daneben.“
Und der Politologe Torsten Menge hat Vizekanzler Robert Habeck und Außenministerin Annalena Baerbock verurteilt und sagt: „Wenn Baerbock und Habeck von Israel eine schriftliche Zusicherung verlangen, dass es deutsche Waffen nicht für einen Völkermord einsetzen wird, dann sind sie sich bewusst, dass Israel möglicherweise einen Völkermord begeht.“
Viele andere Kritiker im In- und Ausland argumentieren, dass die unerschütterliche Unterstützung Deutschlands für die Regierung Netanjahu seiner Glaubwürdigkeit schadet und Berlin auf der Weltbühne weiter isoliert.
Ein Erbe der Mitschuld
Für Bundeskanzler Scholz gilt der Export von Waffen nach Israel als eine Frage des deutschen „Staatsinteresses“ (Staatsräson).
Diese Haltung verwickelt ihn und seine Regierung nicht nur in die beispiellose humanitäre Katastrophe, die sich in Gaza abspielt, sondern könnte Deutschland auch noch über Generationen hinweg verfolgen.
Deutschland läuft Gefahr, als Lieferant eines Landes in Erinnerung zu bleiben, dessen Militär das Äquivalent von sechs Atombomben auf Gaza abgeworfen hat, wodurch in etwas mehr als einem Jahr 17.000 Kinder getötet wurden – eine alarmierende Abkehr von seiner historischen Verantwortung nach dem Holocaust, künftige Gräueltaten zu verhindern.
Israel hat mindestens 44.000 Palästinenser getötet, mehr als 2 Millionen Menschen vertrieben, mehr als die Hälfte der Häuser in Gaza zerstört, 87 Prozent der Schulgebäude abgerissen, alle 12 Universitäten in Gaza bombardiert und das Gesundheitssystem stark in Mitleidenschaft gezogen.
Und das alles mit Hilfe Berlins. Könnte Deutschland noch tiefer sinken?
QUELLE: TRT World
Emir Hadikadunic
Dr. Emir Hadžikadunić ist derzeit Assistenzprofessor an der Fakultät für Naturwissenschaften und Technik der Universität Sarajevo in Bosnien und Herzegowina. Er ist außerdem Gastprofessor und Distinguished Fellow an mehreren anderen Universitäten in Bosnien und Herzegowina, der Türkei und Malaysia. Dr. Hadžikadunić war zuvor als bosnischer Botschafter im Iran und in Malaysia tätig und hat zwei Bücher sowie zahlreiche Artikel für Medien und wissenschaftliche Zeitschriften veröffentlicht.
Übersetzt mit Deepl.com
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