Amokfahrt in München wird für rechte Hetze im Bundestagswahlkampf missbraucht

Familie der Opfer von München: „Ihr Tod darf nicht für Hass missbraucht werden“ Evelyn Hecht-Galinski

 

https://www.wsws.org/en/articles/2025/02/17/zbdr-f17.html?pk_campaign=wsws-newsletter&pk_kwd=wsws-daily-newsletter

Amokfahrt in München wird für rechte Hetze im Bundestagswahlkampf missbraucht

Marianne Arens, Ela Maartens

17. Februar 2025

Am 13. Februar, zehn Tage vor der Bundestagswahl, raste ein Auto in das Ende einer Verdi-Gewerkschaftsdemonstration in der bayerischen Landeshauptstadt München. 38 Menschen wurden verletzt, zwei davon schwer, darunter ein zweijähriges Mädchen, das noch auf der Intensivstation liegt.

Seidlstraße in München, mit Blick auf den Tatort [Foto von Wikimedia Commons, Strubbi / CC BY-SA 4.0]

Sobald bekannt wurde, dass es sich bei dem Fahrer um einen Flüchtling aus Afghanistan handelte, reagierten führende Politiker reflexartig mit rechten Parolen und nutzten das schreckliche Ereignis sofort für politische Selbstdarstellung aus. Seitdem haben sie nicht aufgehört, Stimmung gegen Flüchtlinge zu machen, einen „starken Staat“ zu fordern und noch mehr Abschiebungen zu verlangen.

Kanzler Olaf Scholz (Sozialdemokratische Partei, SPD) und Innenministerin Nancy Faeser (ebenfalls SPD) forderten die harte Bestrafung und anschließende Abschiebung des Täters. In einer Rhetorik, die der rechtsextremen Alternative für Deutschland (AfD) würdig ist, polterte Scholz:

Wer in Deutschland straffällig wird, wird nicht nur hart bestraft und eingesperrt, sondern muss auch damit rechnen, dass er seinen Aufenthalt in Deutschland nicht fortsetzen kann.

Faeser drohte mit dem „vollen Einsatz des Rechtsstaats“ und kündigte weitere Abschiebeflüge nach Afghanistan an. Sie prahlte damit, dass Deutschland das einzige Land in Europa sei, das „trotz Taliban-Herrschaft nach Afghanistan abschiebt“. Außerdem habe ihre Regierung „die Gesetze zur Ausweisung von Gewalttätern massiv verschärft und die Abschiebungen erhöht. Jetzt müssen sie mit allen Konsequenzen durchgesetzt werden.“

Friedrich Merz, der Spitzenkandidat der Christlich Demokratischen Union (CDU), nutzte den Angriff seinerseits, um seine anhaltende Drohung zu wiederholen, er werde dafür sorgen, dass ‚sich in Deutschland etwas ändert‘, dass ‚Recht und Ordnung konsequent durchgesetzt werden‘ und dass ‚Sicherheit an erster Stelle steht‘. Sein Parteikollege Markus Söder (Christlich-Soziale Union, CSU), Ministerpräsident des Freistaats Bayern, besuchte den Tatort zusammen mit Innenminister Joachim Herrmann (ebenfalls CSU) und dem Münchner Oberbürgermeister Dieter Reiter (SPD). Söder forderte ebenfalls, dass „sich in Deutschland etwas ändern muss – und zwar schnell“. Er lobte die Polizei und versicherte den Opfern, dass er für sie beten werde.

Die Behauptungen von Innenminister Herrmann wurden innerhalb von nur 24 Stunden als Lügen entlarvt. Er hatte den Täter als „polizeibekannt“ bezeichnet und erklärt: „Nach den vorliegenden Erkenntnissen ist der Täter bereits wegen Drogendelikten und Ladendiebstahls aktenkundig.“ Einen Tag später musste er seine Aussage zurücknehmen und zugeben, dass der 24-Jährige, der als Ladendetektiv gearbeitet hatte, nur als Zeuge vor Gericht ausgesagt hatte und nicht vorbestraft war.

Alle etablierten Politiker reagierten ähnlich. Dazu gehörte auch der Vizekanzler der Grünen, Robert Habeck, der erneut seine Forderung nach einer „umfassenden Sicherheitsoffensive“ bekräftigte.

AfD-Chefin Alice Weidel und Sahra Wagenknecht, Vorsitzende der von der Linkspartei abgespaltenen BSW, wiederholten fast wortgleich ihre Rhetorik gegen „unkontrollierte Migration“. Im Gespräch mit dem Redaktionsnetzwerk Deutschland forderte Wagenknecht strengere Abschiebungen nach Afghanistan und erklärte, dass die Bekämpfung solcher Verbrechen „nur möglich ist, wenn wir die unkontrollierte Migration beenden und diejenigen konsequent abschieben, die eine Gefahr für unser Land und seine Bevölkerung darstellen“. Weidel wetterte auf X: „Wir brauchen eine Kehrtwende in der Migrationspolitik – und zwar jetzt!“

Keiner dieser führenden Politiker stellte auch nur im Entferntesten die gesellschaftlichen Bedingungen in Frage, die solchen Gewalttaten zugrunde liegen. In Wirklichkeit ist die soziale Situation eines Menschen – frustrierende Arbeitsbedingungen, persönliche Umstände oder Erfahrungen mit Krieg und Gewalt – weitaus entscheidender als seine Nationalität. Dieser tragische Vorfall offenbart vor allem das Versagen der Politiker aller Couleur, jungen Menschen eine sinnvolle Perspektive zu bieten.

Über den 24-jährigen Farhad N., der am Donnerstag mit seinem Auto in die demonstrierenden Gewerkschaftsmitglieder in der Münchner Seidlstraße fuhr, ist bisher wenig bekannt. Er scheint ein Flüchtling aus Afghanistan zu sein, dessen Asylantrag vor Jahren abgelehnt wurde, der aber eine Aufenthaltserlaubnis und eine Arbeitserlaubnis besaß, da die Abschiebungen in sein Heimatland eingestellt wurden, nachdem die Taliban wieder an die Macht gekommen waren. Er wurde um die Jahrtausendwende geboren und hatte in Afghanistan nie etwas anderes als Krieg erlebt.

In Bayern arbeitete Farhad N. als Sicherheitsmann und Kaufhausdetektiv für mehrere Firmen. Ein Instagram-Post zeigt ihn Berichten zufolge in der Uniform eines Unternehmens, während andere Bilder ihn als Türsteher vor einer Luxusboutique im Zentrum Münchens zeigen (wo er die soziale Polarisierung aus erster Hand miterlebte).

Es bleibt unklar, ob sein Amoklauf die impulsive Tat eines psychisch instabilen Menschen war oder ein gezielter Angriff, der von antikommunistischem Hass, der durch Islamismus geschürt wird, angetrieben wurde. Nach Angaben der Polizei näherte sich der junge Mann zunächst einem Polizeiauto, das die Demonstration verfolgte, beschleunigte dann und fuhr absichtlich in den Marsch hinein.

Die Staatsanwältin gab an, dass Farhad N. zugegeben habe, absichtlich in die Menge gefahren zu sein, und sie schloss ein „islamistisches Motiv“ nicht aus. Daraufhin übernahm die Staatsanwaltschaft am Freitagabend den Fall. Wie die Süddeutsche Zeitung berichtet, wurde dieser Schritt mit der „außergewöhnlichen Bedeutung des Falles“ und einem „möglichen Angriff auf die freiheitlich-demokratische Grundordnung Deutschlands“ begründet. Diese Begründungen bleiben jedoch vage und lassen auf keine konkreten Beweise schließen.

Es könnte alles wahr sein – oder auch ganz anders. Laut der Erklärung des bayerischen Innenministers Herrmann vom Freitag gibt es keine Beweise dafür, dass „er derzeit besonders extremistische islamistische Ansichten vertritt“. Herrmann erklärte auch, dass der Fahrer „legal“ in München gelebt habe und nicht abgeschoben werden könne.

Doch statt die tieferen Ursachen solcher Ereignisse zu untersuchen oder die Hintergründe der Tragödie aufzuklären, wird der Vorfall ausgenutzt, um im Wahlkampf Rückständigkeit zu schüren, die Politik weiter nach rechts zu rücken und Rassismus und Fremdenfeindlichkeit zu schüren.

Auch Verdi [Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft] spielt dabei eine Rolle. Die Gewerkschaft mit fast zwei Millionen Mitgliedern hat sich nie bemüht, offen gegen Hetze gegen Flüchtlinge vorzugehen oder Flüchtlinge in Arbeitskämpfe zu integrieren – ganz im Gegenteil. Die Verdi-Führung teilt die kriegsbefürwortende Politik der Scholz-Regierung und fürchtet vor allem die Entwicklung einer unabhängigen, breiten Mobilisierung innerhalb der Arbeiterklasse gegen Krieg, Rassismus und soziale Sparmaßnahmen.

Der Angriff richtete sich gegen einen Verdi-Marsch, der an diesem Tag einen 24-stündigen Warnstreik im öffentlichen Sektor unterstützte, bei dem Streikende mit Fahnen und Trillerpfeifen durch die Straßen zogen. Laut Aussage des Bürgermeisters befanden sich unter den Opfern mehrere Müllwerker.

Die Stimmung in München ist angespannt. Nur wenige Tage zuvor hatten 300.000 Einwohner gegen Rassismus und jegliche Zusammenarbeit mit der AfD demonstriert. Inzwischen hat die Münchner Sicherheitskonferenz – eine ausgewachsene Kriegskonferenz – in der Innenstadt begonnen.

In diesem Klima ist es notwendig und möglich, die Arbeitnehmer jetzt gegen imperialistischen Krieg, rassistische Hetze und den Abbau öffentlicher Dienstleistungen zu mobilisieren und sie gleichzeitig für die Verteidigung all ihrer eingewanderten Brüder und Schwestern zu gewinnen.

Aber was tut Verdi? Die Gewerkschaft nutzt die Tragödie im Gegenteil als Vorwand, um alle ihre Arbeitskampfmaßnahmen abzusagen. „Aus Respekt vor dem Vorfall und den Betroffenen“ hat Verdi sofort alle Kundgebungen und Aktionen in Bayern abgesagt. Am Freitag wurden auch die Verdi-Kundgebungen in Berlin, Brandenburg und anderen Bundesländern abgesagt.

Hinterlasse jetzt einen Kommentar

Kommentar hinterlassen

Entdecke mehr von Sicht vom Hochblauen

Jetzt abonnieren, um weiterzulesen und auf das gesamte Archiv zuzugreifen.

Weiterlesen