Ich danke Oskar Lafontaine für die Genehmigung den zweiten Teil des Gesprächs zwischen ihm und Emmanuel Todd, heute veröffentlicht bei overton-magazin.de, auf der Hochblauen Seite zu übernehmen. Evelyn Hecht-Galinski
Emmanuel Todd: »Ich würde gerne das Organigramm der amerikanischen Macht in Europa in der Hand halten«
Der Westen befindet sich im Niedergang: Das ist die Analyse des französischen Historikers Emmanuel Todd. Er traf vor einigen Tagen auf Oskar Lafontaine. Beide sprachen sie über Europa, den Westen und das Vakuum, in das die westliche Welt geraten ist.
Folgend der letzte von drei Teilen. Zum ersten Teil geht es hier. Und den zweiten Teil des Gespräches finden Sie hier.
Todd: Wenn wir uns noch einmal den Länderunterschieden in der Einstellung zum Krieg zuwenden, dann fällt mir auf, dass auch die Holländer sehr kriegstreibend auftreten, ebenso wie die Dänen und die Polen. Im Grunde genommen sind das alle die Länder, die eine direkte Grenze zu Deutschland haben und die im Zweiten Weltkrieg von Deutschland bedroht gewesen sind. Ich habe mich gefragt, ob es in diesen Ländern einen gewissen Groll gegenüber Deutschland gibt, ob sich diese Länder vielleicht ein wenig für Deutschlands Wiederaufstieg zur Macht rächen wollen?
Lafontaine: Aufgrund der historischen Erfahrungen dieser Länder könnte ich das nachvollziehen. In jedem Fall stellt man sich die Frage, ob Dänemark, Polen oder natürlich die Ukraine den USA geholfen haben könnten, die Nord-Stream-Pipelines zu zerstören. Das kann sein, weil dies nun mal Anrainerländer sind, die diesen Raum kontrollieren. Wenn die Europäer wieder lernen, ihr eigenen Interessen zu vertreten, dann wird sich auch diese historische Belastung in einer guten Zusammenarbeit auflösen.
»Eigentlich bedeutet Nichtstun sehr viel zu tun«
Todd: Ich glaube, dass es sehr schwierig ist, zu einer völlig negativen Sicht auf die USA zu gelangen. In der Geschichte meiner Familie ist Amerika das Land, das uns gerettet hat. Meine Mutter war während des Krieges als Flüchtling in die USA gekommen. Ich glaube, den Deutschen geht es genauso. Dass dieses Land, das Land der Unabhängigkeitserklärung, des Rechts auf Glück usw. zu einer Bedrohung geworden ist, das ist in der Tat sehr schwer vorstellbar. Es ist viel einfacher, nicht daran zu denken und sich vorzustellen, dass es immer noch das gleiche Land ist. Jetzt werde ich vielleicht etwas sagen, das zunächst schockierend klingt, aber die Welt war auch überrascht, als sie gesehen hat, wie Deutschland – damals das wissenschaftlich und kulturell fortschrittlichste Land der Welt – dem Nationalsozialismus verfallen ist. Länder, die sich vom Besten zum Schlimmsten ändern, das haben wir alles schon einmal gesehen. Ich will damit keineswegs sagen, dass die amerikanischen Neokonservativen genauso abscheulich sind wie die Nazis. Diese Menschen sind einfach nur einem Irrtum verfallen und dafür habe ich grundsätzlich Verständnis. Aber es ist dennoch seltsam, dass sie einfach nicht die Realität so wie sie ist erkennen können …
Lafontaine: Das Problem ist immer die Propaganda, die wie ein Gift wirkt. Viele Leute sind nicht in der Lage, selbstständig zu denken. Sie sind Opfer der Propaganda und deshalb befinden wir uns in dieser völligen Abhängigkeit zu den Vereinigten Staaten. Ich hoffe, dass wir trotzdem zu einer Lösung kommen werden.
Todd: Eigentlich reicht es, einen Atomkrieg zu vermeiden, damit wäre schon alles gut. Eigentlich besteht die Lösung darin, dass man einfach die Niederlage akzeptiert – die Lösung liegt im Nichtstun. Wie machbar das ist, zeigt ja gerade das deutsche Beispiel: In letzter Zeit gab es viele empörte Kommentare zum Zustand der Bundeswehr und darüber, wie Deutschland sein Militär verkümmern lässt. Ich persönlich finde, dass dies die genialste und subtilste politische Handlung der jüngeren Geschichte ist. Stellen Sie sich vor, in welcher Situation wir wären, wenn Deutschland über eine starke Armee verfügen würde. Das hätte Angst verbreitet und vielleicht wären die Russen unter diesen Umständen nicht so lange ruhig geblieben. Also eigentlich bedeutet Nichtstun sehr viel tun.
Lafontaine:. Ich möchte Ihnen eine Frage stellen: Als Sie jung waren, waren Sie Kommunist, ich war Sozialdemokrat. Wenn ich an den Krieg denke, erinnere ich mich immer an diesen Satz von Jean Jaurès, dass der Kapitalismus den Krieg in sich trägt, wie die Wolken den Regen. Kennen Sie dieses Zitat?
Todd: Ja, ich kenne es.
Lafontaine: Das heißt, der Kapitalismus ist ein Wirtschaftssystem, das im Endeffekt zum Krieg führt. Was ist Ihre Position dazu? Grundsätzlich glaube ich, dass da etwas Wahres dran ist, denn der Kapitalismus bewirkt diesen Zwang, ständig zu expandieren.
Todd: Grundsätzlich ja. Aber ich glaube, unterhalb dieses kapitalistischen Drangs zur Expansion gibt es noch tiefere Kräfte, d.h. soziale und psychologische Kräfte, die die kapitalistischen Individuen hervorbringen. Im Grunde spiegelt der Kapitalismus also nur etwas wider, das tiefer in der menschlichen Natur liegt und das sich durch allerlei moralische und religiöse Phänomene äußern kann.
»Ich bin dagegen, dass Waffen von Privatunternehmen produziert werden«
Lafontaine: Da stimme ich zu, denn natürlich hat die Menschheit auch schon vor dem Kapitalismus viele Kriege gesehen.
Todd: Ich denke, was der Kapitalismus tut, ist, alle natürlichen schlechten Instinkte des Menschen in den Dienst einer effizienten Wirtschaft zu stellen, die letztendlich für alle von Vorteil ist. Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass der Kommunismus nur das genaue Gegenteil macht. Denn in der Kommunistischen Partei hatte ich zunächst nur sehr nette Leute kennengelernt, wirklich tolle Menschen und daraufhin hatte ich mir gesagt: Ja, natürlich, der Kommunismus nimmt die reinsten und nettesten Menschen der Welt und steckt sie alle zusammen. Aber dann sieht man, dass in diesem kleinen Universum ein paar Schurken an die Macht kommen und das Ganze in eine mörderische Maschine verwandeln. Kommunismus ist also das Gegenteil von Kapitalismus: man nimmt die guten Instinkte des Menschen und macht daraus das schlechteste System, das es gibt.
Lafontaine: Was ich mich nur immer wieder frage: Warum haben wir gerade jetzt den Krieg in der Ukraine? Die Ursache dafür war die NATO-Expansion, das ist klar – aber warum haben die USA die NATO-Expansion überhaupt ausgeführt? In der New York Times habe ich gelesen, dass es die großen Waffenproduktionsfirmen waren, die dazu gedrängt hatten, indem sie einen von der Rüstungsindustrie finanzierten Arbeitskreis für die Expansion der NATO gründeten. Deshalb bin ich überzeugt, dass die Waffenunternehmen nach dem Ukrainekrieg noch größeren Einfluss auf die Politik der Amerikaner haben werden. Und deshalb bin ich dagegen, dass Waffen von Privatunternehmen produziert werden.
Todd: Damit bin ich völlig einverstanden! Aber wir übersehen hier wieder ein tieferes Problem, das aktuell auch einer der Gründe ist, die die ukrainisch-amerikanische Niederlage erklären: die relative Schwäche der amerikanischen Waffenproduktion. Ich will damit sagen, dass nicht nur die Waffenproduktion, sondern die gesamte amerikanische Industrieproduktion immer mehr außerhalb der eigentlichen USA stattfindet.
Lafontaine: Das habe ich in ihrem Buch mit großem Interesse gelesen …
Todd: Das ist einer der Indikatoren, an denen sich bemerkbar macht, wie weit der Zusammenbruch der amerikanischen Macht fortgeschritten ist. Man sieht das auch am Scheitern einiger bisher weltführender amerikanischer Firmen, wie zum Beispiel von Boeing: Wenn die USA ihre Vormachtstellung in der Luftfahrttechnik verlieren, so wie sie etwa schon ihre Vormachtstellung in der Automobilbranche verloren haben, dann bewegen sie sich einen Schritt weiter in Richtung Niedergang. Und das ist für die Europäer von großer Bedeutung – vor allem stellt es ein grundlegendes Problem für die Deutschen und Franzosen dar, da sie es sind, die den Rivalen Airbus kontrollieren.
»Die industrielle Vitalität des Westens liegt nun in seiner extremsten Peripherie«
Lafontaine: Davon habe ich in Ihrem Buch gelesen, das waren auch für mich neue und sehr überzeugende Argumente. Wenn man einen Krieg führen will, muss man eine gut funktionierende Industrie hinter sich haben, das ist klar. Deshalb erklärt das auch, warum Russland den Krieg in der Ukraine gewinnen wird.
Todd: Mit am meisten überrascht hat mich die Struktur des amerikanischen Systems. Gut, die USA bilden nach wie vor das politische Zentrum der Welt, und zwar dadurch, dass sie weiterhin die Weltwährung, den Dollar, produzieren. Aber das, was von der industriellen Vitalität des Westens übrig geblieben ist, liegt nun in seiner extremsten Peripherie, in Deutschland und Osteuropa, oder auch in Italien, Japan, Korea oder Taiwan. Es ist sehr seltsam für einen Geographen, zu sehen, wie gewissermaßen das Blut ganz in die äußeren Gliedmaßen fließt, fast so, als ob das nun der lebendigste Teil des Körpers wäre.
Lafontaine: Wie lassen sich diese Erkenntnisse zum Niedergang der USA mit ihrer Beteiligung am Ukrainekrieg zusammenbringen?
Todd: Für mich gibt es zwei Systeme von Hypothesen, um das Verhalten der Vereinigten Staaten zu erklären. Zum einen gibt es die nihilistische Hypothese, das wäre letztendlich die reine Freude am Krieg. Und zum anderen gäbe es noch die rationale Hypothese: Die USA wollen die Kontrolle über ihr Imperium erhalten, erworben durch ihren Sieg im Zweiten Weltkrieg. Und dieses Imperium, das besteht in der Kontrolle über Deutschland, Italien, Japan und Korea. Wenn wir uns jetzt aber diese Länder anschauen, dann stellt sich das Paradoxon, dass es gerade diese Länder sind, in denen sich die industriellen Kapazitäten der westlichen Einflusssphäre immer mehr konzentrieren. Wenn man Bücher etwa von indischen oder chinesischen Autoren liest, merkt man, dass man sich international über dieses Phänomen sehr bewusst ist. Jedes Land der Welt sieht ein Amerika, das schrumpft, das immer weniger kontrolliert, nur Europa will das bisher nicht wissen. Ich denke aber auch, dass die Hand der USA immer schwerer auf ihren europäischen Besitztümern liegt. Das ist es, was wir gerade erleben. Ich würde so gerne die wahren Machtkreisläufe kennenlernen, wissen, was im Hintergrund passiert, wenn ich beispielsweise sehe, wie all diese Skandinavier und Niederländer in Führungspositionen in der NATO berufen werden. Ich würde gerne das Organigramm der amerikanischen Macht in Europa in der Hand halten, das wäre mein Traum als Historiker.
»Die Russen sagen: Wir wollen Europäer, die ihre eigenen Interessen schützen«
Lafontaine: Wenn man, wie Sie es in Ihrem Buch machen, das Spiel der Mächte betrachtet, dann sieht die Interessenlage in diesem Krieg eigentlich wie folgt aus: Die USA wollen Europa kontrollieren und die Souveränität Europas verhindern. Und die Russen wollen mit Europa kooperieren, um stärker gegenüber den USA zu sein.
Todd: Mir fällt in dem Zusammenhang eine lustige Geschichte ein: Als ich in Italien war, um dort mein Buch vorzustellen, da wurde mir durch das russische Konsulat jemand geschickt, um mir zu danken. Meiner Meinung nach ist das der Beweis dafür, dass ich kein Agent bin, denn sonst müssten sie mir keine Leute schicken, wenn ich Vorträge halte. Jedenfalls hat dieser russische Botschaftsrat mit mir gesprochen und mir dabei etwas sehr Interessantes erzählt. Er sagte, wir brauchen keine russophilen Europäer, das interessiert uns nicht. Wir wollen Europäer, die ihre eigenen Interessen schützen.
Lafontaine: In dem Interview, das Tucker Carlson mit Wladimir Putin geführt hat, da wurde der russische Präsident gefragt: Warum sind die Deutschen nicht empört über die Zerstörung der Nord-Stream-Pipelines? Warum sind die Deutschen zufrieden damit, dass das Gas teurer wird, und so weiter? Und Putin hat daraufhin gesagt: »Ich kann Ihnen keine Antwort geben. Vielleicht sind die Deutschen ein bisschen verrückt.«
Todd: Ich verstehe, wie schwierig diese Situation für die Deutschen ist, und ich denke, dass sie für die Franzosen auch nicht einfach ist. Aber ich denke, dass die Situation für Deutschland wirklich besonders kompliziert ist, und zwar in einem wirklich psychologischen Sinne. Ich kann nur beten, dass Deutschland uns durch seine Passivität retten wird.
Lafontaine: Wenn ich während meiner Wahlkämpfe Reden gehalten habe, dann habe ich immer gesagt: »Man muss für seine Interessen wählen.« Und das erste Interesse Deutschlands ist es, dass der Ukrainekrieg sich nicht zu einem europäischen Krieg oder gar zu einem Weltkrieg entwickelt.
Todd: Ja – und unser derzeitiges Problem ist, dass sich das Irrationale in der Welt massiv auf dem Vormarsch befindet …
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