Gaza: Ein unerträgliches Mahnmal Moshe Zuckermann

Dank an Moshe Zuckermann für die persönliche Genehmigung, seinen heute auf overton-magazin erschienen Artikel auf der Hochblauen Seite zu veröffentlichen. Evelyn Hecht-Galinski

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Gaza: Ein unerträgliches Mahnmal


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Dschabalia in Nordgaze am 12. Mai 2025. Screenshot von UNRWA-Video

Was sich im Gazastreifen ereignet, überschreitet bei weitem die bisher gewohnte Gewaltpraxis im israelisch-palästinensischen Konflikt. Der Grund dafür geht auf 1948 zurück.

 

Der 7. Oktober war ohne Zweifel ein traumatisches Ereignis für die israelische Gesellschaft. Ein Pogrom unvorstellbaren Ausmaßes hatte stattgefunden. Als schlimmsten Gewaltakt gegen Juden seit der Shoah ist er sehr bald apostrophiert worden. Das Trauma resultierte jedoch nicht nur von den an diesem Tag von der Hamas begangenen Gräueltaten, sondern auch davon, dass sich die israelischen Sicherheitskräfte und Geheimdienste, zumindest einen historischen Moment lang, als Popanz erwiesen haben. Sie haben, als es darauf ankam, nicht fungiert. Auch die Regierung erlahmte im Schockstarre – ihre jahrelang gepflegten politischen Einschätzungen erwiesen sich als systematischer Selbstbetrug: Sie selbst hatte die Hamas über lange Zeit mit Katar-Geldern gefüttert und mitaufgebaut, und zwar in der Absicht, die verhandlungsbereite PLO mit der Stärkung ihres verhandlungsunwilligen innerpalästinensischen Rivalen zu schwächen.

Es galt nun das nationale Desaster zu kompensieren. Was dann folgte, stellt den 7. Oktober in den Schatten: Israel brach einen Krieg vom Zaun, der sich bald als ultimative Rache suchenden Vergeltungskrieg erwies, der nur noch Zerstörung, Verwüstung und Vernichtung kannte. Israel hat sich stets gerühmt, die “moralischste Armee der Welt” zu haben. Das war schon immer eine perfide Floskel und leere Worthülse, zumal die IDF sich zwischen den periodisch aufflackernden Gewalteskalationen (mit Hamas oder der Hisbollah) vor allem als polizeilicher Verwalter des okkupierten Westjordanlands betätigte; von Moral konnte da schon keine Rede sein.

Aber diese an sich ohnedies Menschen- und Völkerrecht verachtende Praxis war nichts gegen die durch den Krieg “legitimierte” Gewalt-, Destruktions- und Mordorgie, die nach dem 7. Oktober ausbrach. Von Mord muss geredet werden, weil sich bald genug zeigte, dass auch die Zivilbevölkerung des Gazastreifens in grausamster Mitleidenschaft gezogen wurde. Ob Völkermord oder nicht – die israelische Regierung (und mit ihr der größte Teil der israelischen Gesellschaft) macht keinen Hehl daraus, den Gazastreifen so zu verwüsten und seine Infrastruktur so zu zerstören, dass der Landstrich unbewohnbar wird. Hinzu kommt die von den nationalreligiösen Parteien unter der Führung von Itamar Ben-Gvir und Bezalel Smotrich getragene Ideologie der militärischen Eroberung des Gazastreifens mit dem proklamierten Ziel, in ihm eine Militärverwaltung zu etablieren, die eine jüdische Neubesiedlung des eroberten Territoriums garantieren würde. Diese kahanistischen, messianisch befeuerten Faschisten müssen gesondert hervorgehoben werden, denn sie sind es, die ihre Großisrael-Ideologie ohne Rücksicht auf Verluste propagieren und betreiben – weder Rücksicht auf das Schicksal der jüdischen Geiseln in Hamas-Gefangenschaft noch auf Gazas Zivilbevölkerung (worin sie freilich, wie gesagt, Verbündete beim Gros der israelischen Bevölkerung haben).

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Ausmaß und Vehemenz der Vergeltung gekoppelt mit einem kaum zu stillenden Rachedurst, der die Israelis gegen Regungen von Empathie, Erbarmen und moralischen Bedenken immunisiert, übersteigen alles, was man bislang in Israels politischer Kultur gewohnt war. Man fühlt sich nachgerade an die Bibelgeschichte gemahnt, in der das Gebot, Amalek total zu vernichten, klar ausgesprochen wird: “So geh nun hin und schlage Amalek und vernichte alles, was er hat, und schone niemanden. Schlage Mann und Frau, Rind und Schaf, Kamel und Esel und vernichte alle Völker mit der Schärfe des Schwertes.”

„Würde der Gazastreifen bloß im Meer untergehen“

Und dennoch, trotz des Traumas vom 7. Oktober und bei allem Bedürfnis, Rache zu üben und das Unglück durch Vergeltung zu kompensieren, gleichsam aufzuheben; trotz der Ideologie der kahanistischen Faschisten, die sich nicht entblödet haben, zu proklamieren, ein Wunder sei ihnen geschehen – nun dürften sie mit Gottes Segen vernichten, erobern und “jüdisch neubesiedeln”; trotz der Vereinnahmung der vom Desaster abgeleiteten Staatsinteressen (“Selbstverteidigung” etc.) zur Durchsetzung der persönlichen Interessen des israelischen Ministerpräsidenten, der den Krieg, mithin seine endlose Verlängerung für seinen Macht- und Herrschaftserhalt braucht, namentlich zur Verhinderung der Einberufung einer staatlichen Untersuchungskommission über den 7. Oktober, die seine Schuld und die Schuld seiner Regierungskoalition erweisen würde – trotz alledem (und einigem mehr) spielt in das kollektive israelische Verhalten in diesem Krieg gegen die Hamas bzw. den Gazastreifen ein weiteres, nicht ausgesprochenes, geschweige denn reflektiertes Moment mit herein.

Zitiert sei hier eine auf dem Buchrücken der hebräischen Ausgabe von Amira Hass’ Buch “Gaza. Tage und Nächte in einem besetzten Land” (1996/2003) zu lesende Passage: “’Würde er bloß im Meer untergehen’, sagte Yitzhak Rabin über den Gazastreifen in den Jahren vor dem [von Ariel Sharon vollzogenen] Rückzug aus Gaza, womit er das israelische Verhältnis zu dem Landstrich mit seiner Million Menschen widerspiegelte – jenem ’Hornissennest’, das besser nicht bestünde, besser vergessen gemacht, verdrängt würde, von dem es gilt, sich loszulösen; ist er doch nichts anderes als die Kurzform der Hölle [im Hebräischen: Azazel = satanischer Wüstendämon; Aza = Gaza].” Rabin wie auch Sharon bezogen sich auf Gaza in erster Linie als ein militärisches Sicherheitsproblem: Rabin wohl noch im Rahmen des Osloprozesses, vor seiner Ermordung im Jahr 1995; Sharon bewerkstelligte den Rückzug aus Sicherheitserwägungen im Jahr 2005, freilich mit der Vorgabe, nunmehr nichts mehr über Okkupation und Westjordanland hören zu sollen.

Aber der Gazastreifen war mehr als nur ein Sicherheitsproblem (und nicht von ungefähr rief gerade er besagte Reaktionen als Sicherheitsproblem hervor). Denn der Gazastreifen (“mit seiner Million Menschen”) verkörperte ein Monument der israelisch-palästinensischen Geschichte. In ihm lebte ein Großteil der aus ihren Städten und Dörfern im Verlauf der Nakba von 1948 vertriebenen/geflüchteten PalästineneserInnen. Es gab Flüchtlingslager auch in anderen arabischen Ländern, aber der Gazastreifen liegt geographisch in unmittelbarer Nähe zum israelischen Kernland, 1967 von Ägypten erobert, dann Teil des israelischen Besatzungsregimes, sodann vorgeblich autonom (von Israel aber strikt kontrolliert), vor allem aber ein lebendiges Mahnmal der Nakba, und ja, auch ein Hort des aggressivsten Widerstands gegen die Besatzung, der die Erinnerung an 1948 immerzu repräsentierte.

Rabins Diktum ist da Symptom: Was es da vergessen zu machen, zu verdrängen galt, ist die Dauerpräsentation der israelischen Schuld an der Leiderfahrung des palästinensischen Kollektivs. Aber derlei historische Schuld lässt sich ja nicht einfach wegknipsen, schon gar nicht, wenn man sich stets geweigert hat, sie anzuerkennen, und sich stattdessen fortwährend der ideologischen Rationalisierung des Verbrochenen hingab. Hamas wird von Israel als Terrororganisation gesehen und daher als Verhandlungspartner von vornherein abgeschmettert.

Aber ungeachtet der Frage, was Israel alles schon an staatlichem Terror an den Palästinensern verbrochen hat, muss festgestellt werden: den Gazastreifen gab es schon lange vor der Heraufkunft der Hamas. Das weiß man auch in Israel, und Gaza weigert sich im Meer unterzugehen. Gaza ist ein unerträgliches Mahnmal, das am historischen israelischen Gewissen immerzu nagt. Und weil man unfähig ist, sich das zumindest einzugestehen, geschweige denn, aufzuarbeiten, muss der Landstrich wie Amalek vernichtet werden.

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