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Ein gewollter überflüssiger Krieg
Von
Israels Schlagabtausch mit der Hisbollah ist diese Woche eskaliert. Ein Krieg ist ausgebrochen. Ein notwendiger Krieg?
Nun ist er wieder da, der Krieg. Entsetzlich, wie salopp sich dieser Satz sagt. Ungleich entsetzlicher freilich die Realität, die ihn gezeitigt hat. Denn es ist zu diesem Zeitpunkt nicht ausgemacht, welche Dynamik die bereits eingetretene Gewalteskalation zwischen Israel und der Hisbollah annehmen wird (man weiß stets, wie man in einen Krieg einsteigt, selten aber von vornherein, wie er ausgehen wird); aber wie bzw. warum es zum Krieg gekommen ist, kann man sehr wohl wissen.
So besehen, geht es eigentlich weniger darum, wie man aus einem begonnenen Krieg wieder aussteigt, als darum, wie er hätte verhindert werden können. Das ist freilich keine leicht zu beantwortende Frage. Denn sie setzt implizit voraus, dass man den Krieg nicht gewollt hat. Und in der Tat mag man sich wundern, wie es möglich sei, dass nach all dem Horrenden an Tod, Verwüstung und menschlichem Elend, das man in den vergangenen zehn Monaten beim Gazakrieg gesehen und erlebt hat, man sich so schnell wieder zu einer Gewalteskalation im Libanon hinreißen lässt, die das Potential zu einem noch größeren Horror (auf beiden Seiten) in sich birgt. Das – so der common sense – kann man doch nicht gewollt haben.
Zu fragen gilt es, ob diese Grundannahme überhaupt stimmt. Von selbst versteht sich, dass man im nachhinein zumeist nur den Kopf schütteln kann über die menschengemachte Katastrophe. Dass man sich dabei eines Paradigmas von Good-guys-bad-guys bedient, bezeugt ja nur, dass man einer kognitiven Krücke bedarf, um “die Dinge” (mithin den schieren Ausbruch des Krieges) moralisch einordnen zu können. Aber “die Dinge” sind nie eindeutig, jedenfalls nicht einseitig bestimmbar.
Empfehlenswert ist in diesem Zusammenhang die Lektüre von Christopher Clarks Buch Die Schlafwandler. Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog, in welchem nachgezeichnet und erörtert wird, wie die beteiligten Mächte selbst in jenen Krieg, der nicht von ungefähr als die erste große Katastrophe des 20. Jahrhunderts bezeichnet worden ist, gleichsam schlafwandlerisch hineingeschlittert sind. Es lassen sich entsprechend drei Positionen vertreten, die den Ausbruch eines Krieges begründen:
- Good guys standen bad guys gegenüber; man konnte dem Konflikt nicht ausweichen; um den Sieg der good guys zu erringen, war der Krieg notwendig gworden.
- Eine Dynamik von Kontingenzen hat zum Gewaltausbruch geführt; man war sich quasi gar nicht bewusst, sich auf dem Weg zur Katastrophe zu bewegen.
- Man hat den Krieg gewollt und seinen Ausbruch interessengeleitet bewusst herbeigeführt, wobei die Interessen und die Motivation zur Kriegsführung fremdbestimmt waren, mithin der offiziellen ideologischen Kriegsbegründung nicht entsprachen.
Wie steht es also mit dem in dieser Woche in eine neue, bedrohliche Phase eingetretenen Krieg im Libanon? Die Frage lässt sich nur im Kontext des Gazakrieges beantworten. Gewiss ist, dass die Hamas den 7. Oktober gewollt und initiiert hat. Nicht ausgemacht ist aber, dass Yahia Sinwar die Konsequenzen des von ihm geplanten Massakers tief genug durchdacht hat: Die Hisbollah hat die von ihm erhoffte Hilfe nur zögerlich geleistet; der im Hintergrund stehende Iran hat sich nicht zum vollen Krieg mit Israel bewegen lassen; die Auswirkungen für die Gazabewohner sind horrend. Denn Israel wollte Vergeltung für das am 7. Oktober erlittene Unglück, wollte die Hamas kriegerisch besiegen und Rache ausüben für “die schlimmste Katastrophe, die Juden seit der Shoah widerfahren ist” (wie man medial bald genug zu propagieren wusste).
Es galt auch die Schmach aufzuwiegen, die man durch das Versagen der Armee, der Geheimdienste wie auch der Regierenden am Katastrophentag über sich hat ergehen lassen müssen. Wusste man, worauf man sich da (rein militärisch besehen) einließ? Wohl kaum: Der Krieg in Gaza zieht sich (für Israels Sicherheits- und Militärdoktrin ungewohnt) schon seit einem Jahr, und das dringliche Geiselproblem ist noch immer ungelöst. Und dennoch wollte man den Krieg, und zwar ungeachtet der Frage, ob man ihn wollen musste (Israel war ja in seinem Territorium angegriffen worden).
Was hat Yahia Sinwar (seine Misskalkulation mitbedacht) bewogen, einen Krieg mit Israel zu riskieren? Man kann davon ausgehen, dass es vor allem sein Bestreben war, sich gegenüber der im Widerstand gegen die israelische Besatzung in den letzten Jahren erlahmte PLO zu profilieren; der innerpalästinensische Machtkampf ist ja nie versiegt, wird mithin in verschiedenen Formen seit Jahren perpetuiert. Sinwar ist dabei nicht der einzige, der bereit ist, die große Opferzahl sowie die Not und das Elend der von ihm beherrschten Bevölkerung von vornherein in Kauf zu nehmen.
Wie kommt es, dass Netanjahu sich weigert, den Gazakrieg zu beenden? Haben doch inzwischen selbst die obersten Ränge der IDF sowie der Verteidigungsminister den von ihm proklamierten “totalen Sieg” gegen die Hamas für “baren Unsinn” erklärt und plädieren für eine Beendigung der Kampfhandlungen im Gazastreifen, vor allem, um im Rahmen eines Deals mit der Hamas die in ihrer Gefangenschaft verbliebenen Geiseln freizubekommen. Netanjahu hat es aber trotz der öffentlichen Demonstrationen für die Befreiung der Entführten geschafft, die Priorität der Geiselfrage de facto zu eliminieren; er hat jeder sich öffnenden Möglichkeit zum Deal durch Verzögerungstaktiken effektiv entgegengewirkt.
Dabei durfte er sich der Unterstützung durch seine Koalitionspartner sicher sein – diese wollen den Deal nicht (die gewichtigen unter ihnen, Itamar Ben-Gvir und Bezalel Smotrich, streben die Besetzung des Gazastreifens und womöglich seine jüdische Neubesiedlung an), und sie haben dieses Nichtwollen zu einem perfiden Erpressungsinstrument gerinnen lassen: Man werde die Koalition auflösen, wenn der Premier den Deal eingeht.
Netanjahu seinerseits kann diese Erpressung nur begrüßen: Er ist um nichts mehr bemüht, als um den persönlichen Macht- und Herrschaftserhalt, der ihm auch die Hinauszögerung seines seit Jahren laufenden Prozesses (wegen Korruption, Betrugs und Veruntreuung) garantiert. Ein regierender Premier ist zwar nicht immune, aber doch einigermaßen geschützt vor juristischer Verfolgung. Und um sich dessen zu versichern, darf eben seine Regierungskoalition nicht aufgelöst werden; und damit sie nicht aufgelöst werde, muss der Krieg weitergehen – und da der Krieg mit der Hamas ins Stocken geraten ist, bedurfte es eines “neuen” Krieges, und der bot sich nun durch die Gewalteskalation mit der Hisbollah an.
Nun ist es so, dass die Hisbollah durch Dauerbeschuss der Ortschaften an der nördlichen Grenze Israels ein reales Sicherheitsproblem erzeugt hat: rund 65.000 ihrer bedrohten BewohnerInnen mussten evakuiert werden. War da der Krieg nicht notwendig geworden? Nein, er war es nicht. Denn wäre ein Deal zwischen Israel und der Hamas zustande gekommen, wären die Kampfhandlungen im Gazastreifen beendet, die Geiseln befreit und auch der Beschuss Israels durch die Hisbollah wäre eingestellt worden.
Nicht nur der Krieg mit der Hamas hätte beendeten, sondern auch der aktuelle Krieg mit der Hisbollah verhindert werden können. Aber das hätte das Ende der Netanjahu-Regierung bedeutet – eine für ihn endzeitliche Vorstellung, deren Verwirklichung um jeden Preis im Keime erstickt werden muss. Netanjahu will den Krieg im Libanon. Er muss diesen mitnichten notwendigen Krieg wollen. Und die Geiseln? Die können geopfert werden. Will er das? Wahrscheinlich nicht. Aber was sein muss, muss eben sein.
P.S. – Kurz nach Beendigung der Niederschrift dieser Zeilen, wird berichtet, dass ein Waffenstillstand für 21 Tage ausgehandelt worden ist. An der Kernaussage des hier Erörterten ändert dies nichts. Bezeichnend gleichwohl, dass die kahanistische Partei Itamar Ben-Gvirs, des israelischen Polizeiminister, die den Fortbestand der Koalition Netanjahus garantiert und zugleich erpresserisch bedroht, sogleich eine dringende Sitzung einberufen hat (die Unterbrechung des Krieges ist für sie inakzeptabel).
Netanjahu fliegt heute in die USA, um eine Rede in der UN zu halten. Mitten im Krieg leistet sich der Premierminister eine Luxusreise mit seiner Frau, und der großmäulige Koalitionspartner befleißigt sich derweil einer Drohgebärde. Diese Farce ist symptomatisch für Israels Politrealität. Es gilt abzuwarten, wie der Premier und sein Polizeiminister aufeinander reagieren werden.
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