Dank an Moshe Zuckermann für die Genehmigung seinen neuen bei Overton Artikel publizierten Artikel auf der Hochblauen Seite zu veröffentlichen. Evelyn Hecht-Galinski
https://overton-magazin.de/top-story/bothsidesing-im-gaza-krieg/
Bothsidesing im Gaza-Krieg
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Was heißt es, wenn man der Sicht beider Seiten in einem Konflikt unvoreingenommen Gehör verschaffen möchte?
In einem der Kommentare zu meinen Blog-Beiträgen ist mir vorgeworfen worden, zu viel “Bothsidesing” zu betreiben. Ich muss ehrlich gestehen, dass ich bis dahin diesen Ausdruck nicht gekannt habe. Spontan – den englischen Begriff wörtlich übersetzend – erstaunte mich der Vorwurf, weil es sich für mich so ausnahm, als würde mein Bestreben, Objektivität zu wahren, kritisiert. Ich dachte immer, gerade dies sei eine willkommene Tugend akademischen bzw. seriösen publizistischen Schreibens.
Als ich mich dann aber im Internet kundig machte, stellte sich heraus, dass der Begriff nicht schlicht erwünschte Ausgewogenheit meint, sondern eine Medienpraxis, bei der Journalisten “im Bestreben, Objektivität oder Neutralität zu wahren, beide Seiten eines Themas präsentieren, ohne eine faktenbasierte Grundlage für die Argumente einer jeden Seite zu liefern”. Bothsidesism geht also von einem Mittelweg aus, bei dem beiden Seiten gleiches Gewicht zugesprochen wird, “obwohl eine Seite objektiv falsch oder ohne glaubhafte Evidenz sein mag”.
Obwohl ich meine eigene Schreibpraxis in dieser Anschuldigung nicht wiedererkenne, möchte ich mich hier dennoch auf die Erörterung des Problems einlassen. Zunächst sei generell gesagt, dass bei jedem Konflikt, den Menschen unter sich austragen, es zwangsläufig konträre Sehweisen und miteinander streitende Perspektiven gibt. Es ist dabei durchaus “natürlich”, dass jede Seite Solidarität und Identifizierung mit ihrem Standpunkt erwartet, erst recht, wenn es um Beobachter geht, die einer der beiden Seiten national, ethnisch, ideologisch oder sonstwie “angehören”.
Sobald man aber versucht, den Konflikt in seinem Wesen zu ergründen, muss man die Ebene automatischer identitärer Bindung zumindest zeitweilig in Klammern setzen können, um der a priori gegebenen Multiperspektivität des erörterten Phänomens gerecht zu werden. Eine Distanz ist da erfordert, die bei besonders explosiven Konfliktereignissen nicht leicht fällt und gewiss nicht selbstverständlich ist. Philosophisch ermöglicht sich dies mit dem Ansatz einer Dialektik, der sich zumindest methodisch von einem rigorosen Entweder-Oder zugunsten eines Sowohl-als-Auch verabschiedet hat.
Gefühle für die Leidtragenden beider Seiten im Konflikt
In meinen politischen Texten der letzten neuen Monate habe ich mich vorwiegend mit dem Gaza-Krieg bzw. dem 7. Oktober und seinen militärisch-politischen Auswirkungen befasst. Von selbst versteht sich, dass ich in erster Linie aus israelischer Perspektive schreiben kann – ich lebe in Israel, bin also nicht unbeteiligt. Da ich aber seit Jahrzehnten eine kritische Position gegenüber der israelischen Politik im jahrhundertalten Konflikt mit den Palästinensern vertrete, ist die palästinensische Perspektive in diese kritische Position zwangsläufig miteinbezogen. Das geht zunächst über die schlichte Solidarität mit den Palästinensern oder den Israelis hinaus. Denn der historische Konflikt – in seinem Ursprung und Wesen ein Territorialkonflikt – stellt eine Bedrohung dar, die letztlich die gesamte Region des Nahen Ostens tangiert.
Es ergibt sich dabei ein Kontext, den man nicht ignorieren kann, und je tiefer man sich in diesen Kontext politisch, historisch, gesellschaftlich und kulturell versenkt, desto größere Bedeutungskreise schlägt er. Die kann man schlechterdings nicht so eindimensional erfassen, wie es die partikulare Solidarität und loyale Einordnung in die emotionalen Ansprüche der Gemeinschaft zumeist fordern. Das heißt nicht, dass man gefühlsabstinent reagiert, sondern dass man Gefühle für die Leidtragenden beider Seiten im Konflikt zu entwickeln vermag.
Aktuell: Der 7. Oktober war in vielerlei Hinsicht ein traumatisches Erlebnis für die jüdische Bevölkerung Israels. Nicht nur hatten die Regierung, das Militär und die Geheimdienste versagt, sondern die grauenvollen Vorkommnisse beim pogromartigen Angriff gegen israelische Zivilisten, unter ihnen viele Frauen und Kinder, sowie die exaltierten Freudenausbrüche auf der palästinensischen Seite erschütterten die Israelis so fundamental, dass ein reflektiert-kritisches Nachdenken über Ursache und Wirkung des Geschehenen sogleich tabuisiert wurde. Man war augenblicklich zum Opfer geworden, auf Rache und Vergeltung eingestimmt, mithin völlig “immun” gegen jegliche Leiderfahrung der palästinensischen Zivilisten im Gazastreifen, die sich nun einer gesteigerten Gewalteskalation seitens der israelischen Armee ausgesetzt sahen. Sie erwies sich (rein quantitaiv) als noch barbarischer als das Pogrom, dass den Israelis seitens der “Tiermenschen im Gaza” (Originalton der offiziellen israelischen Diskursrhetorik) widerfahren war.
Dass UN-Generalsekretär António Guterres sich anmaßte, von einem Kontext des 7. Oktober zu reden, versetzte die israelische Öffentlichkeit in Rage (und der Vorwurf des Antisemitismus blieb natürlich nicht aus). Aber Guterres hatte recht: Der 7. Oktober ist nicht im luftleeren Raum entstanden, und er lässt sich nicht begreifen, wenn man nicht das grausame Okkupationsregime im Westjordanland und die lange Blockade des Gazastreifens mitbedenkt. Der 7. Oktober war horrend, aber es gab für ihn einen von Israel von langer Hand generierten und selbstsicher “verwalteten” Zusammenhang, an dem Israel zwangsläufig beteiligt ist – obgleich es sich nie als aktiv-schuldig fühlt, sondern stets nur als Opfer von Aufgezwungenem.
Zugleich muss sich die Hamas fragen lassen, ob sie wirklich meinte, Israel mit militärischen Mitteln bezwingen zu können. Was genau haben ihre Führer erwartet, dass nach ihrem bewusst initiierten, (wohl)orchestrierten Gewaltakt gegen Israel passieren würde? Haben sie nicht daran gedacht, dass es zu einer solchen rabiaten Vergeltungsreaktion der Israelis kommen könnte? Dass ihr Kommandounternehmen eine Eroberung des Gazastreifens und dessen exzessive Verwüstung durch die IDF zur Folge haben würde? Haben sie die über 37.000 Toten, unter ihnen Tausende von Frauen und Kinder (die endgültige Opferzahl steht noch lange nicht fest) mitkalkuliert bzw. bewusst in Kauf genommen?
Die Antwort darauf mag lauten, dass die Palästinenser ein grundsätzliches Recht auf Widerstand gegen die auf sie von den Israelis ausgeübte Unterdrückung beanspruchen dürfen. Wenn sich dieser Widerstand aber in einer Aktion wie dem 7. Oktober manifestiert, bei der israelisches Gebiet (zeitweilig) erobert und zerstört wurde und mörderischer Terror sich an der israelischen Zivilbevölkerung austobte, dann darf/muss Israel sein Recht auf Selbstverteidigung fordern.
Einerseits-Andererseits-Argumentationen
Aber das Bestehen auf dieses Recht ist wiederum ein Resultat des katastrophischen Zusammenhangs, von dem Guterres sprach – ein Zusammenhang, dessen Ergründung viele Jahrzehnte zu umfassen hätte: Beginnt man 1897 (beim ersten zionistischen Kongress in Basel), 1945 (nach der Shoah), 1948 (mit der Gründung des Staates Israel und der mit ihr einhergehenden Nakba der Palästinenser), 1967 (mit den Gebietseroberungen beim sogenannten Sechstagekrieg und dem Beginn der israelischen Okkupation), 1987/88 (beim Ausbruch der ersten Intifada), 2000 (bei der zweiten Intifada) oder 2023? Bevor man darauf eine allzu apodiktische Antwort bietet, muss man sich vor Augen führen, dass sich aus dieser Auflistung der historischen Daten eine lange Kette von Einerseits-Andererseits-Argumentationen ableiten lässt.
In aller Kürze: Einerseits ist nach der Shoah evident geworden, dass dem jüdischen Kollektiv eine sichere nationale Heim- bzw. Zufluchtsstätte zur Notwendigkeit wurde; andererseits wurde diese Heimstätte der Juden auf dem Rücken der Palästinenser errichtet, womit sie objektiv zu Opfern der Opfer mutierten. Einerseits basierte die israelische Sicherheit auf militärischem Fundament; andererseits blieb den Palästinensern keine Wahl, als sich diesem Sicherheitsparadigma zu widersetzen. Einerseits bot die Zweistaatenlösung einen Ausweg aus dem Teufelskreis der permanenten Gewalteskalation; andererseits wurde sie von Israel systematisch unterminiert. Einerseits zeigte sich die PLO im Osloprozess bereit, sich auf die Zweistaatenlösung einzulassen; andererseits entstand ihr mit der Hamas eine innerpalästinensische Opposition, die sich einem Frieden, der auf eine Teilung des Landes hinauslief, rigoros verweigerte. Einerseits kam somit der religiöse Faktor des islamistischen Fundamentalismus ins (politische) Spiel; andererseits erwies sich diese Entwicklung als komplementär zur Heraufkunft des messianisch-religiösen Fundamentalismus auf zionistischer Seite, wobei beide Fundamentalismen jegliche Bewegung in Richtung einer politischen Lösung des Konflikts gegenseitig blockieren. Einerseits-andererseits – die Reihe der gegensätzlichen Glaubenssätze und Feststellungen ließe sich, wie gesagt, noch lange fortsetzen.
Garantiert ist bei dieser Herangehensweise noch lange nicht, dass man einen praktischen Erfolg bei der Lösung des Konflikts zeitigt. Dafür hat sich zum jetzigen historischen Zeitpunkt zu viel Hass und Ressentiment in die gegenseitige Wahrnehmung beider Kollektive eingefräst. Auch die ideologische Rationalisierung des Hasses hat sich immens verbreitet, mithin Gewaltphantasien, dehumanisierender Rhetorik und irrationalem religiösen Irrglauben so viel Raum verschafft, wie kaum je zuvor. Selbst das tote Kind auf der jeweils feindlichen Gegenseite vermag nicht mehr die empathische Regung hervorzurufen, die man universell erwarten darf.
Die Verhärtung des Blicks hat sich bereits ins Unmenschliche gesteigert – man generiert “Argumente” und “Erklärungen” dafür, verlässt die Pfade der Humanität und insistiert darauf, die Gerechtigkeit auf seiner Seite zu wissen. Das tote Kind auf beiden Seiten hat nichts mehr zu besagen. Man hat sich gegenseitig nichts mehr zu sagen, kann sich nur gegenseitig umbringen. Und das ist wohl der Grund dafür, dass “Both-sidesing” im genuin menschlichen Sinne zum Vorwurf verkommen darf.
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