
Dank an Moshe Zuckermann für die Genehmigung seinen neuen auf Overton-Magazin veröffentlichten Kommentar, auf der Hochblauen Seite zu übernehmen. Evelyn Hecht-Galinski
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Demonstrationen in Gaza
Was haben die Demonstrationen im Gazastreifen, die diese Woche Aufsehen erregten, für eine Bedeutung? Die Antwort darauf ist ganz und gar nicht klar.
Im Gazastreifen brachen diese Woche Demonstrationen aus. Gerichtet waren sie gegen den Krieg, mithin gegen die Hamas, der nicht zuletzt die Schuld an der anhaltenden Erfahrung von tödlicher Gewalt und Oppression zugeschrieben wird. Es ist zurzeit noch nicht abzusehen, ob die Demonstrationen anhalten werden oder lediglich ein kurzes Aufflackern eines Protestes gegen die palästinensische Herrschaft in dem seit dem 7. Oktober heftigst gebeutelten Landstreifen waren.
Es sei vorangeschickt, dass man sich neben der nur zu berechtigten Kritik an dem seit dem Oktober-Desaster von Rache- und Vergeltungsbedürfnissen angetriebenen israelischen Attacken gegen die Palästinenser lange schon auch eine Kritik an der Hamas aus den Reihen der Palästinenser gewünscht hätte. Denn der infolge des am 7. Oktober ausgebrochenen Krieges war nun einmal ein Resultat des von der Hamas in den israelischen Siedlungen am Gazastreifen initiierten und verübten Pogrommassakers; die fürchterliche israelische Reaktion darauf war zu erwarten (und fiel entsprechend tötungs- und verwüstungsbegierig aus).
Dem hält man freilich entgegen, dass der Terrorakt selbst nicht ohne die Vorgeschichte einer gegen die Gaza-Bewohner seit Jahrzehnten praktizierten israelischen Unterdrückung zu begreifen sei. Zudem handle es sich um den einzig realen palästinensischen Widerstand gegen das seit bald 60 Jahren perpetuierte barbarische Okkupationsregime des zionistischen Staates. Gleichwohl nützen solche historisierenden Schuldzuweisungen nicht sehr viel, wenn es um die unmittelbare Bedrohung des eigenen Lebens und des Lebens von Familienangehörigen geht.
Nicht unerwähnt bleibe auch, dass der Umgang der Hamas mit kritischen Stimmen aus der eigenen Bevölkerung (von einer gestandenen Opposition konnte seit dem Herrschaftsantritt in 2007 ohnehin nicht die Rede sein) stets rabiat ausfiel. Zwar hört man immer wieder, es sei unangemessen, dem Opfer die Schuld an seinem Dasein zuzuweisen, was auch stimmt – und dennoch erhebt sich die Frage, ob sich die Beziehung zu der Organisation, die das unbeschreibliche aktuelle Elend und die akute Not über den Gazastreifen gebracht haben, von den betroffenen Gaza-Bewohnern nicht längst schon hätte kritischer gestalten müssen.
Das mag sich aus der Feder eines in Tel Aviv lebenden Juden als besserwisserisch-überheblich ausnehmen. Diese Kritik muss man sich gefallen lassen, ohne jedoch von der Einsicht abzulassen, dass die kritische Intelligenz der Palästinenser etwas von ihrem Auftrag als solche vernachlässigt, um nicht zu sagen: verrät, wenn sie im Hinblick auf die unmenschliche Not, der die Bewohner des Gazastreifens ausgesetzt sind, sich damit begnügt, die zweifellos notwendige Kritik an Israel zu artikulieren.
Der auf der Hand liegende Grund dafür ist, dass sich Israel um diese Kritik einen feuchten Kehricht schert. Es war zwar mehr oder minder schon immer so, aber unter der zur Zeit herrschenden israelischen Regierungskoalition, der Schirmherrschaft, die sie beim gegenwärtigen US-amerikanischen Präsidenten genießt, und den in ihrer Palästinenser-Verachtung weitegehend “gleichgeschalteten” israelischen Medien (die den dominierenden Araberhass schüren und effizient bedienen), ist es so kulminiert, dass man von einer vorsätzlichen Totalabschottung gegenüber allem, was die politischen Bestrebungen der Palästinenser anbelangt, sprechen darf. Wir haben es mit der absurden Situation zu tun, dass sich Israel gegen die Kritik an seiner Politik dermaßen immunisiert hat, dass es die Wirkung der Kritik radikal erschüttert, die Kritik mithin nachgerade überflüssig macht.
Diese Lähmung ist fatal. Dennoch darf man ihr nicht mit dem Pathos eines machtlosen Immer-weiter-so der Kritik im luftleeren Raum begegnen. Denn längst schon hat es das vollends faschisierte Israel, das sich dem radikal rechtsgerückten Zeitgeist verschrieben hat, verstanden, jegliche Kritik an ihm als antisemitisch abzuschmettern bzw. sie als vernachlässigbare Belästigung auflaufen zu lassen. Wenn schon die Regierungskoalition die innerisraelische Kritik einer blutleeren parlamentarischen Opposition lässig zu ignorieren und ihr Demolierungswerk der letzten Reste der formalen Demokratie des zionistischen Staates unbekümmert fortzusetzen vermag, dann ist für sie der Umgang mit einer von außen kommenden Kritik ein Kinderspiel. Behilflich ist ihr dabei, dass sie die Hamas als eine Terrororganisation ausweisen kann, und zwar ungeachtet der Tatsache, dass Netanjahu diese Organisation jahrelang am Leben erhalten und als Instrument seiner Politik unterstützt hat, und obgleich Israel selbst den Palästinensern gegenüber Terror in staatlichem Ausmaß betreibt und dafür unter dem Vorwand, einen Krieg gegen die Hamas zu führen, immer mehr das Militär einsetzt.
Die allermeisten Bürger Israels wissen, dass dem Krieg bereits vor Monaten der Sinn abhandengekommen, er mithin zwecklos geworden ist, und dennoch wagt die parlamentarische Opposition nicht, seine Beendigung zu fordern (es gilt ja, wie Netanjahu proklamiert, den “totalen Sieg” zu erlangen und die Hamas endgültig zu liquidieren); die außerparlamentarische Opposition schafft es nicht einmal, eine kritische Demonstrations- und Protestmasse zu generieren, die die Beendigung des Krieges zu bewirken vermöchte.
Interessant waren die Reaktionen in Israel auf die Demonstrationen im Gazastreifen. Bei einem der TV-Podien stellte man sich die Frage, ob es sich bei diesem gegen die Hamas gerichteten Protest um einen “authentischen” Akt der Palästinenser handle, oder ob er (von wem auch immer) “gesteuert” sei. Die schiere Fragestellung leitete sich von der eingeübten Grundhaltung der israelischen Medien ab, alles, was aus dem Gazastreifen kommt, nicht nur infrage zu stellen, sondern von vornherein als unglaubwürdig zu deuten: Die Angaben zur Zahl der Opfer, zum Umfang der Verwüstung, zu den von der Hamas verkündeten Positionen werden stets allesamt als übertrieben, fingiert und manipulativ bezeichnet; so wie der Sieg “total” zu sein hat, darf es auch keinerlei Lücken in der von Israel an die Hamas gerichtete Schuldzuweisung geben, und entsprechend auch nie von getöteten Unbeteiligten die Rede sein; der israelischen Propaganda gelten alle Gaza-Bewohner, auch kleine Kinder, als Hamas-Anhänger bzw. als Terroristen (und zwar von Geburt an). Und siehe da – plötzlich Demonstrationen gegen Krieg und Hamas in Gaza. Wie damit umgehen? Netanjahu hat sogleich die Demonstrationen begrüßt (die im eigenen Land gegen ihn selbst findet er weniger begrüßenswert).
Haaretz-Korrespondent Jack Khoury hat dazu treffend bemerkt: “Die Euphorie, die die Medien und einen Teil der Bevölkerung infolge der Protestaktionen gegen die Hamas im Gazastreifen erfasst hat, bestätigt nur die israelische Heuchelei. Plötzlich stellt sich heraus, dass nicht alle Gaza-Bewohner Hamas-Anhänger und nicht alle todeswürdig seien. Im demokratischen und freien Israel hat man entdeckt, dass es auch in Gaza Menschen gibt, die sich wagen, zu reden und zu protestieren. So haben sich der Ministerpräsident und der Verteidigungsminister an die Bevölkerung in Gaza mit der Bitte gewandt, die Hamas zu vertreiben, der IDF-Militärsprecher auf Arabisch hat Videos von den Demonstrationen gepostet, und auch führende Kanäle sowie diverse Sites haben die Ereignisse hervorgehoben. ‘Steht die Hamas-Herrschaft vor ihrem Ende?’, ‘Dringen der gesteigerte militärische Druck und die Verfestigung der Belagerung durch?’, ‘Ist die Revolution unterwegs?’ hallte es in den Fernsehstudios.“
Der sarkastische Ton Khourys ist beredt. Gerade er weiß, wie lächerlich es mittlerweile ist, von einem “demokratischen und freien Israel” zu reden. Er durchschaut auch die scheinheiligen Intentionen des israelischen Premiers und seines Verteidigungsministers. Und das in den TV-Studios verbreitete Wunschdenken nimmt sich wie eine Parodie auf die eigene Lage in Israel aus: Steht die Netanjahu-Herrschaft vor ihrem Ende? Ist die Revolution (in Israel) unterwegs?
Auf die Gaza-Bewohner wird projiziert, was man im eigenen Land nicht zustande bringt: Obgleich man die Schuld der Netanjahu-Koalition am 7. Oktober nicht infrage stellen kann, obwohl der schon begraben geglaubte Staatstreich neuen Aufschwung bekommen hat und sein institutionelles Unwesen ohne Widerstand betreibt, obwohl alle wissen, dass der militärische Druck mitnichten zur Geiselbefreiung führt (und die Angehörigen der Geisel zu Feinden gestempelt und bei einem Vorfall von Ordnungsleute der Knesset gar niedergeprügelt worden sind), und obwohl sich sowohl im gerade durchgebrachten (korrupten) Staatsbudget als auch in der Erneuerung des Krieges (in verschiedenen Fronten) die Katastrophe des Landes und seines sozialen, politischen, ökonomischen und moralischen Niedergangs widerspiegeln, bewegen sich die Demonstrationen gegen den Krieg, für den sofortigen Deal zur vollen Geiselbefreiung, für eine schon längst fällige staatliche Untersuchungskommission und gegen die Netanjahu-Koalition in den quantitativen Sphären einer ohnmächtigen, vergeblich sich empörenden Protestrealität, die eher den Anschein erweckt, als belle man den Mond an.
In der Knesset macht man sich über die Demonstranten gar lustig. Die Herrschenden fühlen sich sicher mit ihrer stabilen Koalition von gewissenlosen Interessenten, Duckmäusern und Steigbügelhaltern. Revolution? Die ist gut für den verwüsteten Gazastreifen und seinen von Hamas und Israel geschundenen Bewohnern.
Aber es stellt sich darüber hinaus eine ganz andere Frage: Was soll das Ziel der angeforderten “Revolution” sein? Der Sturz der Hamas – und was danach? Auch dazu hat Jack Khoury Treffendes angemerkt: “In Israel kann man dem Gaza-Protest wirklich beistehen, indem man proklamiert, dass es nach der Hamas-Ära Hoffnung auf eine reale Veränderung in der Zukunft geben wird. Aber eine Forderung des Sturzes der Hamas, nur um die Rückkehr der Okkupation vorzubereiten, wird jene, die den Mut gefasst haben, um auf die verwüsteten Straßen Gazas hinauszugehen, nur schwächen. Denn wer [auf die Straße] hinausgeht, will ein honoriges Leben führen – nicht eins unter der Keule der Hamas und dem Stiefel Israels.”
Das Bedrückende an Khourys Zeilen ist, dass das gegenwärtige Israel mitnichten in Kategorien einer hoffnungsvollen Zukunft für die Bewohner des Gazastreifens auch nur denkt, geschweige denn, eine solche vorbereitet. Insofern der “Tag danach” überhaupt anvisiert wird, dann eher im Sinne einer ethnischen Säuberung nach der Rückeroberung des Landstrichs, der rigorosen Verhinderung der Einsetzung irgendeiner der bestehenden palästinensischen Instanzen (PLO oder Hamas) bei der künftigen Herrschaftsregelung und (zumindest in der Vorstellungswelt von Smotrich und Ben-Gvir) einer jüdischen Neubesiedlung des eroberten Gebiets.
Die Demonstrationen in Gaza dürfen durchaus als Zeichen des Willens und der Hoffnung auf eine neue, vielleicht sogar friedliche Zukunft für die Bevölkerung dieses palästinensischen Gebiets, das Schlimmstes durchlebt hat, gewertet werden. Aber unter der gegenwärtigen israelischen Regierung, deren Ende zurzeit nicht abzusehen ist, nimmt sich diese Hoffnung wie ein beklagenswerte Chimäre aus.
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